13.01.2006

Nach Dayton

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Nach Dayton

Bosnien ist weder geeint noch stabil

Als Olli Rehn, der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar, am 25. November 2005 die Verhandlungen mit Bosnien-Herzegowina über ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) für eröffnet erklärte, wurde das Land damit offiziell zum „potenziellen Beitrittskandidaten“. Das wirft allerdings die Frage auf, mit welchem Staat die Europäische Union eigentlich verhandeln will. Schließlich hat Bosnien seit zehn Jahren den inoffiziellen Status eines Protektorats, das eingerichtet wurde, um die Umsetzung des Dayton-Abkommens sicherzustellen.

Das Vertragswerk von Dayton, das im November 1995 unter US-amerikanischer Federführung auf dem Luftwaffenstützpunkt in Ohio ausgehandelt und im Dezember in Paris unterzeichnet wurde, enthält nicht nur die Bestimmungen des Waffenstillstands, sondern auch die Architektur des neuen Staates und einen Grundriss seiner Verfassung. Damit wurde Bosnien in zwei „Gebietseinheiten“ aufgeteilt: die muslimisch-kroatische Föderation und die Serbische Republik (Republika Srpska). Dass diese beiden Teile in einer Konföderation Bosnien-Herzegowina kooperieren würden, war damals, nach drei Jahren andauernder ethnischer Säuberungen, nur schwer vorstellbar.

Man muss sich in diesem Zusammenhang auch vergegenwärtigen, dass der Dayton-Vertrag vom serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic und dem kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman unterzeichnet wurde, die sich vier Jahre zuvor in Geheimverhandlungen über die Zweiteilung Bosnien-Herzegowinas und den Anschluss des beiden Teile an die „Mutterländer“ geeinigt hatten.1 Diese Entscheidung erfolgte hinter dem Rücken der Betroffenen und vor allem zu Lasten der muslimischen Bevölkerung. Denn wenn diese nicht zu „Serben“ oder „Kroaten“ werden wollte, blieb ihr nur die Option für einen islamischen Rumpfstaat, mit dem Bosniens Präsident Alija Izetbegovic sich abzufinden bereit war. Doch die ultranationalistischen Milizen der bosnischen Serben und Kroaten begannen ihre Gewaltaktionen mit dem Ziel, Angst und Hass zwischen den ethnischen Gruppen zu schüren. Damit wollten sie die Voraussetzungen für die „Säuberung“ der von ihnen gehaltenen Gebiete schaffen, bei der sie auf die Hilfe und die Waffen der Nachbarstaaten Serbien und Kroation angewiesen waren.

Ein Teil der Bevölkerung verweigerte sich dieser Logik.2 Deshalb rechtfertigten die serbischen und die kroatischen Führer die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas mit der Propagandalüge, muslimische Mehrheit sei gleich islamistische Mehrheit. Den Nichtmuslimen drohe das Schicksal, zu Bürgern zweiter Klasse zu werden wie einst im Osmanischen Reich. So wurden die Muslime von den beiden aggressiven nationalistischen Lagern aufs Korn genommen. Von den 100 000 Menschen, die bei ethnischen Säuberungen umkamen,3 waren etwa 70 Prozent Muslime.

Dass die muslimische Welt ihre legitime Solidarität bekundete und die ersten Mudschaheddin in Bosnien auftauchten, gab den von Belgrad und Zagreb manipulierten Ängsten weitere Nahrung. Aber die demagogische Gleichsetzung von Muslimen und Islamisten wurde gerade in den Regionen mit (im ethnisch-kulturellen Sinn) muslimischer Mehrheit widerlegt. So unterstützten etwa im Raum Tuzla die meisten Muslime gerade die „staatsbürgerlich“ orientierten Parteien, die einen überethnischen Staat befürworteten.

Präsident Izetbegovic war für solche Bestrebungen leider nicht zu haben. Er schwankte zwischen islamischer Orientierung und muslimisch-bosnischem Nationalismus, weshalb ein großer Teil der serbischen und kroatischen Bosnier ihm nicht abnahm, dass er einen gemeinsamen „Staat“ konsolidieren wollte. Und im Lager der bosnischen Muslime stellte er sich gegen die Tendenz, mit dem Widerstand zugleich die „ethnische Gemengelage“ Bosniens zu verteidigen. Dennoch blieb ihm die kritische Solidarität antinationalistischer Gruppierungen erhalten, die keinen muslimischen Staat wollten und Izetbegovic offenbar für das kleinere Übel und die letzte Chance zur weiteren Existenz Bosniens sahen.

Keine der großen Mächte wollte sich militärisch engagieren und dabei eigene Verluste riskieren – schließlich gibt es in Bosnien kein Öl. In den ersten „Friedensplänen“ der Europäer und der Vereinten Nationen wurde denn auch der jeweils erreichte Stand der ethnischen Säuberungen abgesegnet. Das stieß zunächst auf die Kritik der USA. Die Regierung in Washington, die sich damals als Retter der Muslime aufspielte, registrierte zwar das Scheitern der diplomatischen Bemühungen von EU und UN mit klammheimlicher Freude, doch im Konfliktgebiet selbst drängten sie auf ein militärisches Gleichgewicht zwischen bosnischen Serben und Kroaten. In Dayton erfolgte im Grunde nur die Umsetzung dieser Politik. Das Abkommen besiegelte das Resultat der ethnischen Säuberungen vom Sommer 1995, sowohl für Srebrenica als auch für die kroatische Krajina, und konsolidierte zugleich die Macht der Präsidenten Izetbegovic, Milosevic und Tudjman, die die Abmachungen unterschrieben.

Keine Versöhnung ohne die Wahrheit über den Krieg

Wie in anderen Konflikten kann auch in Bosnien die Bevölkerung ihr Schicksal nur verarbeiten, wenn die Wahrheit über den Krieg, seine Ursachen und die begangenen Verbrechen ans Licht kommt. Voraussetzung für eine Versöhnung ist vor allem die Verurteilung der Kriegsverbrecher. Leider kann der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien dazu keinen angemessenen Beitrag leisten, weil er, wie sich zeigt, zu sehr in die scheinheiligen und taktischen Manöver der großen Mächte eingebunden ist.

Wie soll das Tribunal die Massaker von Srebrenica oder die massenhafte Vertreibung von Serben aus Slawonien und der Krajina rückhaltlos aufklären, wenn diese teils unter den Augen der internationalen Truppen und auch noch kurz vor den Verhandlungen in Dayton stattfanden? Wie glaubwürdig erscheint die Anklage gegen Milosevic, wenn der serbische Präsident bis zu den Bombenangriffen der Nato 1999 eine entscheidende Größe bei allen westlichen Friedensbemühungen (einschließlich Dayton) war und wenn Franjo Tudjman niemals belangt wurde?

Für die Zukunft wichtiger ist jedoch eine andere Frage. Lässt sich die Einheit Bosniens auf der Basis des Dayton-Abkommens überhaupt wiederherstellen, wo doch in der Verfassung unauflösliche Widersprüche festgeschrieben sind? Wie soll zum Beispiel eine einheitliche bosnische Staatsbürgerschaft zustande kommen, wenn die politischen Optionen immer noch auf der ethnischen Qualität der Gebietseinheiten beruhen, die den Gesamtstaat ausmachen?

Unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat es seit 1995 in Bosnien-Herzegowina Wahlen zum Parlament des Gesamtstaats, zu den Teilparlamenten und innerhalb der dreizehn Kantone gegeben. Da die Bevölkerung aber „schlecht“ gewählt, also die nationalistischen, in den Krieg verwickelten Parteien zu stark gemacht hat, blieben die internationalen Schutztruppen zur Überwachung des Abkommens im Lande, wurde allerdings von Ifor in SFOR („Stabilization Force“) umbenannt.

Zugleich erhielt der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft erweiterte Vollmachten: Er soll nicht mehr nur die Umsetzung des Abkommens überwachen, sondern „bindende Entscheidungen“ treffen. Er kann also auch Verordnungen mit Gesetzescharakter erlassen. Auf diese Weise wurden bereits bosnische Kfz-Kennzeichen, ein gemeinsamer Pass, eine gemeinsame Währung (wegen der Kopplung an die damalige Deutsche Mark marka genannt), ein Gesetz über die Staatsbürgerschaft und eine Staatsflagge durchgesetzt. Außerdem setzte der Hohe Repräsentant mehrmals gewählte lokale Amtsträger ab.

Eine Besonderheit ist auch, dass der Gouverneur der bosnischen Zentralbank vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ernannt wird, wobei er kein bosnischer Staatsbürger sein darf. Bei der Umstrukturierung des öffentlichen Sektors, beim Verkauf von Staatsbetrieben und bei der Einrichtung von Investmentfonds hat die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) das letzte Wort.

Am 1. Januar 2003 übernahm eine Polizeimission der Europäischen Union (EUPM) die Aufgaben der UN-Polizeitruppen, und seit dem 2. Dezember 2004 hat eine 7 000 Mann starke europäische Einsatztruppe (Eufor) die ursprünglichen Nato-Truppen abgelöst. Das bedeutet aber keineswegs die Beendigung des Protektorats, sondern nur seine Europäisierung.

Angesichts dieser massiven ausländischen Präsenz konnte Bosnien nach der Vorlage des Dayton-Abkommens für „geeint“ erklärt werden, während es in der Realität geteilt blieb und zum Schauplatz eines „Kalten Kriegs im Innern“ wurde. Inzwischen werden die autoritären Eingriffe des Hohen Repräsentanten von vielen Bosniern als arrogant empfunden. Vielleicht auch deshalb gibt ein wachsender Teil der Wähler den Kandidaten der ultranationalistischen Parteien den Vorzug vor denen, die ihnen die „internationale Gemeinschaft“ empfiehlt.

Zu ähnlichen Trotzreaktionen führte auch die Forderung der USA, die Partei Izetbegovics solle ihre Reihen „säubern“ und alle Mitglieder, die zu enge Beziehungen zum Iran pflegen, ohne jedes rechtliche Verfahren als „Terroristen“ ausliefern. Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene leidet das Land unter einem Abhängigkeitssyndrom. Während der öffentliche Sektor durch den wirtschaftsliberalen Kurs abgewürgt wird, funktionieren die drei nationalistischen Parteien noch immer nach dem Prinzip des Klientelismus – in einem Land, indem die Arbeitslosenrate bei 40 Prozent liegt und die Haushalte fast die Hälfte des Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen.

Um den westlichen Balkan auf dem Weg nach Europa voranzubringen, ist die Union heute auf einen geeinten Staat Bosnien angewiesen. Deshalb müssen die in Dayton festgelegten Verfassungsstrukturen in Frage gestellt werden. Doch Bosnien kann sich nicht konsolidieren, solange die Vergangenheit nicht aufgeklärt ist. Und erst recht nicht, solange es keine schlüssige Wirtschaftspolitik und keine soziale Absicherung für alle Bevölkerungsgruppen gibt. Doch beides ist derzeit noch nicht in Sicht.

Catherine Samary

Fußnoten: 1 Protokollnotizen über diese Verhandlungen wurden inzwischen in der kroatischen Wochenzeitung Feral Tribune (Mai und Juni 2005) und in der bosnischen Zeitschrift Dani veröffentlicht. 2 Siehe Svetlana Broz, „Good People in an Evil Time: Portraits of Complicity and Resistance in the Bosnian War“, New York (Other Press) 2005. 3 Diese neueren Zahlen nach einem Vortrag von Lara Nettlefield (Columbia University New York) am Centre d’études et de recherches internationales (Ceri) vom 28. November 2005. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 13.01.2006, von Catherine Samary