Cameron, der Insulaner
Das EU-Referendum soll den Tories Stimmen bringen, doch die Rechnung wird nicht aufgehen von Jean-Claude Sergeant
Über den Austritt aus der Europäischen Union nachzudenken ist kein Tabu mehr!“, jubelte Nigel Farage am 23. Januar. Der Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP), der sich gern als Opfer der europafreundlichen britischen „Elite“ sieht, freute sich diesmal über seinen Premierminister. In einer Rede, in der David Cameron die Position Großbritannien innerhalb der EU „klarstellen“ wollte, hatte der Vorsitzende der Konservativen Partei zu verstehen gegeben, dass er einen Bruch mit Brüssel nicht mehr ausschloss.
Nicht nur für Farage markierte dieser Tag eine politische Wende. Ganz Europa wurde durch Camerons sorgfältig inszenierte Rede in Aufregung versetzt. Als ehemaliger Chef eines Medienkonzerns (Carlton Communications) ist es der britische Premier gewohnt, nichts dem Zufall zu überlassen: Für seinen Auftritt, exakt vierzig Jahre nach dem Eintritt Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), wählte Cameron einen symbolischen Ort: die Londoner Filiale von Bloomberg, der US-amerikanischen Mediengruppe, die auf Wirtschaft und Finanzen spezialisiert ist. In seiner Rede machte der britische Regierungschef seinen Zuhörern in aller Welt klar, dass seine Wertschätzung der Europäischen Union allein ihrer Rolle im Dienste der Globalisierung und des Freihandels gilt – in einem Markt mit 500 Millionen Konsumenten.
Globalisierung und Liberalisierung – diese Schwerpunkte entsprechen ziemlich genau den Brüsseler Prioritäten. Doch die geplante Regulierung des Finanzsektors und das Projekt einer Europäischen Bankenunion sind London ein Dorn im Auge. John Gapper warnte in der Financial Times vor der Gefahr, die Londoner City könnte „nach fünfzigjähriger Expansion, die sie zum führenden Finanzzentrum gemacht hat“, durch andere europäische Finanzzentren, insbesondere durch Frankfurt, ausgestochen werden.1 Den britischen Konservativen missfällt auch das EU-Arbeitsrecht, da es die Unternehmen zu stark einengen würde, und verlangen deshalb Sonderregelungen, zum Beispiel bei der maximalen Wochenarbeitszeit.
Camerons Rede nimmt sich wie ein spätes Echo auf Charles de Gaulles Einwand gegen die Aufnahme der Briten in die EWG2 aus: „Wir haben den Charakter eines Inselvolks: unabhängig, geradeheraus, leidenschaftlich in der Verteidigung unserer Souveränität. Für uns ist die Europäische Union kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck, als Garant von Wohlstand und Stabilität, als Anker für Freiheit und Demokratie in Europa wie darüber hinaus.“
Cameron plädiert für mehr Flexibilität und die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Dieser Grundsatz wurde 1992 auf dem Europäischen Gipfel in Edinburgh verabschiedet und bestimmt, dass die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig werden soll, falls die Mitgliedstaaten die gemeinsam gesetzten Ziele nicht allein erreichen können.
Cameron geriert sich als Sprecher einer Mehrheit der Briten, die angesichts einer forcierten Integration der Eurozone über die Ausgrenzung ihres Landes „besorgt“ seien. Angesichts des schwindenden EU-Zugehörigkeitsgefühl der Briten erachte er es daher für „legitim“, das Inselvolk vierzig Jahre nach dem Referendum von 1975 erneut zu befragen.3
Auch wenn die zahlreichen Umfragen, die von der größtenteils antieuropäischen Presse in Auftrag gegeben wurden, etwas anderes suggerieren (70 Prozent haben sich für ein Referendum ausgesprochen), so ist die EU-Frage bestimmt nicht die größte Sorge der Briten. Nachdem Schatzkanzler George Osborne unter Berufung auf einen angeblich notwendigen Abbau des Staatsdefizits eine überaus harte Austeritätspolitik durchgesetzt hat, musste er dennoch einräumen, dass sich die Probleme Großbritanniens laufend verschärfen: Die öffentliche Schuldenquote ist innerhalb eines Jahres von 60 Prozent des BIPs auf 71 Prozent (2012) gestiegen. Und im Februar 2013 büßten die britischen Staatsanleihen ihre AAA-Bewertung durch die Ratingagenturen ein.
Vielleicht hat Cameron ja wirklich noch nicht mitbekommen, dass die diversen Skandale, die der Glaubwürdigkeit der politischen Klasse schaden, seine Mitbürger weit mehr beschäftigen als die Nervosität der City wegen der Bedrohung durch den „Kontinent“. Offenbar geht er immer noch davon aus, dass die EU-Frage das Hauptthema im Wahlkampf 2015 sein wird – und damit des Scheitern seiner Wirtschaftspolitik überdeckt.
Der britische Premier hat es geschafft, einige EU-Partner um sich zu scharen, darunter Deutschland. Am Tag nach dem EU-Gipfel vom 8. Februar lautete der Aufmacher des Pariser Figaro: „Cameron und Merkel setzen Europa auf Diät“. Tags zuvor hatte der britische Außenminister William Hague vor dem Außenpolitischen Ausschuss des Unterhauses behauptet, dass die Rede des Premiers den Einfluss Großbritanniens in Europa nicht schwächen, sondern stärken werde. Dabei zitierte er einen Artikel aus der Zeitung Die Welt vom 24. Januar, der zur Bildung einer britisch-deutschen Achse aufrief.
Angela Merkel war in Brüssel vor allem darum bemüht (mit Blick auf die Bundestagswahlen im September 2013), ihr Image als wachsame Hüterin der europäischen Haushaltsdisziplin zu pflegen. Über die Haltbarkeit ihres Gelegenheitsbündnisses mit dem britischen Premier sollte man sich also keine Illusionen machen. Zumal der deutsche Außenminister wesentlich ungnädiger auf Camerons Rede reagiert hat und sogar erklärte, dass ein Europa à la carte nicht infrage komme.
Die äußerste Rechte der Konservativen Partei definiert sich nachgerade durch ihre Feindseligkeit gegenüber der EU. Diesen Flügel konnte die Parteiführung weder durch das Gesetz vom Juli 2011 beschwichtigen, das im Falle einer zusätzlichen Änderung des EU-Vertrags mit weiteren Kompetenzverlagerungen ein Referendum vorsieht, noch durch die Ankündigung eines bilanzierenden Berichts über die britische EU-Mitgliedschaft, der ein Jahr später vorgelegt werden soll. Erst die Zusage eines Referendums hat diese Parteirechten zumindest vorerst besänftigt.
William Hague, Camerons Außenminister, muss das jedoch sehr irritiert haben, hatte er doch noch am 24. Oktober 2011 im Unterhaus erklärt, dass es angesichts der Krise der Eurozone unverantwortlich sei, „auf diese Ungewissheit noch die weitere Ungewissheit eines Referendums über den Austritt aus der Europäischen Union draufzupacken, wo doch die Direktinvestitionen von Ausländern in Großbritannien zur Hälfte aus den übrigen EU-Staaten stammen und die Hälfte unserer Exporte in den Rest der Europäischen Union gehen“.
Die meisten britischen Wirtschaftsbosse folgen übrigens der Argumentation von Hague, wie etwa Roger Carr, der Präsident des britischen Arbeitgeberverbands CBI (Confederation of British Industry), der am 13. Januar in der Wochenzeitung The Observer folgendermaßen zitiert wurde: „Ein Austritt aus der Europäischen Union hätte negative Folgen für die Beschäftigung, würde den internationalen Status des Landes mindern und den nationalen Wohlstand beeinträchtigen.“
Die Strategie Camerons macht überdies eine erneute Koalition mit den Liberaldemokraten unwahrscheinlich, die diesen Vorstoß bereits mit dem Vorgehen des ehemaligen Labour-Premiers Harold Wilson verglichen haben, der 1974 auf ähnliche Weise versucht hatte, seine zerstrittene Partei zusammenzuschweißen. Mit seiner Rhetorik versuchte Cameron außerdem, der EU- und immigrantenfeindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) den Wind aus den Segeln nehmen. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen (in Teilen des Landes) vom 2. Mai haben gezeigt, dass dieses Rezept nicht sehr wirksam ist: Die UKIP blieb mit 23 Prozent der Stimmen nur 2 Prozentpunkte hinter den Konservativen zurück.
Im Labour-Lager macht sich Unsicherheit breit. Am 31. Oktober 2012 hatte Oppositionsführer Edward Miliband seine Fraktionskollegen aufgefordert, sich den etwa fünfzig abtrünnigen Tory-Abgeordneten anzuschließen, die die Regierung darauf verpflichten wollten, auf dem EU-Gipfel am 22. November 2012 eine Reduzierung des EU-Budgets zu erzwingen. Dieser Antrag wurde zwar mit 307 zu 294 Stimmen angenommen, war aber für die britische Regierung nicht bindend. Die Tory-„Rebellen“ konnten jedoch demonstrieren, wie viel Rückhalt sie in der Europafrage mobilisieren können.
Was die Labour-Führung betrifft, so zog sie mit ihrer Empfehlung den Vorwurf des Opportunismus und der Heuchelei auf sich. Auch nach Camerons Rede vom 23. Januar wirkte ihre Kritik an der abenteuerlichen Strategie der Regierung nicht überzeugend, zumal sie offenließ, ob sie 2015 – nach einem möglichen Wahlsieg – nicht selbst auf die Möglichkeit eines Referendums zurückgreifen würde. Als dann die konservative Fraktion am 11. Februar im Unterhaus den Brüsseler „Erfolg“ ihres Premiers lärmend feierte, war die Handvoll anwesender Labour-Abgeordneter ziemlich kleinlaut.
Es war zwar nur ein Etappensieg, doch er war von großer symbolischer Bedeutung, weil Cameron in Brüssel keinerlei Zugeständnisse gemacht hatte. Dagegen hatte Tony Blair 2005 hinnehmen müssen, dass der von Margaret Thatcher 1984 ausgehandelte „Britenrabatt“ gerupft wurde.4 Jetzt wurde dieser Nachlass für die nächste Haushaltsperiode bis 2020 auf knapp 4 Milliarden Euro pro Jahr festgelegt. Damit bleibt Großbritannien jedoch mit 8 Milliarden Euro ein EU-Nettozahler. Cameron konnte sich allerdings zugutehalten, an der Kürzung der EU-Beamtengehälter (um eine Milliarde Euro) mitgewirkt zu haben – eines der Lieblingsthemen in Großbritanniens konservativer Presse.
Gegenüber seinen Anhängern kann der Premier zwar auf seine Rolle verweisen, die er beim Zusammenstreichen des EU-Budgets gespielt hat. Das heißt aber nicht, dass Cameron seine anderen erklärten Ziele – und vor allem die Verhinderung der Europäischen Bankenunion – ebenso leicht durchsetzen kann. Da die EZB nach den Beschlüssen der EU-Finanzminister vom Dezember 2012 für die gesamteuropäische Bankenaufsicht zuständig sein soll, wären die Folgen für den britischen Finanzsektor und den Finanzplatz London gravierend. Bei den weiteren Verhandlungen über die Bankenunion wird ein Staat, der sich endgültig von der gemeinsamen Währung distanziert und in seinem europäischen Hybridstatus eingerichtet hat, zwangsläufig weniger zu sagen haben, als man es in den Reihen der Konservativen Partei erhofft.
Dies ist nur einer der Widersprüche, die von der Tory-Führung aufgelöst werden müssen. Ein weiteres Beispiel: Wie verträgt sich die Stärkung der Eurozone, die der Premierminister befürwortet und die automatisch eine stärkere Reglementierung des Staatshaushalts und der Banken bedeutet, mit der Forderung nach einer Flexibilisierung der EU-Mechanismen, also auch der Funktionsweise des gemeinsamen Marktes?
Nach Einschätzung von Andrew Geddes, der die britische Europapolitik seit Langem verfolgt, wird die Stärkung der Eurozone zu einer größeren wirtschaftlichen Integration ihrer Mitgliedstaaten führen. Das Vereinigte Königreich wäre dabei zum Zuschauen verdammt und könnte lediglich „einen marginalen Einfluss auf die von ihm selbst geforderten liberalen Reformen ausüben“.5