Nachbarn unter Schutz
Zehn Jahre nach dem Dayton-Abkommen sucht die EU ein Konzept für die ehemaligen jugoslawischen Bundesstaaten von Catherine Samary
Die Europäische Union und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien befinden sich auf Annäherungskurs – nicht ohne Schwierigkeiten, versteht sich. So war der Beschluss über die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien des längeren blockiert, weil Chefanklägerin Carla del Ponte der Regierung in Zagreb mangelnde Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) vorwarf. Doch dieser Streit wurde auf dem Brüsseler EU-Gipfel am 5. Oktober 2005 beigelegt, als Österreich sein angedrohtes Veto gegen die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgab und als Gegenleistung einen Beitrittstermin für seinen Protegé Kroatien durchsetzte.1
Auch der Republik Mazedonien haben die Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem Gipfel vom 18. Dezember den Kandidatenstatus zuerkannt, ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen wurde allerdings auf Druck Frankreichs nicht beschlossen. Mit Serbien-Montenegro will Brüssel ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) schließen. Belgrad bekäme damit jenen Status eines „potenziellen Kandidaten“, der Bosnien-Herzegowina immer noch versagt bleibt, weil wichtige Reformen zur Stärkung des föderativen Gesamtstaates, etwa auf der Ebene der Polizei, nicht vorankommen.
Das Hauptproblem der ganzen Region charakterisiert der Sozialwissenschaftler Jacques Rupnik so: „Merkwürdigerweise sind gerade die postjugoslawischen Balkanstaaten, die auf den Prozess der europäischen Integration am meisten angewiesen sind, um mit ihrem multiethnischen Charakter besser zurechtzukommen, zu dieser Integration am wenigsten bereit. Und dies vor allem, weil es sich um Staaten handelt, die in Auflösung begriffen sind, sodass sie der organisierten Gewalt in Teilen ihres Territoriums und der Destabilisierung der Nachbarländer nicht mehr Einhalt gebieten können.“2
Im Grunde genommen sind alle früheren jugoslawischen Bundesrepubliken inzwischen Protektorate: Außer Slowenien und Kroatien sind sie alle an Abkommen gebunden, die Verfassungsrang haben und sie faktisch der Kontrolle äußerer Mächte unterstellen.3
Die Auflösung Jugoslawiens hatte natürlich auch ökonomische Ursachen. Seit man in der alten Föderation das Prinzip des selbst verwalteten Volkseigentums in Frage stellte, rückte die Rolle des Staates – ausgerechnet auf Betreiben der Wirtschaftsliberalen – wieder ins Zentrum der Politik. Entscheidend wurden damit Fragen wie diese: Welcher Staat kann für welches Territorium die Deviseneinnahmen aus dem Außenhandel beanspruchen? Wie kann man die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen, die ihre sozialen Rechte nicht aufgeben will?
Der letzte jugoslawische Ministerpräsident Ante Markovic, der dem nichtnationalistischen Flügel der Liberalen angehörte, befürwortete 1989 eine Ablösung des alten Systems durch Marktwirtschaft und Privatisierung auf Bundesebene. Dieser Kurs wurde bis 1991 auch vom Weltwährungsfonds (IWF) und den großen westlichen Mächten unterstützt.
Den Zerfall Jugoslawiens wünschte damals niemand, mit Ausnahme der deutschen Regierung und des Vatikans. Doch die Machteliten in den dominierenden jugoslawischen Bundesstaaten – Slowenien, Kroatien und, unter anderen Vorzeichen, auch Serbien – setzten damals die Auflösung der Föderation auf die Tagesordnung: Die Konsolidierung ihrer separaten Staaten war unabdingbare Voraussetzung für eine Privatisierungspolitik, bei der sie sich ihren Anteil an den erzielten Gewinnen sichern konnten.
Slowenien hatte, als es 1991 das sinkende Schiff verließ, bereits eine eigene Währung vorbereitet. Im Unterschied zu den anderen Republiken hatte das Land nicht mit größeren ethnischen Minderheiten zu tun, sein Wohlstand jedoch hatte wahrlich andere Gründe. Von allen ehemals sozialistischen Ländern war Slowenien dasjenige, das im Lauf der 1990er-Jahre noch am wenigsten auf wirtschaftsliberale Prinzipien gesetzt hat.4
Die anfänglichen politischen und sozialen Widerstände gegen die Privatisierungen in Slowenien erklären sich in erster Linie daraus, dass das alte System als Erfolg wahrgenommen wurde: Der Lebensstandard war hoch, Ende der 1980er-Jahre lag die Arbeitslosenquote bei nur 2 Prozent (dagegen im Kosovo bei 20 Prozent). Und der slowenische Staat war, trotz des beträchtlichen Einflusses der Europäischen Kommission, zehn Jahre lang nicht bereit, auf die Senkung von Löhnen und Kapitalsteuern zu setzen, nur um ausländisches Kapital ins Land zu holen.
Die anderen Republiken – die wie Jugoslawien als Ganzes multinational geprägt waren – hatten ein solches Entwicklungsniveau nicht erreicht. Der bürokratische Charakter des alten Systems hatte die Verschwendung begünstigt und eine Bereicherungsmentalität gefördert. Die Folge war, dass die Unterschiede im Lebensstandard der Menschen ständig größer wurden. Die Lähmung und der anschließende Zerfall des Bundesstaats hatten zur Folge, dass die ethnischen Minderheiten in den neuen Staaten durch die jeweils herrschende „Nation“ unterdrückt wurden, die das „eigene“ Territorium abzusichern und wenn möglich zu erweitern versuchte. Die neuen Regime kündigten die Solidargemeinschaft auf und suchten ihre Legitimation in nationalistischen Projekten. Anfang der 1990er-Jahre wurde die Benachteiligung der Minderheiten sogar in den Verfassungen von Serbien, Kroatien und Mazedonien festgeschrieben, was den Widerstand der Betroffenen auslöste.
Das Völkerrecht sah den Zerfall Jugoslawiens nicht vor
Auf die Unabhängigkeitserklärungen wussten die großen Mächte zunächst nur eine Antwort. Wenn man schon die Auflösung Jugoslawiens als Ausdruck des Rechts auf Selbstbestimmung akzeptierte, so mussten doch unbedingt die Grenzen der Bundesstaaten unverändert bleiben. Die Wahrung dieses „Prinzips“ sollte den Konflikt eindämmen. Eine auf Wunsch der EU eingerichtete Kommission unter dem Vorsitz des französischen Verfassungsrechtlers Robert Badinter empfahl die Anerkennung der unabhängigen Republiken Slowenien und Mazedonien (wo die albanischen Parteien an der Regierung beteiligt waren). Die Badinter-Kommission riet aber auch, sich bei den akuten Konflikten in Kroatien und Serbien eher zurückzuhalten.
Tatsächlich bot das Völkerrecht keinen systematischen Ansatz zur Lösung der Probleme, die der Zerfall Jugoslawiens aufwarf. Vielleicht hätte man im Rahmen einer konföderativen Assoziation aller betroffenen Gemeinschaften eine umfassende, die Gleichberechtigung absichernde Regelung aller nationalen Fragen erreichen können. Aber das ist nicht geschehen. Stattdessen organisierte man in Bosnien-Herzegowina ein Referendum über die Unabhängigkeit, mit dem man den Krieg noch verhindern wollte. Dieses Referendum wurde von den bosnischen Serben weitgehend boykottiert, nicht aber von den Kroaten. Zagreb zog es damals vor, seine Pläne für einen neuen Staat Herceg-Bosna – als Pendant zur Republika Srpska – nicht publik zu machen.
Als im Sommer 1995 mit der Vertreibung der Serben aus der rückeroberten Krajina der serbische Bevölkerungsanteil in Kroatien auf weniger als 5 Prozent reduziert wurde, schauten die europäischen Mächte, wie zuvor die Vereinigten Staaten, einfach weg. Dabei berief sich jede auf „realpolitische“ Grundsätze, die von Fall zu Fall nach der jeweils eigenen Interessenlage interpretiert wurden.
Als Deutschland im Januar 1992 innerhalb der EU die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens als unabhängige Staaten durchsetzte, hatte die Union im Grunde als Großmacht mit Anspruch auf eine „gemeinsame Außenpolitik“ abgedankt. Dagegen hielten sich die USA zunächst heraus und betrachteten die Schwierigkeiten innerhalb der EU und der UNO mit einer gewissen Genugtuung. Die späteren Krisen in Bosnien und im Kosovo nutzte Washington, um die Neuorientierung und Umgruppierung der Nato nach dem Ende des Warschauer Pakts (1991) voranzutreiben. In die Kämpfe vor Ort griff es dagegen damals noch nicht ein.
Auf der Konferenz von Rambouillet im Februar 1999 unterstützte Serbien die europäischen Pläne für ein Autonomiestatut des Kosovo, das von der albanischen Unabhängigkeitsbewegung abgelehnt wurde. Belgrad wiederum stimmte der von den Albanern erhofften Entsendung von Nato-Bodentruppen nicht zu.5 Angesichts dieser verfahrenen Situation schlossen sich die Europäer der Politik der Stärke von US-Außenministerin Madeleine Albright an, die auf die Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) setzte. Nach dreimonatigen Kriegshandlungen brachte die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats einen Waffenstillstand.
Wie das Dayton-Abkommen enthielt auch diese Resolution einige Widersprüche, die bis heute nicht aufgelöst sind (siehe Artikel Seite 11). So hatte zwar die Nato ihre Einheit bewahrt, und die USA konnten mit Camp Bondsteel in der Nähe von Pristina einen riesigen Militärstützpunkt einrichten, doch das Kosovo erlangte nicht die Unabhängigkeit, sondern blieb serbische Provinz – und wurde zugleich zum Protektorat.6 Anders als die Kosovoalbaner kann sich Belgrad allerdings auf eine gültige UN-Resolution berufen, die das Kosovo als Teil der neuen Föderation Serbien-Montenegro definiert. Um diese Gebietsgrenzen zu erhalten (und die Resolution 1244 nicht in Frage zu stellen) hatte Javier Solana als Beauftragter der EU im Dezember 2000 sichergestellt, dass Montenegro innerhalb des neuen Jugoslawien verblieb.
Dieser faule Kompromiss zur vorläufigen Erhaltung eines Staates Serbien-Montenegro (von den Serben „Solanien“ getauft), in dessen Rahmen das Kosovo weiterhin als „serbische Provinz“ gilt, hat kein Problem wirklich gelöst. Die Albaner akzeptieren diesen Status weniger als je zuvor, aber deswegen sind sie natürlich längst nicht legitimiert, sich die Provinz auf Kosten der Nichtalbaner anzueignen.
Im Kosovo wie in Bosnien wird deutlich, dass der militärische und zivile Apparat der Protektoratsverwaltung nicht in der Lage ist, das „Zusammenleben“ der verschiedenen Ethnien zu fördern und bei allen eine Art Verantwortungsbewusstsein zu wecken. Um wenigstens einen Dominoeffekt zu verhindern, hat der Westen das System der Protektorate noch weiter ausgebaut, zum Beispiel in Mazedonien.
Hier setzt man zudem auf eine asymmetrische Zuteilung demokratischer Rechte. So ist Mazedonien bislang der einzige Staat, in dem durch die Revision der Verfassung von 1991 (aufgrund der Bestimmungen des 2001 unterschriebenen Ohrid-Abkommens) ein System der „doppeltes Mehrheit“ eingeführt wurde. Auf gesamtstaatlicher Ebene haben alle Staatsbürger das gleiche Stimmrecht, doch daneben gibt es die rechtliche Gleichstellung der ethnisch definierten Volksgruppen, unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer räumlichen Verteilung. Damit können die Albaner Maßnahmen abblocken, durch die sie ihre Interessen bedroht sehen.7 Die Spannungen zwischen Slawomazedoniern und Albanern wurden auch dadurch gemildert, dass Letztere als Minderheit in Institutionen wie der Polizei überproportional vertreten sind, dass es auf kommunaler Ebene gemischte Verwaltungen gibt und dass die albanische Sprache gefördert wird, zum Beispiel an der Universität Tetovo.
Das große Problem ist nach wie vor, eine Arbeit zu finden, egal welche Sprache man spricht. Wie in allen Gesellschaften, die neoliberalen Rezepten ausgesetzt sind, hat sich auch in Mazedonien die soziale Krise verschärft und damit auch die Entfremdung zwischen der Bevölkerung und der politischen Führung. Hier liegt auch der Schwachpunkt des Ohrid-Abkommens, das ansonsten durchaus Positives bewirkt hat.