13.01.2006

Ausnahmezustand in El Aaiún

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Ausnahmezustand in El Aaiún

Der sahrauische Widerstand ist noch nicht gebrochen von Gael Lombart und Julie Pichot

Es herrscht eine seltsame Atmosphäre in El Aaiún, der Provinzhauptstadt der Westsahara, 550 Kilometer südlich von Agadir. Die Fahrzeuge der UN-Mission für das Referendum in der Westsahara (Minurso) patrouillieren durch die ruhigen Straßen oder stehen ordentlich geparkt vor den Viersternehotels.1 Eingestaubt, am Wüstenrand gelegen, wirkt die von den Spaniern errichtete helle Kolonialstadt mit 200 000 Einwohnern wie erstarrt.

Seit sie 1975 von Marokko in Besitz genommen wurde, leben Sahrauis und Marokkaner hier miteinander; Malfhas und Deraas, die traditionellen Gewänder der Sahrauis, mischen sich mit Hijabs oder Jeans. Das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung lässt beinahe in Vergessenheit geraten, dass die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung hier seit Mai 2005 mehrmals in der Woche für die Ablösung von Marokko demonstrieren.

Am 30. Oktober dieses Jahres haben die Ereignisse eine tragische Wende genommen: Bei einer Kundgebung wurde der junge Hamdi Lambarki von einer elfköpfigen Truppe der marokkanischen Polizeieinheit Groupe urbain de sécurité (GUS) so brutal zusammengeschlagen, dass er wenige Stunden später im Krankenhaus von Belmehdi starb. Die Situation spitzte sich schnell zu. Die Polizeikräfte gingen gezielt gegen die Anführer der Separatisten vor. Am Spätnachmittag wurde Brahim Dahane, der Präsident einer sahrauischen Menschenrechtsorganisation, bei einer Kundgebung vor dem Haus des Opfers festgenommen und in die Haftanstalt von El Aaiún, die Carcel Negra, gebracht, wo er auf seinen Prozess wartet.2 Als wir den Sahrauiführer vor seiner Inhaftierung trafen, hatte er sich an die Anfänge des Unabhängigkeitskrieges 1975 erinnert. Damals war er noch ein Jugendlicher gewesen. „Ich hörte die Bombenexplosionen und sah meinen Vater durch die Dachluke spähen. Als ich zu ihm ging, um zu fragen, was da draußen los sei, legte er nur seinen Finger auf die Lippen und machte pssst.“

Dreißig Jahre lang haben Repression und Angst das große Schweigen in El Aaiún bewahrt, bis am 21. Mai 2005 die Unruhen ausbrachen. An diesem Tag wurde Sidi Ahmed Ould Haddi von seiner Zelle in der Carcel Negra nach Ait Melloul bei Agadir verlegt. Er war ein Sahraui, den man auch al-Kinane nannte („der Mann, der beißt“ auf Hassaniya, dem alten arabisch-berberischen Dialekt). 2003 war er wegen Beleidigung des Königs ins Gefängnis gekommen, ein paar Monate darauf beantragte er seine Entlassung aus der marokkanischen Staatsbürgerschaft. Am Tag der Verlegung organisierte seine Familie ein Sit-in vor der Haftanstalt in El Aaiún. Es kam zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und einigen Dutzend Demonstranten. Das war der Anfang einer langen Serie immer wieder niedergeschlagener Protestaktionen.

El-Ghalia Djimi, die treibende Kraft in der von Brahim Dahane geführten Menschenrechtsorganisation, wollte die Ausschreitungen vor der Haftanstalt filmen. „Ein Dutzend Polizisten haben sich auf mich gestürzt und mir unter Fußtritten auf die Handgelenke die Kamera entrissen“, erzählt sie. Es folgte eine heftige Auseinandersetzung mit dem gewöhnlich „respektvollen“ Hauptkommissar. „Er sagte: ‚Hören Sie, El-Ghalia, die Leute, die ihr hier [in den marokkanischen Behörden] zu kennen glaubt, solltet ihr vergessen. Ab sofort gibt es für euch nur noch Gewalt und Gewalt für immer. Bis keiner von euch mehr den Mund aufmachen kann, um von Verletzungen der Menschenrechte in der Region zu reden.‘ “

Zwischen dem 24. und dem 26. Mai kamen hunderte von Sahrauis im Viertel Maatallah zusammen. Während es früher um soziale Forderungen ging, wurden jetzt politische Slogans auf der Straße laut. Die Demonstranten verlangten für ihr Volk das Recht, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Reifen wurden in Brand gesteckt, und zum V geformte Finger reckten sich gen Himmel. Die Polizisten nahmen über hundert Personen fest. Nach Berichten der marokkanischen Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte (AMDH) wurden am Abend des 25. Häuser von der Polizei verwüstet.3 In den folgenden Tagen schwenkten Demonstranten in Semara und Ad Dachla die Fahne der Demokratischen Arabischen Republik Sahara. Von Rabat bis Marrakesch wurden die Universitätsgelände von studentischen Befürwortern der Unabhängigkeit besetzt. Überall gab es Demonstrationen, überall flogen Steine. Die Polisario sprach von einer Intifada.

Während die meisten Festgenommenen nach einigen Stunden wieder auf freien Fuß kamen, wurden etwa zwanzig Personen bereits im Juni vor Gericht gestellt. Unter dem Vorwurf, die marokkanische Nationalfahne verbrannt zu haben, wurden drei der Angeklagten zu Haftstrafen von 15 bis 20 Jahren verurteilt. Nach Aussagen des Präsidenten der AMDH-Sektion von El Aaiún, Iguilid Hammoud, lag diesen Urteilen keinerlei Beweismaterial zugrunde: „Seit dem 21. Mai sind die Kundgebungen sowohl von staatlicher Seite als auch von Demonstranten gefilmt worden. Der Staatsanwalt konnte keinen Beweis vorlegen, dass die marokkanische Fahne verbrannt worden wäre.“

Da die letzten gewalttätigen Zwischenfälle in der Westsahara im Jahr 1999 stattfanden, haben die Ereignisse vom Mai 2005 internationale Aufmerksamkeit erregt. Die Regierung in Rabat hat unverzüglich Maßnahmen ergriffen, um unliebsame Besucher aus den „Südprovinzen“ fern zu halten. Einige Tage nach den ersten Ausschreitungen wurde verschiedenen Parlamentarierdelegationen vor allem aus Spanien bei ihrer Ankunft in Marokko die Einreise verweigert. Journalisten mussten ihren Beruf verheimlichen, um unabhängig arbeiten zu können. Andere, die als „parteiisch“ galten, wurden zum Flughafen zurückeskortiert. Am 1. Juli kündigte der marokkanische Premierminister Driss Jettou im Radio an, das Land werde nicht länger dulden, dass „Personen, die seinen Institutionen und seiner territorialen Integrität feindlich gegenüberstehen, ohne Erlaubnis einreisen, sei es im Rahmen von Untersuchungskommissionen oder als Berichterstatter über die Ereignisse in El Aaiún“. Er sollte Wort halten.

Der französische Anwalt Richard Sédillot, Mitglied des Verwaltungsrats der Organisation Ensemble contre la peine de mort, konnte seine Aufgabe als Prozessbeobachter im Verfahren gegen Ahmed Hammia in Ad Dachla kaum erfüllen. Nach seiner Ankunft am 3. August wurden Begegnungen mit Separatisten systematisch verhindert. „Es war so viel Polizei auf der Straße, dass sie alle zu Hause bleiben mussten“, schreibt er in seinem Bericht.

Doch alle Bemühungen Marokkos, die Rebellion in Schach zu halten, reichen nicht mehr aus. Am 9. August traten 37 sahrauische politische Gefangene in einen Hungerstreik, darunter sieben Menschenrechtsvertreter, die den Protest in die Schlagzeilen der internationalen Presse brachten. Sie forderten ordentliche Gerichtsverfahren, bessere Haftbedingungen und insbesondere „eine angemessene medizinische Versorgung für die Auswirkungen von Folter, Krankheiten und schlechten hygienischen Verhältnissen“.4

Die Klagen über Gewaltmaßnahmen der Obrigkeit konzentrieren sich auf die Kommandozentrale der mobilen Eingreiftruppe (PCCMI), einem geheimen Ort in El Aaiún, wo zahlreiche Sahrauis mehrere Jahre mit verbundenen Augen und gefesselten Händen vor sich hin vegetiert haben. Dort sind auch Brahim Noumria und Houssein Lidri im Juli gefoltert worden. Sie wurden anschließend ins Kommissariat gebracht, wo sie den in Polizeigewahrsam genommenen Fadel Gaoudi trafen, der nach seiner Freilassung berichtete: „Sie wurden nach der ‚Brathähnchenmethode‘ aufgehängt. Man band ihnen Hände und Füße zusammen und stellte ihnen einen Stuhl auf den Rücken. Danach wurden ihnen ätzende Flüssigkeiten über den Körper geschüttet.“ Noumria und Lidri, die mittlerweile in Casablanca inhaftiert sind, gehören zu den Hungerstreikenden. Nach 51 Tagen haben die Gefangenen am 29. September ihren Hungerstreik beendet, ohne deswegen von ihren Forderungen abzurücken, wie ihr Sprecher Ali Salem Tamek bekannt gab.5 Einer von ihnen, Lehssen Zreignat, wurde wegen seines Gesundheitszustands vorübergehend entlassen. Er bezeugt: „Für 2 500 Dirham [230 Euro] – das ist hier ein Vermögen – bekommt man einen halben Meter, um sich hinzulegen. Wer nicht zahlt, muss auf dem Klo schlafen, stehend oder sitzend, in einem unerträglichen Gestank.“6

Anfang Dezember war der Leichnam von Hamdi Lambarki, dem Opfer der Ausschreitungen vom 30. Oktober, immer noch nicht bestattet. Er wird es laut der konservativen spanischen Zeitung ABC vom 1. Dezember 2005 auch nicht werden, „solange die Umstände seines Todes nicht offiziell geklärt sind. Im Augenblick heißt es, zwei Polizisten, die von der Generaldirektion der nationalen Sicherheitspolizei für verantwortlich gehalten werden, seien festgenommen worden.“ Binnen kürzester Zeit ist Hamdi Lambarki ein Symbol geworden, ein Märtyrer der sahrauischen Jugend.

1 Da Marokko und die Polisario zu keiner Einigung gelangen, sind die UNO-Vertreter seit dem Waffenstillstand von 1991 anwesend. Eine Rekordzeit für eine Mission zur Friedenserhaltung in Afrika. 2 Vgl. den Bericht der FIDH und der OMCT, „Maroc: Détention arbitraire de M. Dahane“, 3. November 2005. 3 www.amdm.org. 4 Vgl. den Bericht der OMTC, „Maroc: Grève de faim de plusieurs prisonniers politiques sahraouis“, 2. September 2005. 5 www.arso.org/intifadastophuelga.htm. 6 El Periodico, Barcelona, 27. September 2005. Aus dem Französischen von Grete Osterwald Gael Lombart und Julie Pichot sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2006, von Gael Lombart und Julie Pichot