Wem gehört die Wüste
von Khadija Finan
Die Lage in der Sahara entwickele sich für Marokko zu einer Belastung, warnte der marokkanische Journalist Aboubakr Jamai, Herausgeber des Journal hebdomadaire, im August 2005 in einem offenen Brief an König Mohammed VI. „Die Öffentlichkeit hat den vagen Eindruck, dass unsere Sache ins Rutschen geraten ist. Sie ahnt auch, dass eine ungünstige Lösung des Konflikts eine Periode der Instabilität eröffnen wird, die für die Zukunft des Landes katastrophal sein könnte. Die Monarchie würde einen solchen Misserfolg schwerlich überleben, und unser Land müsste einen hohen Preis bezahlen.“
Seit Mai 2005 reißen die Unabhängigkeitsdemonstrationen in den beiden großen sahrauischen Städten El Aaiún und Semara nicht mehr ab: Durch ihre gewaltsame Unterdrückung hat sich die Lage gefährlich zugespitzt, insbesondere nach den Ausschreitungen Ende Oktober. Zugleich bekundet Washington ein neues Interesse an der Lösung des Westsaharakonflikts: Dank der diplomatischen Bemühungen der Vereinigten Staaten wurden im August die letzten 404 marokkanischen Gefangenen, die sich noch in der Gewalt der Frente Polisario befanden, freigelassen. Im September schließlich wurde der Niederländer Peter van Walsum in der Nachfolge von James Baker und Alvaro de Soto neuer UNO-Sonderbeauftragter.
Diese drei Ereignisse schaffen eine neue Situation. Dennoch beharren die Protagonisten des dreißig Jahre alten Streits auf ihren unvereinbaren Positionen. Doch die Demonstrationen von El Aaiún und Semara zeigen, dass der Westsaharakonflikt keinesfalls nur mit Phosphat, Fischgründen und den politischen Interessen Marokkos und Algeriens zu tun hat.
Seit 1975 beansprucht Marokko im Namen seiner „historischen Rechte“ die ehemalige spanische Kolonie Westsahara. Nachdem Mauretanien sich 1979 aus dem von ihm verwalteten südlichen Teil des Landes zurückgezogen hatte, wurde auch dieses Gebiet von marokkanischen Truppen besetzt. Die 1973 gegründete, von Algerien unterstützte Frente Polisario trat für eine durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker legitimierte Unabhängigkeit des ehemals spanischen Territoriums ein. Mittlerweile verhindert der Konflikt jede bilaterale Zusammenarbeit und blockiert den Aufbau der Arabischen Maghreb-Union (AMU).
Aber das marokkanische Königshaus sieht in diesem Krieg ein Mittel, die Kritiker der Linksparteien zu entwaffnen und die unruhig werdende Armee im Süden zu beschäftigen. Auch für Algerien, das keine offiziellen Ansprüche auf das Gebiet erhebt, war die Westsahara immer ein innenpolitisch lohnendes Thema. Die Generäle der FLN konsolidierten ihre Macht durch nationalistische Parolen.
In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre weigerte Marokko sich, über „auch nur einen Zoll“ der Sahara zu verhandeln. Wer deren Zugehörigkeit zu Marokko in Frage stellte, griff dessen „territoriale Integrität“ an. Doch die Polisario führte einen erbitterten und dank besserer Ortskenntnisse überlegenen Guerillakrieg, in dem die marokkanische Armee empfindliche Niederlagen erlitt. 1981 akzeptierte König Hassan II. schließlich das Prinzip der Selbstbestimmung und erklärte sich bereit, ein Referendum abzuhalten. Doch zuvor schuf er Fakten: Durch die Errichtung von Verteidigungswällen, der die bewohnten Gebiete vor den Angriffen der Polisario schützte, gelang es der marokkanischen Armee, der Guerilla einen Abnutzungskrieg aufzuzwingen.
Der König war überzeugt, er könne so die Partie gewinnen, zumal, wenn er den Konflikt als eine Frage des internationalen Rechts darstellte. Zwei Ereignisse des Jahres 1988 bestärkten ihn darin. Zum einen nahm die algerische Regierung ihre diplomatischen Beziehungen zu Rabat nach zwölfjähriger Unterbrechung wieder auf. Zum anderen geriet die Führung der Frente Polisario in eine Krise, da der Stamm der Reguibat die anderen Stämme, die die Basis der Polisario bildeten, dominierte; zahlreiche Sahrauis aus dem algerischen Tindouf verließen die Unabhängigkeitsbewegung und folgten dem Aufruf König Hassans, „in den Schoß des gnädigen und barmherzigen Vaterlands“ zurückzukehren.
Diese „Gnade“ entspringt einer Tradition, nach der das aus Stämmen bestehende Königreich sich durch neue Loyalitäten und Bündnisse erweitern kann. Direkte Verhandlungen mit der Polisario lehnte Hassan II. ab.
Ein Friedensplan der UNO, der ein Referendum zur Selbstbestimmung vorsah, wurde zwar von beiden Seiten akzeptiert, doch die für 1992 anberaumte Volksabstimmung hat bis heute nicht stattgefunden. Da keine Einigung über die Frage der Stimmberechtigten erzielt werden konnte, war es unmöglich, sie zu organisieren. Seither sind alle Vorschläge der UNO von der einen oder anderen Seite abgelehnt worden. So auch der Plan des Sonderbeauftragten James Baker, dem Referendum eine mehrjährige Autonomie als Übergangszeit vorausgehen zu lassen.
Die Polisario und Algerien sind von Anfang an für ein Referendum unter der Ägide der UNO eingetreten. Marokko dagegen hat darauf gesetzt, dass die Unterstützung der Sahrauis durch Algier schwindet. So galt Boumediennes Nachfolger Bendjedid Chadli in Rabat als Mann der algerisch-marokkanischen Annäherung; und während des algerischen Bürgerkriegs der 1990er-Jahre, spekulierte man auf die Schwächung des Nachbarlands. Das war ein Irrtum. Der heutige algerische Präsident Abdelasis Bouteflika ist kein Mann des Kompromisses. Auch Armee und Sicherheitsdienste haben in Algerien noch ein gewichtiges Wort mitzureden. In der Frage der Westsahara spricht die algerische Führung mit einer Stimme.
Marokko hat sich auch innerhalb Afrikas isoliert
Algier unterstützt Washington im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und hat wichtige Handelsbeziehungen – vor allem als Exporteur von Öl und Gas – zu den USA aufgebaut. Es hat seinen Platz auf der internationalen Bühne und sein Ansehen auf dem afrikanischen Kontinent wiedergewonnen. Seit Südafrika im September 2004 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DAR Sahara) anerkannt hat, sind beide Länder näher zusammengerückt, während Marokko sich zunehmend isoliert. Auch den Beitritt zur Afrikanischen Union (AU) hat Rabat mit der Begründung verweigert, die Organisation habe die sahrauischen Ansprüche anerkannt.
Weitere Sturheiten kann Marokko sich kaum leisten. Offiziell bietet es der Westsahara eine „weitgehende Autonomie“ an, ohne sich jedoch auf deren Inhalt festzulegen. Die Zurückhaltung erklärt sich durch die politischen Implikationen dieser Option: Eine Verfassungsänderung wäre notwendig. Marokko müsste innerhalb der formalen Souveränität des Staates einer Bevölkerungsgruppe Autonomie gewähren, die entschlossen ist, ihr Recht auf Unabhängigkeit zu behaupten. Die Sahrauis haben sich in einem dreißigjährigen Konflikt nicht in die Knie zwingen lassen und werden sich jeder Einschränkung ihrer Souveränität erbittert widersetzen.
Hassan II. hatte geglaubt, die Autonomie der Sahara einfach und effizient definieren zu können, indem er erklärte, außer dem Poststempel und der Flagge sei alles verhandelbar. Er glaubte, sich mit dieser Formel an die im Exil lebenden Sahrauis der Polisario zu wenden, die anderen schienen ihm naturgemäß für die Sache Marokkos gewonnen. Doch seit sechs Monaten demonstrieren in El Aaiún und Semara die Menschen erneut für die Unabhängigkeit.
Sowohl in Algerien wie auch in Marokko zeigen Zivilgesellschaften und Parteien ein wachsendes Interesse an den Hintergründen des Konflikts und die Bereitschaft, an dessen Lösung mitzuwirken.
Die nationalistische Unabhängigkeitspartei Istiqlal in Marokko fühlt sich aus ihrer angestammten Rolle als Verteidigerin der territorialen Integrität verdrängt und lehnt das Autonomieprinzip ab; sie denkt an eine umfassende regionalistische Konstruktion, in die die Sahara integriert werden könnte.1 Die gemäßigt islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) dagegen zeigt in der Saharafrage große Unnachgiebigkeit, was vielleicht als Treuebeweis gegenüber der Krone zu verstehen ist. Die PJD wurde 1998 gegründet und hat 42 Abgeordnete im Parlament. Seit ihrer Stigmatisierung im Mai 2003, als ihr die „moralische Verantwortung“ für die islamistischen Terrorattentate von Casablanca zugeschrieben wurde, überbieten sich ihre Verantwortlichen in nationalistischen Sprüchen. Für andere Gruppierungen wie die junge liberale Partei Alliance et Liberté, die sich etwa in der Mitte des politischen Spektrums ansiedelt, stellt die Westsaharakrise eine Chance dar, Marokko zu demokratisieren. Noch eine andere Meinung vertritt der Journalist Aboubakr Jamai, laut dem die politische Öffnung eine Voraussetzung für die Lösung der Saharafrage ist. Doch dieses langfristige Projekt wird angesichts der aktuellen Spannungen, die das Land zu destabilisieren drohen, kaum umsetzbar sein.
Die Niederschlagung der Demonstrationen von Semara und El Aaiún mit brutaler Gewalt vermittelt den Eindruck, dass Rabat die Westsahara nicht mehr unter Kontrolle hat. Viele Beobachter betonen die Entwicklung seit September 1999. Damals hatte El Aaiún eine Woche der Polizeigewalt gegen sahrauische Studenten erlebt, die höhere Stipendien und bessere Verkehrsverbindungen verlangten. Die Monarchie hat daraufhin mehrere Minister in die Wüste entsandt, um „die Sahrauis anzuhören und zu beruhigen“.
Die Forderungen von 1999 betrafen ausschließlich den sozialen Bereich, heute dagegen fordern Demonstranten, die keine Verbindungen zur Polisario haben, die Unabhängigkeit der Westsahara. Sie treten dafür auch auf Internetseiten2 oder in Diskussionsforen ein. Da auf ihre sozialen Forderungen nicht eingegangen wurde und der politische Status quo unbefriedigend bleibt, hat sich die Haltung der Sahrauis gegenüber Rabat verhärtet.
Viele Maghrebiner erhoffen sich von dem neu erwachten amerikanischen Interesse an der Region einen Ausweg aus der Krise. Seitens der USA gibt es mehrere Gründe, der Sahara erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken: Einerseits sind sie darauf bedacht, den Einsatzbereich der Nato zu erweitern, andererseits könnten die marokkanischen Streitkräfte als Stütze einer Politik der regionalen Stabilisierung dienen. Dafür aber dürfte Rabat nicht in lokale Streitigkeiten insbesondere mit Algerien verwickelt sein. Aber vor allem möchte Washington die Situation in der Wüstenregion besser kontrollieren, da diese Zone in den Augen der Bush-Regierung ein Rückzugsgebiet für fundamentalistische Terroristen geworden ist, denen sich unzufriedene und orientierungslose Sahrauis leicht anschließen könnten.
Doch wie auch immer die Lösung des Konflikts um die Westsahara aussehen könnte: Sie impliziert notwendigerweise die Legitimation des einen und die Delegitimation des anderen Protagonisten, so eng haben beide Seiten ihr politisches System damit verknüpft.