Neurowissenschaft im Dienst des Antiterrorkampfs
Bildgebende Verfahren ertappen das Gehirn beim Lügen von Olivier Oullier
Die Anschläge, die in den vergangenen Jahren auch Europa und Asien erschütterten, haben uns vor Augen geführt, dass kein Land vor Terrorakten geschützt ist. Als der französische Innenminister Nicolas Sarkozy am 26. Oktober 2005 im Ministerrat sein Gesetzesvorhaben zum verschärften Antiterrorkampf vorstellte, betonte er: „Freiheit bedeutet zuallererst, U-Bahn und Bus fahren zu können.“1 Die Anspielung auf die Attentate in London am 7. Juli 2005 ist überdeutlich.
In ihrem Kampf gegen den Terrorismus will die französische Regierung ab Januar 2006 neueste Errungenschaften der Wissenschaft und Technik einsetzen. Erklärtes Ziel ist es, die Behörden, die mit der Überwachung von Personenbewegungen, Kommunikationsnetzen, öffentlichen und privaten Bereichen betraut sind, besser auszustatten. In denselben Zusammenhang gehört der kürzlich zwischen der britischen Regierung und einem großen Mobilnetzbetreiber abgeschlossene Vertrag über eine Gesamtsumme von 1,2 Millionen Euro, der die Speicherung der Verbindungsdaten für die Dauer eines Jahres erlaubt.2 Die Behörden sollen die Informationen so schnell und in so guter Qualität bekommen, wie es in den USA seit dem Patriot Act bereits der Fall ist.3
Um weiteren Anschlägen vorzubeugen, hat man in England mehrere Millionen Kameras installiert, mit denen inzwischen die Bevölkerung im öffentlichen Bereich auf Schritt und Tritt beobachtet wird. Rechtfertigt die nationale Sicherheit dieses Datensammeln? Die britische Öffentlichkeit ist in der Frage offenbar gespalten. Einerseits ist nicht zu bestreiten, dass die Kameras den Ermittlern geholfen haben, die Bombenleger vom vergangenen Juli in kurzer Zeit zu identifizieren. Verhindern konnten sie die blutigen Ereignisse damit jedoch nicht. Wenn es darum geht, verdächtiges Verhalten auszumachen, ist das menschliche Auge im Prinzip durch nichts zu ersetzen.
Doch eben nur im Prinzip – derzeit entwickelt man nämlich Verfahren der automatischen Informationsverarbeitung, die den Kampf gegen den Terrorismus optimieren sollen. So genannte intelligente Kameras, die von einer hoch leistungsfähigen Identifizierungssoftware gelenkt werden, sind ein beeindruckendes Beispiel dafür. Sie wurden von Verhaltensneurologen in Kooperation mit Bewegungsspezialisten entwickelt und ermöglichen es, ungewöhnliches Verhalten sehr schnell anzuzeigen.
Ohne sich lange mit Fragen der eventuellen Verletzungen von Grundrechten aufzuhalten, setzen England und Frankreich also auf das Sammeln biometrischer Daten und die Verhaltensanalyse in situ. Diese Techniken kommen zwar auch bei der amerikanischen Terrorabwehr zum Einsatz, doch scheint man in den USA parallel dazu noch ein ganz anderes Observationsfeld ins Visier zu nehmen: das menschliche Gehirn. Einem vor kurzem in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature erschienenen Artikel zufolge soll es jetzt schon möglich sein, die funktionelle Kernspinresonanztomographie (fMRI) im Rahmen der Verbrechensbekämpfung zu nutzen.4 Die fMRI ist ein bildgebendes Verfahren zur Darstellung von aktivierten Strukturen im Innern des Körpers, insbesondere des Gehirns. Dabei werden sowohl einzelne Bilder als auch ein zeitlicher Verlauf aufgezeichnet und somit Erregungsänderungen im Gehirn sichtbar gemacht.
Forschern an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia soll es durch fMRI inzwischen gelungen sein, Signale der Lüge im Gehirn nachzuweisen. Das Forschungsprojekt wurde von der Defense Advanced Projects Agency der amerikanischen Armee finanziert.5
Bei den dazu durchgeführten Versuchen darf die Testperson auf die Frage, ob sie eine bestimmte Spielkarte besitze, die Wahrheit sagen oder lügen. Die beim Lügen entwickelte Hirnaktivität wird dann mit der verglichen, die bei wahrheitsgemäßen Antworten auftritt. Ob diese Ergebnisse des Laborversuchs so ohne weiteres auf realistische Situationen – oder gar auf das Feld der Terrorbekämpfung – übertragbar sind, ist aber in mehrfacher Hinsicht fraglich:
Zunächst aus ganz praktischen Erwägungen: Bei der funktionellen Kernspinresonanztomographie darf der Kopf auf gar keinen Fall bewegt werden. Schon eine um zwei Millimeter veränderte Schädelposition kann die Messdaten verfälschen.
Der zweite Grund ist ein wissenschaftlicher: Die Nature-Studie spricht von einer gesteigerten Aktivität im Stirnlappen beim Lügen. Das netzartige Funktionieren des Gehirns macht es aber prinzipiell unmöglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen der Aktivität eines einzelnen Hirnareals und komplexen Willenshandlungen herzustellen. Der Stirnlappen des menschlichen Gehirns wird nämlich bei zahlreichen anderen Denkaufgaben angesprochen, zum Beispiel bei solchen, die das Gedächtnis implizieren oder eine Entscheidung zwischen mehreren Antworten verlangen. Theoretisch würde es also genügen, dass der Verhörte eine solche Aufgabe ausführt, um – neben anderen Bereichen des Gehirns – den Stirnlappen in Aktivität zu versetzen. Schon allein dadurch könnte er im Prinzip den Kontrast zwischen lügenhafter und wahrhafter Gehirntätigkeit zum Verschwinden bringen. Doch genau dieser Kontrast ist das Herz des propagierten Verfahrens der Lügendetektion.
Drittens – und das ist vielleicht der schwächste Punkt auch bei noch so hoher Treffsicherheit – macht man es sich zu einfach, wenn man glaubt, man könne einen Verdächtigen ohne weiteres fragen, ob er Mitglied einer terroristischen Organisation sei. Eine Reihe von soziopolitischen Untersuchungen hat nämlich gezeigt, dass sich Terroristen gar nicht als solche sehen. Der Einsatz des Verfahrens wirft also in der konkreten Anwendung ein grundsätzliches Problem auf: Wenn sich der Verhörte selbst nicht als Terrorist sieht, wie soll man dann wissen, ob er lügt oder nicht? Mit anderen Worten: Welches ist sein Referenzsystem? Und welches Referenzsystem müsste folglich das des Verhörenden sein?
Die hohe Qualität der Bilder, die wir vom arbeitenden Gehirn erhalten, könnte zu der Annahme verleiten, sein Funktionieren sei leicht zu verstehen. Das ist wahrlich nicht der Fall, auch wenn die Medien diese Illusion gern vermitteln. Denn es ist zwar richtig, dass einer der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Verhaltens im Gehirn liegt, doch ebenso grundlegend ist die Interaktion mit dem politischen, historischen, physischen und gesellschaftlichen Umfeld. Deshalb lässt sich auch eine solche Studie nicht ohne weiteres verallgemeinern und auf lebenspraktische Situationen anwenden, schon gar nicht im Rahmen der Terrorbekämpfung. Gleichwohl sind seit 2001 in zahlreichen international angesehenen Wissenschaftsjournalen nicht weniger als fünfzehn Artikel erschienen, die über ähnliche Versuche der Lügendetektion berichten.
Die Möglichkeit, die Gedanken eines Menschen durch Messung der Gehirnaktivität unmittelbar zu entschlüsseln und zu lesen, erinnert momentan noch eher an Science-Fiction-Visionen. Allerdings hat eine amerikanische Firma angekündigt, sie werde schon im ersten Drittel des Jahres 2006 einen Lügendetektionsservice anbieten, den jeder Zahlungswillige in Anspruch nehmen kann. Der Service basiert auf den zitierten Forschungen, mit von der Partie sind Forscher der Medical University of South Carolina.
Ein orientalisches Sprichwort sagt, Wissen vertreibe die Unwissenheit, aber nicht die irregeleiteten Gedanken. In der Wissenschaftsgeschichte gibt es unzählige Fälle von Missbrauch angeblicher oder wirklicher Entdeckungen und Techniken. Die Neurowissenschaften scheinen da leider keine Ausnahme zu sein. So verkündet ein kürzlich im höchst seriösen British Journal of Psychiatry6 erschienener Bericht, es gebe einen physischen Unterschied zwischen dem Gehirn von notorischen Lügnern und dem „normaler“ Menschen.
Werden solche Studien kombiniert mit anderweitig erzielten Erkenntnissen über die Gehirnaktivitäten beim Lügen, steht leider zu befürchten, dass sie gewollt oder ungewollt dafür herhalten müssen, Menschen in Kategorien einzuteilen oder zu diskriminieren. Jedes Verfahren, das „Lügner“ mit Hilfe der Neurowissenschaften identifizieren soll, ganz gleich ob bei der Terrorbekämpfung, vor Gericht oder gar bei Bewerbungen, wird künftig legitime ethische Zweifel aufwerfen.7
In den Vereinigten Staaten, wo die Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Forschung immer mehr verschwimmt, sieht auch das National Institute for Health die Notwendigkeit, Kriterien zu definieren. Es finanziert bereits Studien, in denen Regelkataloge ausgearbeitet werden sollen, die festlegen, was bei der praktischen Anwendung der fMRI im medizinischen, industriellen und strafrechtlichen Bereich erlaubt sein soll und was nicht.8
Unstrittig ist gleichwohl: Man kann die Neurobildgebung nicht schlichtweg verdammen, weil sie zu missbräuchlicher Anwendung verleiten könnte. Im Gegenteil: Techniken wie die fMRI haben in den vergangenen zehn Jahren beträchtliche Fortschritte in Diagnose, Prävention und Behandlung vieler Erkrankungen erzielt, vom Schädeltrauma bis zur Parkinson’schen Krankheit.
Im Endeffekt wird alles davon abhängen, ob das, was man füglich als „Neuroethik“ bezeichnen kann, als Richtlinie respektiert wird, damit vierhundert Jahre nach dem berühmten Diktum von François Rabelais, wonach Wissen ohne Gewissen nichts als der Seele Ruin sei,9 unser Wissen über das Gehirn nicht gewissenlos angewandt wird.