Ungarn unter Orbán
Wie eine Gesellschaft lernt, das Fremde zu hassen von Roland Mischke
Wir sind das Schlachtfeld“, sagt Tamás Dezsö, Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös Loránd Universität in Budapest.1 Kampfrhetorik beherrscht seit einiger Zeit den Alltag der zehn Millionen Ungarn. Der renommierte Historiker András Gerö spricht gar von einer gefährlichen, alles durchdringenden „Hasskultur“, die Ungarns Gesellschaft „seelisch vergiftet“.2
Regierungschef Viktor Orbán setzt auf die „nationale Revolution“. Studenten, die gegen die Bildungsreform der Regierung protestierten, sprachen von ihrer „Winterrosenrevolution“. Aber die rechtsextreme Jobbik-Partei (Die Besseren) paukt zusammen mit Orbáns Fidesz-Partei3 eine sich wöchentlich verschärfende „parlamentarische Diktatur“ durch, wie der prominente Publizist Paul Lendvai befindet. Der 73-jährige gebürtige Ungar, lange Korrespondent der Financial Times und ein kenntnisreicher Beobachter Mittelosteuropas, spricht vom „Gulasch-Orbánismus mit nationalistischer Sauce“.4
Deutungshoheit heißt: Jemand sagt, wer die Ungarn sind, was ihr Platz in der Welt ist. Es könnte ein Ringen um Wahrheit sein. Aber hier kämpfen Rechtsextreme gegen Linke, Nationalkonservative gegen Liberale, Vaterlandsfanatiker gegen Vaterlandsverräter. Und „richtige“ Ungarn gegen solche, die zwar einen ungarischen Pass haben, aber aus Sicht ihrer Gegner keine ungarischen Werte pflegen.
Was aber bedeutet „ungarische Werte“? Vor allem ein diffuses Freiheitsverlangen und der Traum, nicht mehr Verschiebemasse von Mächten, nicht mehr unterlegen zu sein, wie András Gerö erläutert:„Ungarn ist ein Land der Verlierer. Es hat immer alles verloren, die Kriege, einen Großteil des Territoriums, nicht mal im Fußball gewinnen wir.“5 Also mehr Trauma als Traum.
Um 895 gelangte ein Reitervolk unter Fürst Árpád aus dem Uralgebirge ins Karpatenbecken: die „Magyaren“, also „die Redenden“. Ihre Nachbarn verstehen sie nicht und nennen sie „Ungarn“ (wie „On ogur“, zehn Pfeile). Die schnellen Reiter werden zur Plage Europas, die weite Teile des Kontinents heimsuchen. 955 werden sie von Otto I. auf dem Lechfeld bei Augsburg geschlagen, dann zwangschristianisiert und zu Untertanen einer Feudalmonarchie nach dem Vorbild Westeuropas.
Im Jahr 1000 wird István I. erster ungarischer König. Um 1151 beginnt die systematische Ansiedlung von Sachsen (Deutschen), als „Entwicklungshelfern“. Immer wieder fallen von Südosten her osmanische Heere ein, verwüsten das Land und unterwerfen die Magyaren. Ab 1540 wird nur noch ein schmales Gebiet von den Habsburgern regiert, die Ende des 17. Jahrhunderts die Türken vertreiben. Fortan hat das Haus Habsburg das Sagen.
Im Revolutionsjahr 1848 erheben sich die Ungarn gegen Wien und setzen 1867 die k. u. k. Doppelmonarchie durch: das kaiserliche und königliche Österreich-Ungarn. Bei der nächsten Revolution 1918 wird Ungarn zur Räterepublik. Im Frieden von Trianon verliert es 70 Prozent seines Staatsgebiets an Rumänien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Österreich und Italien – eine historische Schmach bis heute. Nachdem das Land bis 1919 Teil einer europäischen Großmacht war, lebten seitdem ein Drittel der ethnischen Ungarn außerhalb des Titularstaats.
1941 beteiligte sich Ungarn als Partner Hitlerdeutschlands am Zweiten Weltkrieg. 1944 okkupierten die Deutschen das Land, was auch verstärkte Kollaboration mit den Nazis bedeutet.6 Eine Aufarbeitung dieser Zeit fand nach Kriegsende nicht statt.
1945 blieben sowjetische Truppen als Besatzungsmacht im Land. Der Ungarnaufstand von 1956 wurde von sowjetischen Panzern niedergewalzt, etwa 200 000 Ungarn flohen außer Landes. János Kádár und seine Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei leiteten allerdings 1968 eine wirtschaftliche Liberalisierung ein. Wie im ganzen Ostblock erodierte der „reale Sozialismus“ auch in Ungarn, bis sich 1989 die Grenze zu Österreich öffnete.
Für Ungarn wiegt diese Geschichte schwer. Das Gefühl, dass sie stets die Verlierer waren, überdauerte auch die Wende. Bestätigt wurde das alte Trauma noch einmal, als der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány 2006 eingestand, dass seine Regierung die Bürger „von morgens bis abends“ belogen hatte. Die „Lügenrede“ führte 2010 zum Regierungswechsel. Viele Leute legten damals Fußmatten vor die Wohnungstüren: Das Gesicht Gyurcsánys zum Schuhabtreten.
Wer die Ungarn verstehen will, muss diese Historie mitdenken. Sie erklärt auch die starke Fragmentierung der Nation in verfeindete Lager. Die Demokratie hat nie tiefe Wurzeln geschlagen, stattdessen hat sich eine geschmeidige Wurstigkeit entwickelt, als Überlebenshaltung in widrigen Lagen. Ein ungarisches Sprichwort sagt: Geht ein Ungar durch eine Drehtür, kommen zwei heraus! Man ist stolz auf die Fähigkeit, sich den Realitäten anzupassen.
Der magyarische Kosmopolit wird verschlungen
Das spiegelt sich auch in der Karriere des Ungarn als Operettenfigur, die abtaucht, wenn es hart wird, aber im Gerassel bombastischer Lehár- und Kalmán-Klänge in putzigen Beinkleidern auf dem Vollbluthengst heranprescht, Frauen charmiert und nebenher dem Kümmeltürken auf die Mütze haut. György Konrád fasst in seinem Roman „Geisterfest“ (1986) diese historisch geprägte Haltung in drei Worten zusammen: „Wir sind anders.“
Viktor Orbán will aus diesem Anderssein politischen Profit schlagen. Er erinnert an die kurze Blütezeit Ungarns zwischen 1867 und 1914, als Budapest zur Metropole wurde und Thomas Mann zu dem Urteil brachte, sie sei eine der elegantesten Städte Europas. Orbáns Charisma besteht darin, den Begriff der Nation mit der Vorstellung von Freiheit zu verbinden. Alle sollen verstehen: Brüssel ist eine fremde Macht, die von außen mitregieren will.
„Wir geben Ungarn nicht mehr her und verteidigen es bis zum letzten Blutstropfen – auch gegen Einmischung der EU!“ Das sagt im westungarischen Sárvár die sympathische Stadtführerin, als wir beim Abendessens über die politische Lage reden. Die Empörung steht der aparten Dame im Gesicht, als sie schnarrt: „Endlich feiern wir wieder unsere alten Feste!“ Der Kellner nickt. Es ist die dumpfe Wir-sind-im-Recht-Stimmung der Provinz: Europa versteht uns nicht, wir werden schlecht behandelt, unsere Selbständigkeit ist gefährdet, von außen durch ausländische Banken und Investoren, Brüssel und den Internationalen Währungsfonds; von innen durch fremde Elemente wie Juden, Zigeuner und dummes Jungvolk, das sich als Spaßguerilla in Nationalfarben unter Fidesz-Leute mischt und den Ministerpräsidenten ausbuht, bis die Polizei die Knüppel vom Gürtel löst.
Der Instinktpolitiker Orbán setzt auf Massenkultur, die tief im mythischen Nationalismus verankert ist. Die vorherrschende Opferhaltung schlägt leicht um in Größenwahn, der Nationalismus wird romantisch-revolutionär ausgeschmückt und mit Elementen des Heldischen und Tragischen verflochten. Das wirkt. Wie die jüngsten Umfragen zeigen, bröckelt allmählich auch die polyglotte, weltoffene studentische Jugend. Ein Drittel sympathisiert mit den Rechtsextremen. Der magyarische Kosmopolit wird vom Orbánismus verschlungen. „Die meisten Ungarn haben kein Interesse an Politik“, erzählt der Journalist Gábor Papp bei einem Treffen in Budapest. Den Anteil der Intellektuellen, die dem Trend widerstehen, schätzt er auf „vielleicht tausend Leute“. Man trifft sich, diskutiert, erreicht aber kaum noch andere. „Wir lesen uns gegenseitig unsere Texte vor“, sagt er mit bitterem Lächeln.
Seit 2010 wird die Kultur des Landes systematisch umgebaut. Leitideal ist die Vergottung des Staates, der als unberührbar gilt und die Marginalisierung alles Nichtungarischen legitimiert. Einschließlich des liberalen Denkens, das in Ungarn traditionell als links gilt und von Rechten instinktiv mit Juden gleichgesetzt wird.
Viele Hochschullehrer, Künstler und Intellektuelle sind jüdisch – können also keine Patrioten sein. Gegen Ungarns bekannteste Philosophin Agnes Heller läuft ein Verfahren, sie soll EU-Fördergelder verschwendet haben. Das Medieninstitut wird von der regierungsnahen Presse beschuldigt, es betreibe eine „linke Meinungsdiktatur“. Sein Leiter ist György Péter, der nie etwas auf seine jüdische Herkunft gab. Die betonen jetzt andere, im offen antijüdischen Affekt. Márton Gyöngyösi, Vizechef der Jobbik-Fraktion, hat vorgeschlagen, alle in Ungarn lebenden Juden in Listen zu erfassen, um zu prüfen, „welche Juden, insbesondere im Parlament und in der Regierung, ein Sicherheitsrisiko für Ungarn darstellen“.
Auch Künstler gelten per se als linksliberal. Das Festival Magyar Filmszemle, die seit 1965 abgehaltene „Ungarische Filmschau“, wurde für 2013 abgesagt. Begründung: Es gebe keine neuen Filme. Die Regierung hat das unabhängige Fördergremium aufgelöst, seit 30 Monaten wurde kein ungarischer Film mehr produziert. Die Orbán-Regierung hat als „Filmbeauftragten“ den Hollywoodproduzenten Andy Vajna eingesetzt, bekannt durch „Terminator 2“ und „Rambo“. Der akzeptiert den „Final Cut“, die Zensur der Filme durch ein regierungsnahes Gremium.
Nationale Werte im Theater, Antisemitismus in der Schule
Hiobsbotschaften kommen aus allen Kunstsparten. Die Theater werden zu heimattümelnden Unterhaltungsbühnen, selbst am Nationaltheater in Budapest waltet demnächst ein Fidesz-genehmer Direktor; der Vertrag seines Vorgängers Robert Alföldi wurde nicht verlängert. Laut Kulturminister Zoltán Balogh soll das Nationaltheater künftig „nationale Werte repräsentieren“.7
Auch Literaten geht es an den Kragen. Ende 2012 wurde der Autor und Essayist Péter Esterházy zensiert. Als er im staatlichen Sender Kossuth-Rádió Inszenierungen des gekündigten Intendanten Alföldis empfahl, wurde dieser Kulturtipp herausgeschnitten.8 Auch andere Schriftsteller klagen über politischen Druck. Zum Bildungskanon der Schulen gehören kaum noch zeitgemäße Dichter. Lehrer sind angehalten, Bücher von antisemitischen Autoren wie Jozsef Nyirö und Albert Wass zu besprechen. Dass Ungarn einen Literaturnobelpreisträger hat, wird negiert. Imre Kertész ist Jude und lebt im Ausland.
Die Nationalkonservativen greifen auch gegen die Roma-Kultur durch. Dem Roma-Maler János Bogdán, der auch im Ausland ausgestellt wird, wurde samt 30 Künstlerkollegen kurzfristig das Atelierhaus in der Hegedü-Straße in der Budapester Innenstadt gekündigt. Seit der Machtübernahme von Fidesz wurde für Roma-Künstler keine einzige Ausstellung mehr organisiert.
Massive Eingriffe gibt es auch in die soziale Kultur. Totz starker Proteste wurde der „Studentenvertrag“ in der Verfassung verankert: Wer auf Staatskosten studiert, ist demnach verpflichtet, eine Zeit lang in Ungarn zu arbeiten; Mediziner rund 20 Jahre. Wer ins Ausland will, muss einen Teil der Kosten zurückzahlen.
Unnütze Mitglieder der Gesellschaft wie Obdachlose werden in Notasyle eingewiesen. Um geschützt zu werden, wie es offiziell heißt. Ein Gesetz verbietet das Wohnen im Freien. Wer es missachtet, kann verhaftet und mit einer Geldstrafe von bis zu 150 000 Forint (490 Euro) belegt werden. Zwar hat das Verfassungsgericht das Gesetz gekippt, dennoch werden Wohnungslose oft in Asyle eingewiesen.
Langzeitarbeitslose werden in Közmunkás, in kommunale Beschäftigungsprogramme gesteckt. Wer aussteigt, bleibt drei Jahre von Sozialleistungen ausgeschlossen. Das trifft vor allem Roma in dörflichen Elendsquartieren. Staatlich eingesetzte Aufseher über das „Lebensumfeld“ entscheiden willkürlich, welchen Satz ein zur Arbeit Verpflichteter ausbezahlt bekommt. Diese Kontrolleure kontrolliert niemand. Und Roma ergeht es besonders übel. Der Fidesz-Veteran Zsolt Bayer setzt sie mit Tieren gleich.
Die Frage, ob in Ungarn gefoltert werden dürfe, wenn das Verfassungsgericht nichts dagegen einzuwenden habe, hat Viktor Orbán bejaht, obwohl es eine „schauderhafte Möglichkeit“ sei. Es handle sich um einen Konflikt, den das Verfassungsgericht „im Rahmens der Verfassung auflösen“ müsse.9
Wer die Kultur einer Nation umbauen will, muss zuvor Deutungshoheit erringen, also im Rahmen der Meinungsvielfalt einer offenen Gesellschaft um Anerkennung ringen. Orbán und seine Fidesz streben, mittels ihrer absoluten Mehrheit im Parlament, die geschlossene Gesellschaft an, das nationalistische Ungarn im sich vereinenden Europa. Die antidemokratischen Methoden des Orbánismus laufen jedoch auf Staatsterrorismus hinaus. Der Regierungschef hat kürzlich stolz gesagt, man mache in Ungarn eben nicht das Gleiche „wie die im alten Westeuropa“. Und weil sie etwa bei der Verfassung und der Wirtschaftspolitik andere Wege gehen, seien die Ungarn „keine netten Jungs so in der Hauptstromrichtung“.10
Paul Lendvai glaubt, dass die Regierung Orbán im Streit mit der EU hart bleiben und am Ende unter Druck die Europäische Union verlassen wird.11 Die magyarische Kultur als folkloristische Insel?