Die Atommacht China rüstet auf
von Olivier Zajec
Ein Denkmal für den US-amerikanischen Senator und berüchtigten Kommunistenjäger Joseph McCarthy sucht man in Peking vergeblich. Das ist etwas undankbar, denn der US-Senator war immerhin der eigentliche Vater des chinesischen Nuklearprogramms. Wie das kam, ist eine ziemlich merkwürdige Geschichte: Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der junge chinesische Ingenieur Qian Xuesen vom Pentagon angeheuert. Quian war aus Hangzhou eingewandert und hatte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) studiert. Als Forscher beim Jet Propulsion Laboratory in Pasadena eingesetzt, leistete er Pionierarbeit auf dem Gebiet Raumfahrt und Ballistik, die von der U.S. Air Force begeistert gewürdigt wurde. Das Pentagon vertraute ihm so sehr, dass man ihn sogar nach Deutschland schickte, wo er Wernher von Braun verhören sollte, den Chef des Raketenprogramms der Wehrmacht.
Dann aber kam McCarthy und lenkte diese brillante Karriere in eine ganz andere Richtung: 1950 wurde Qian kommunistischer Sympathien bezichtigt und unter Hausarrest gestellt, 1955 schließlich ins maoistische China ausgewiesen. Vergeblich erklärte der damalige Marinestaatssekretär Dan Able Kimball: „Ich würde ihn lieber erschießen als ausreisen lassen. Er weiß zu viel wichtige Dinge. Wo immer er hingeht, ist er fünf Divisionen wert.“1
Kimballs Warnung wurde nicht beherzigt. So kam es, wie es kommen musste: Mao Tse-tung empfing Qian mit offenen Armen, er wurde ein treuer Anhänger des Regimes und entwickelte praktisch aus dem Nichts das erste chinesische Raketenprogramm.
Die erste Testexplosion einer chinesischen Atombombe erfolgte 1964, zwei Jahre später beaufsichtigte Quian den Start der ersten Atomrakete in der Wüste Xinjiang. Auch der erste Satellit, der 24. April 1970 erfolgreich mit einer Trägerrakete ins All geschickt wurde, war Qian Xuesen zu verdanken: Der Dong Fang Hong (DFH-1) sandte während der 26 Tage, die er die Erde umrundete, ständig die patriotische Hymne „Der Osten ist rot“ zur Erde.
Satelliten, Raumfahrt und die Bombe
Qian ging 1991 mit Ehrungen überhäuft in Pension und ist 2009 verstorben. Seine Person steht auf einzigartige Weise für die enge Verbindung zwischen dem Atom- und dem Raumfahrtprogramm der Volksrepublik China. Vom ersten Atombombentest im Oktober 1964 bis zu jenem ruhmreichen 14. Oktober 2003, an dem China mit dem Raumschiff „Shenzhou“, gesteuert von Oberstleutnant Yang Liwei, als dritte Nation in die Geschichte der bemannten Raumflüge einging, hat Peking diese beiden Bereiche immer wieder aufeinander abgestimmt.
Dabei ergaben sich Synergieeffekte, die für eine ständige technische, finanzielle und strategische Optimierung sorgten. Zwar entstand in den 1990er Jahren mit der China National Space Administration (CNSA) eine nationale Verwaltung für zivile Weltraumflüge, die mehrere kommerzielle Satelliten ins All schickte, doch die Führung der Volksbefreiungsarmee spielt in der chinesischen Raumfahrt auch weiterhin und mehr als je zuvor eine herausragende Rolle.
Die enge Verzahnung von Atomwaffen-, Raumfahrt- und Raketenprogramm ist natürlich keine chinesische Spezialität. Vor allem in Frankreich und in den USA sind diese Bereiche ebenfalls aufeinander abgestimmt. China ist aber in anderer Hinsicht ein Sonderfall: Das Land hat sich sehr früh auf eine minimalistische Nukleardoktrin festgelegt und die Möglichkeit eines atomaren Erstschlags von Anfang an ausgeschlossen. Darüber hinaus hat sich Peking verpflichtet, seine Nuklearwaffen niemals gegen Nichtatommächte einzusetzen. Ergänzt wird diese defensive Orientierung durch die Ablehnung jeder Militarisierung des Weltraums.
Aber Peking hat nicht nur eine defensive Nuklearstrategie, sondern verfügt auch über relativ wenig potenzielle Trägersysteme (Langstreckenraketen und U-Boote), die zudem lange Zeit technologisch ziemlich rückständig waren. Beides macht China zum zurückhaltendsten Mitglied im Klub der Staaten, die sowohl Raumfahrt betreiben als auch Atommächte sind. Dieser Klub umfasst heute die Vereinigten Staaten, Russland, Großbritannien, Frankreich und China, und neuerdings vielleicht Indien.
Aber wie lange wird das so bleiben? Wird sich Peking auch dann noch zurückhalten, wenn seine wirtschaftliche Entwicklung auch seine politische und militärische Macht stimuliert, wie es das am 16. April veröffentlichte Verteidigungsweißbuch andeutet? Die Komponenten der nuklearen Gleichung, die lange unverrückbar feststanden, haben sich verschoben.
Die größte Sorge bereitet das den USA. Richard Fischer vom International Assessment and Strategy Center stellte schon 2011 die Frage: „Wissen wir wirklich, wie viele Raketen die Chinesen heute haben?“2 Der fast schon obsessive China-Spezialist weiß genau, dass er mit solchen Warnungen dem Pentagon und dem US-Kongress eine Steilvorlage gibt. Denn über das chinesische Nukleararsenal gibt es nirgends wirklich verlässliche Zahlen. China ist die einzige Nation unter den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats,3 die keine Angaben über die Anzahl ihrer Kernwaffen macht. Das Stockholmer internationale Friedensforschungsinstitut (Sipri) ging 2009 von insgesamt 186 einsatzfähigen Sprengköpfen aus. Das International Panel on Fissile Material (IPFM)4 schätzt die Zahl in seinem Jahresbericht 2011 auf etwa 240. Gemessen an der Zahl der US-amerikanischen und russischen Nuklearsprengköpfe – die das IPFM auf 8 500 respektive 10 000 schätzt –, wirkt die Besorgnis der Amerikaner leicht überzogen. Im Mai 2010 deklarierte Washington offiziell die Zahl von 5 000 nuklearen Sprengköpfen. Von ihnen sind 1 700 auf Interkontinentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBM) und strategischen Bombern montiert und einsatzbereit.5
2009 sorgte ein Bericht der Georgetown University6 im kleinen Kreis der Spezialisten für Chinas Atomarsenal für große Aufregung. Drei Jahre lang hatte ein Team unter Leitung von Professor Philip Karber, einem ehemaligem Pentagon-Mitarbeiter, neue freigegebene Daten analysiert. Ihr Fazit verschlug den Experten die Sprache: In Wahrheit besitze China 3 000 Atomsprengköpfe.
Darüber hinaus „enthüllte“ die Studie die Existenz eines 5 000 Kilometer langen Tunnelnetzes für den Transport und die Stationierung von Atomwaffen und Spezialeinheiten. Diese „unterirdische Chinesische Mauer“ beflügelte die Fantasie der Medien. Sofort war vom atomaren Gegenstück zur chinesischen „Perlenkette“ die Rede, also zu der Sequenz von chinesischen Marinestützpunkten im asiatischen Raum.7
Daraufhin beschuldigten amerikanische Abrüstungsanhänger wie Hans Kristensen von der Federation of American Scientists das Pentagon, es habe die Studie über seinen ehemaligen Mitarbeiter ferngesteuert. In der Tat gehört Karber, wie Fischer oder der Kolumnist William Gertz, zu den prominentesten der fast zwanghaften Warner vor der chinesischen „Gefahr“.
Das US-Militär zog die hohen Zahlen der Studie in Zweifel,8 aber das Thema wurde von den Politikern aufgegriffen. Am 14. Oktober 2011 tönte der Republikaner Michael Turner vor dem Repräsentantenhaus unter Verweis auf das „unbekannte“ unterirdische Labyrinth: „Während wir uns in Sachen Atomwaffen um Transparenz bemühen, macht China sein System noch undurchsichtiger.“
Inzwischen sind die europäischen Medien auf die Georgetown-Studie gestoßen und präsentieren das „haarsträubende Tunnelsystem“ als große Entdeckung.9 Auch die indischen Zeitungen stimmten in den Chor ein. Anfang Januar 2013 gab Präsident Obama, nach Druck von allen Seiten, dem Pentagon den Auftrag, bis zum 15. August einen Bericht zu erstellen.
Dabei ist die „unterirdische Chinesische Mauer“ schon seit Jahren kein Geheimnis mehr. Die Hongkonger Tageszeitung Ta Kung Pao hatte bereits am 11. Dezember 2009 ausführlich über die gigantische Baustelle berichtet, an der zehntausende chinesische Soldaten zehn Jahre lang gearbeitet haben sollen. Außerdem berichtete die Zeitung, die in ganz Asien gelesen wird, dass die für strategische Nuklearwaffen zuständige zweite Artilleriedivision der VBA schon 1995 beschlossen hat, die ballistischen Trägersysteme für Nuklearsprengköpfe tiefer in der Erde zu versenken, um sie besser vor einem überraschenden Erstschlag zu schützen. In der von Schluchten und steilen Felswänden geprägten Landschaft der Provinz Hebei im Norden des Landes soll in einer Tiefe von mehreren hundert Metern ein modernes System unterirdischer Gänge und Bunker existieren, das die Zweitschlagskapazität Chinas garantieren soll.10
Bemerkenswert ist vor allem, dass diese „Enthüllung“ vom chinesischen Staatssender CCTV kam. Am 24. März 2008 brachte der Sender eine Dokumentation über eine Neuauflage des Tunnelbauprogramms. Angesichts der staatlichen Kontrolle der Medien ist diese Ankündigung, die von den Militärs in Indien, den USA und Europa natürlich registriert wurde, als hochoffizielle Mitteilung zu werten. Mit der Anlage dieses Tunnelsystem wollte die VBA verkünden, dass die Zweitschlagskapazität Chinas nunmehr unantastbar ist.
Gleichzeitig rüstet Peking von den großen Raketen mit Flüssigkeitsantrieb, die für einen Vernichtungserstschlag besonders anfällig sind, auf Feststoffraketen um. Letztere sind mit ihren mobilen Abschussrampen leicht und schnell transportierbar, was etwa für die Interkontinentalrakete DF-31A gilt, die eine Reichweite von 11 000 Kilometern hat. Die Boden-Boden-Raketen sind – ob mobil oder verbunkert – die derzeit einzige glaubwürdige Komponente der chinesischen „Nukleartriade“ (Boden-Boden-Raketen, Langstreckenbomber und U-Boote).
Allerdings weiß man in Peking, dass es nicht ausreicht, die eigene Zweitschlagskapazität zu schützen, wenn man auch in Zukunft von Washington als Atommacht respektiert werden will. Deshalb müssen die Chinesen auch mit den Fortschritten der USA bei der Raketenabwehr Schritt halten, durch die Chinas theoretische Zweitschlagskapazitäten neutralisiert werden könnten. Um sich aus dieser Zwangslage zu befreien, hat die VBA seit Langem ein alternatives Schlachtfeld im Visier: den Weltraum.
Raumstation „Himmelspalast“ soll bis 2020 fertig werden
Vorbei ist die Zeit der alten Rotgardisten, die während der Kulturrevolution voller Begeisterung skandierten: „Je höher der Satellit steigt, desto tiefer sinkt die rote Fahne.“ Stattdessen verweist General Xu Qiliang, ehemals Generalstabschef der Luftwaffe und heute stellvertretender Vorsitzender der mächtigen Zentralen Militärkommission, auf „expandierende“ nationale Interessen und auf den Eintritt Chinas ins „Weltraumzeitalter“.11 Offiziell wendet sich Peking zwar gegen die Militarisierung des Weltraums. Zugleich macht es aber keinen Hehl aus seinem Wunsch, die Vorherrschaft der USA in diesem Bereich zu brechen. In Zukunft wird es angesichts der rapide wachsenden Weltraumabhängigkeit der modernen Armeen vor allem darum gehen, dem Gegner im Konfliktfall den Zugang zum All zu versperren.
China geht davon aus, dass man nur auf Augenhöhe verhandeln kann. Man ist, wie Russland, zu der Einsicht gelangt, dass sich die Ambitionen des Pentagons auf „space superiority“ nur eindämmen lassen, wenn man selbst signifikante Fortschritte auf dem Gebiet macht. China könnte die USA dazu drängen, eine Verpflichtung zur militärischen Neutralisierung des Weltraums zu unterzeichnen, womit die Lücken im Weltraumvertrag von 1967 geschlossen würden. 2001 kam die sogenannte Rumsfeld-Kommission unter Verweis auf die zahlreichen Schwächen dieses Abkommens zu der Schlussfolgerung, dieses enthalte keineswegs das Verbot, „Weltraumwaffen zu stationieren oder einzusetzen“, „vom Weltraum aus Waffen gegen die Erde zu richten“ oder „Militäroperationen im und durch den Weltraum durchzuführen“.12
Da die Nasa den Chinesen die Teilnahme an der Internationalen Raumstation (ISS) verwehrt, bauen die nun ihre eigene nationale Raumstation namens Tiangong. Der „Himmelspalast“ soll 2020 vollendet sein und Wissenschaftlern aller Nationen offenstehen. Außerdem entwickelt Peking eine 130 Tonnen schwere Trägerrakete, plant eine Mondlandung für das Jahr 2025 und träumt davon, mit einem bemannten Raumflug zum Mars, der ab 2030 möglich sein soll, die USA zu überflügeln. Die zweite Generation des chinesischen Satellitennetzes Beidou-Compass wird weiter ausgebaut und soll dieselben Navigationsleistungen bieten wie das US-amerikanische GPS, inklusive einer militärischen Nutzung.
Freilich könnte diese chinesische Strategie einige Nebenwirkungen haben, die von ihren Initiatoren unterschätzt werden. Im Januar 2007 schoss China mit einer modifizierten ballistischen Rakete einen alten FY-1C-Wettersatelliten ab. Für diese Demonstration, dass man zu Angriffsoperationen im Weltraum fähig ist, wurde Peking jedoch von vielen Seiten kritisiert.
Die USA und mit ihnen viele andere Staaten geißelten China als „Weltraumverbrecher“. Sie verwiesen auf die Gefahr von niedergehenden Weltraumtrümmern und vor allem darauf, dass diese Aktion dem Bekenntnis Pekings zu einer friedfertigen Weltraumpolitik widerspricht. Im Januar 2011 warnte Washington in seiner jüngsten Ausgabe der National Security Space Strategy: „Sollte die Abschreckung scheitern, so behalten sich die Vereinigten Staaten das Recht … auf Notwehr vor.“13
Was die strategische Theorie betrifft, so sehen Experten in Washington als „Ziel eines künftigen Kriegs mit China den Kampf um die Kontrolle über den Weltraum“.14 Im Grunde geht es dabei um die Frage der atomaren Dominanz: Die US-Satelliten sind in das Frühwarnsystem zur Erkennung ballistischer Raketen integriert, ohne sie hätte die Kommandostruktur des US-Atomarsenals ernsthafte Defizite. Genau das macht aber die Satelliten zum möglichen Ziel für chinesische Angriffe.
In den USA hat man überdies auch die Befürchtung, irgendwann technologisch in Rückstand zu geraten. Hier sei daran erinnert, dass die kommunistischen Trägerraketen „Langer Marsch“ in den 1990er Jahren schon rund zwanzig kommerzielle Satelliten ins All geschossen haben, bevor Washington ein Embargo gegen den Verkauf von Satellitenbauteilen an Peking verhängt hat. Die Nasa hatte lange zugeschaut, damals noch von oben herab.
Zwar ist auch heute der Abstand zu den Kapazitäten der USA immer noch gewaltig,15 aber China hat zu einer Aufholjagd angesetzt, die sich immer mehr beschleunigt. Das chinesische Weltraumweißbuch von 2011 sprach noch von fünf „großen Achsen“, die sämtlich auf die zivile Nutzung abheben: wissenschaftliche und friedliche Entwicklung, Innovation, Autonomie und internationale Öffnung. Doch von den 19 chinesischen Raketentests des Jahres 2011 hatten 18 einen unbezweifelbar militärischen Hintergrund.
2012 schickte China rund dreißig Satelliten sämtlicher Typen ins All. Diese zum Teil miniaturisierten Satelliten dienen der Telekommunikation („Zhongxing 10“), der Navigation, der Überwachung, der Aufklärung und der Datenübertragung („Tianlian 1“). Auch ein Programm für Frühwarnsatelliten ist geplant, und in Wenchan auf der Insel Hainan soll ein neues Raumfahrtzentrum entstehen.
Auf der anderen Seite des Pazifiks hat Präsident Obama im Februar 2010 das Mondprogramm Constellation gestoppt. Angesichts dessen kommentierte Gregory Kulacki von der Union of Concerned Scientists, die USA müssten „die überholte Vorstellung aufgeben, dass die Chinesen in Sachen Raumfahrt uns dringender brauchen als wir sie“.16
Die alarmistischen Reaktionen gewisser amerikanischer Journalisten, die einen erstarkenden, womöglich „ebenbürtigen Konkurrenten“ von Weltniveau beschwören, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fortschritte Chinas in der Atom- und Weltraumtechnik tatsächlich eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen. Sämtliche Beobachter sind sich darin einig, dass China die einzige UN-Vetomacht ist, die derzeit die Zahl ihrer atomaren Sprengköpfe erhöht. Aber in welchem Ausmaß?
Es tobt ein Kampf der Zahlen, wobei manche Experten von bis zu 1 800 einsatzbereiten Nuklearsprengköpfen ausgehen (siehe Kasten). Selbst glühende Befürworter der Rüstungskontrolle nehmen heute an, dass China sein nukleares Arsenal modernisiert. Für sie geht es nur noch darum, das Tempo dieser Modernisierung realistisch einzuschätzen.
Auf jeden Fall wird sich das strategische Gleichgewicht zwischen den Vetomächten im UN-Sicherheitsrat durch die atomaren Ambitionen Chinas verschieben. Großbritannien besitzt nach eigenen Angaben inzwischen weniger als 160 einsatzbereite Sprengköpfe.17 Frankreich, das seit dem Ende des Kalten Kriegs die Zahl seiner Sprengköpfe um 50 Prozent reduziert und sein Budget für die nukleare Abschreckung in den letzten zwanzig Jahren halbiert hat, hat noch über rund hundert einsatzbereite Sprengköpfe.18 Peking hingegen ist dank seiner „Raumfahrt-Rüstungs-Symbiose“ in weniger als zehn Jahren an den beiden europäischen Atommächten vorbeigezogen. Mit diesem großen Sprung hat sich die Atommacht China auf eine Ebene katapultiert, auf der sie einen (dann nicht mehr asymmetrischen) Dialog mit der Weltmacht USA anstrebt.
Wenn man an die perverse Dialektik des Kalten Kriegs zurückdenkt, erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, dass Washington und Peking auf einen ähnlichen Rüstungswettlauf zusteuern wie seinerzeit die Sowjetunion und die USA. Wider alle Vernunft haben die beiden Supermächte damals atomare Arsenale aufgebaut, um ein „Gleichgewicht des Schreckens“ herzustellen. In den 1960er Jahren hatten die USA an die 31 000 Sprengköpfe gehortet.
Im Gegensatz zu einer derart maximalistischen Vorstellung von atomarer Abschreckung setzt Frankreich auf das Prinzip der strengen Selbstbeschränkung (im Atomkrieg stirbt man eben nur einmal). Dem liegt ein Dogma „rationaler Unvernunft“ zugrunde, von dem man annahm, dass es auch China 1964 stillschweigend übernommen habe. Schließlich hatte Präsident Hu Jintao noch 2009 vor der UN-Vollversammlung ein feierliches Bekenntnis zu Chinas „defensiver Nuklearstrategie“ abgelegt.19 Von dieser Illusion aber hat man sich verabschiedet.
Am 12. Februar 2013 kündigte Barack Obama eine weitere Reduzierung der US-Atomwaffenbestände an. Die Zahl einsatzbereiter Sprengköpfe könnte von 1 700 bis 2020 auf weniger als 1 000 reduziert werden. Aber wird man diese Miniversion einer strategischen Lebensversicherung beibehalten können, wenn die Chinesen in dem Tempo weiterrüsten? Wird man erneut so aberwitzige Überlegungen entwickeln wie seinerzeit Hermann Kahn, der behauptet hatte, bei einem Atomkrieg könne es sehr wohl einen „Sieger“ geben?20
In diesem komplexen Spiel wechselseitiger Wahrnehmungen werden auch die besorgten Reaktionen der Nachbarn Chinas von Bedeutung sein. Die Japaner könnten theoretisch binnen Kurzem ihre neue Feststoffträgerrakete „Epsilon“, die in diesem Jahr ihren Erststart absolvieren soll, in eine ballistische Langstreckenrakete umwandeln. Vietnam lässt ganz offen Weltraumambitionen erkennen, und Indien entwickelt Antisatellitenwaffen.
Eine Lösung des Problems ist nur als politische denkbar. Eine Möglichkeit wäre, den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, der 1972 zwischen den USA und der UdSSR geschlossen und von Bush 2002 einseitig gekündigt wurde, wieder in Kraft zu setzen. Das wäre aber nur dann sinnvoll und berechtigt, wenn diesmal China in die Verhandlungen einbezogen würde, die dann allerdings schwierig werden könnten. Doch wenn Peking seine eigenen Aussagen über die Unverzichtbarkeit einer weltweiten nuklearen Abrüstung ernst nimmt,21 müsste es ein Angebot von derartiger Tragweite zumindest prüfen.
Derzeit müssen wir allerdings davon ausgehen, dass die von Peking geplante gleichzeitige Modernisierung des chinesischen Atom- und Raumfahrtprogramms (von den Bergen Hebeis bis zur geostationären Umlaufbahn) darauf angelegt ist, das strategische Gleichgewicht in Ostasien zu kippen.
Das Arsenal
Wie viele chinesische Atomsprengköpfe gibt es? General Viktor Jesin, ehemals Herr über das russische Atomwaffenarsenal, spricht von 1 600 bis 1 800. Gregory Kulacki von der Union of Concerned Scientists hingegen geht nach einer gründlichen Recherche eher von „ein paar hundert“ Sprengköpfen aus.1 Andere Experten schlagen vor, die Menge des spaltbaren Materials mit den geplanten Rüstungsprogrammen der Volksbefreiungsarmee (VBA) abzugleichen.
Es wird geschätzt, dass China derzeit über 16 Tonnen angereichertes waffenfähiges Uran und 1,8 Tonnen waffenfähiges Plutonium verfügt.2 Für einen Nuklearsprengkopf der jüngsten Generation sind 4 Kilo Plutonium und 10 bis 50 Kilo angereichertes Uran erforderlich. Peking besitzt demnach ausreichend Material für (mindestens) 450 bis 600 Atomsprengköpfe.
Angesichts des ehrgeizigen Programms, das sich die VBA vorgenommen hat, erscheint diese Zahl ziemlich niedrig. Der Generalstab plant, seine DF-5B-Raketen mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten. Dasselbe gilt für das Nachfolgemodell der Interkontinentalrakete DF-31A, die „mobile“ DF-41, die im Juli 2012 in die Testphase eingetreten ist.2 Auch die Julang-2, eine U-Boot-gestützte ballistische Rakete mit einer Reichweite von 7 500 bis 8 000 Kilometern, dürfte wieder in Dienst genommen werden. Installiert werden würde sie auf den neuen U-Booten der Jin-Klasse, die in Sanya stationiert sind und jeweils über mindestens zwölf Raketenschächte verfügen.
Weiterhin produziert werden die taktischen Nuklearwaffen nach russischem Vorbild (DF-11, DF-15); luftgestützte Waffensysteme sind erst in Entwicklung. Schließlich müssen bestimmte Bestandteile der Sprengköpfe auf den Trägerraketen ständig erneuert werden.
Angesichts des Materialbedarfs für die geplante Modernisierung des Arsenals stellt sich die berechtigte Frage, ob die Vorräte an spaltbarem Material nicht viel größer sind als die oben zitierten Schätzungen. Als einziges der fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder hat China nicht formell auf die Herstellung von spaltbarem Material zu militärischen Zwecken verzichtet. Zudem schweigt sich Peking über seine Bestände aus und hat 2010 in Lanzhou eine dritte Zentrifugenanlage fertiggestellt.
Zu bedenken ist auch, dass China mit der Installierung wichtiger Komponenten des US-Raketenabwehrschirms für Fernost rechnen muss. Das wird vor allem in Japan geschehen, das über Fregatten mit dem Aegis-Kampfsystem verfügt, und natürlich auf Taiwan, wo insgesamt vier Batterien von Abfangraketen des Typs Patriot PAC-3 geplant sind.
Aber auch angesichts des von Washington angekündigten Ausbaus des neuen seegestützten SM-3-Systems3 , das Kurz- und Mittelstreckenraketen abfangen soll, wird Peking ein Abschreckungspotenzial haben wollen. Deshalb könnte es die Zahl seiner Atomsprengköpfe auf Langstrecken-, aber auch auf Kurz- und Mittelstreckenraketen (DF-15, DF-21) erhöhen. Indische Beobachter wiederum schätzen, dass allein die Installierung der chinesischen DF-41 mit 14 000 Kilometer Reichweite die USA zwingen würde, ihre Raketenabwehr um das Vierfache zu verstärken.4
Die Elemente einer solchen regionalen Raketenabwehr müssen also zu dem chinesischen Bestand an spaltbarem Material hinzugezählt werden. Die Vermutung, dass die VBA gegenwärtig über weitaus mehr als 186 einsatzfähige Atomsprengköpfe verfügt, ist deshalb nicht ganz abwegig. O. Z.