Die Löhne bleiben unten, immer
Wal-Mart und seine Sweatshops in Swasiland und anderswo von Jean-Christophe Servant
Jane Doe II ist ein Pseudonym. Seit September 2003 arbeitet die Näherin aus Shenzen in einem von 4 800 chinesischen Betrieben (mit insgesamt 130 000 Beschäftigten), die Konfektionsartikel für Wal-Mart herstellen. Bis zu 20 Stunden am Tag näht sie Stangenware für den US-Konzern – natürlich ohne Überstundenzuschlag. Ihr Stundenlohn liegt bei umgerechnet 0,13 Euro, das heißt weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 0,25 Euro. Und weil der Betrieb sich auch die Schutzkleidung gegen Baumwoll- und Wollstaub spart, leidet Jane Doe II unter Atembeschwerden und Juckreiz.
Dennoch bleibt ihr keine andere Wahl. Entweder sie akzeptiert diese Arbeitsbedingungen, oder „sie verliert ihre Beschäftigung und kommt auf die in der Bekleidungsindustrie von Shenzen übliche schwarze Liste“, erklärt ein Vertreter des International Labor Rights Fund (IRLF). Im Namen von Jane Doe II und 14 weiteren Frauen, die in Asien, Afrika, Lateinamerika und den USA für Zulieferbetriebe von Wal-Mart nähen, verklagte die US-amerikanische Stiftung den Konzern am 14. September 2004 wegen unsozialer Praktiken.
Wal-Mart, so der IRLF, habe seine Zulieferbetriebe ermächtigt, „alle Versuche, Gewerkschaften zu gründen, zu hintertreiben“1 . Darüber hinaus habe der Einzelhandelskonzern „die amerikanische Öffentlichkeit durch irreführende Erklärungen über die arbeitsrechtlichen Praktiken des Unternehmens getäuscht“. Was der Firma zur Last gelegt wird, verstößt in der Tat gegen die 1992 vertraglich eingegangene Verpflichtung des Konzerns, „zu kontrollieren, ob in den Fabriken seiner Zulieferer der firmeneigene Verhaltenskodex auch eingehalten wird“.
Seit 2001 hat der US-Konzern die Abwanderung seiner Zulieferfirmen nach China mit Wohlwollen verfolgt, wenn nicht provoziert. Die Strategie der Standortverlagerung beschreibt das Onlinemagazin Fast Company wie folgt: „Wal-Mart hat die Macht, die Gewinnmargen seiner Zulieferer weitgehend zu reduzieren. Um zu überleben, müssen die Unternehmen, die von Unterwäsche über Bluejeans bis hin zu Fahrrädern alles produzieren, was sich verkaufen lässt, ihre Beschäftigten entlassen, ihre Betriebe in den USA schließen und Aufträge an überseeische Subunternehmen vergeben.“2 Über die Hälfte der US-Importe von Nichtlebensmitteln stammt heute aus China, wo der Konzern rund hundert Supermärkte und seine weltweit größte Einkaufszentrale unterhält.
Mit China-Importen in Höhe von 15 Milliarden Dollar – 11 Prozent des amerikanisch-chinesischen Handelsvolumens – ist Wal-Mart der weltgrößte Importeur von Erzeugnissen aus der „Werkstatt der Welt“. Durch knappe Terminvorgaben und niedrige Einkaufspreise, so Fast Company, „zwingt das Unternehmen die chinesischen Zulieferer, den zaghaften sozialen Fortschritt im Land durch lange Überstunden und willkürliche Entlassungen von aufmüpfigen Arbeitern zu unterlaufen“.
Es ist nicht das erste Mal, dass Wal- Mart solcher Praktiken bezichtigt wird. Allein im Jahr 2002, als der Konzern 291 200 Container mit Konsumgütern in die USA einführte, gingen bei der Justiz 6 000 Klagen wegen unsozialer Unternehmenspraktiken ein. Im Gegensatz dazu erstreckt sich die IRLF-Klage auf universelle Dimensionen.3 Die Mitklägerinnen von Jane Doe II sind Frauen aus aller Welt: anonyme Opfer einer Marktpolitik, die „um jeden Preis den Preis drücken“ will. Diese Frauen arbeiten in Mastapha (Swasiland), Sebaco (Nicaragua) oder Dhaka (Bangladesch). Ihre Geschichten zeugen von einer „Walmartisierung der Welt“, die nach Meinung der Gewerkschaft Union Network International Commerce (UNI) für „Sozialdumping und Gewerkschaftsfeindlichkeit“ steht.4
Der globale Wiederverkäufer wird zur Schaltzentrale
Professor Nelson Lichtenstein lehrt an der University of California in Santa Barbara Arbeitergeschichte. Er geht davon aus, dass in jeder Epoche „ein bestimmtes Unternehmen offenbar prototypisch ein Ensemble neuartiger Wirtschaftsstrukturen und Sozialbeziehungen verkörpert. Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete sich die Eisenbahngesellschaft Pennsylvania Railroad (PRR) als Standard Railroad of the World; Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen wurde General Motors zum Symbol bürokratisch perfektionierter Verwaltung und innovativer Serienfertigung. In neuerer Zeit schien Microsoft zum Modell einer postindustriellen Wissensökonomie zu avancieren. Doch seit Beginn des 21. Jahrhunderts verkörpert offenbar Wal-Mart den Typus einer wirtschaftlichen Institution, die die Welt mit einem transnational hoch integrierten Produktions-, Vertriebs- und Beschäftigungssystem verändert.“ Das Neue daran ist für Lichtenstein, „dass der globale Wiederverkäufer zur Schaltzentrale, zum Machtzentrum avanciert, während der Fabrikant sich zum Vasallen degradiert sieht“.
Als der Konzern ins Kreuzfeuer lokaler und internationaler Kritik geriet, startete er 2004 eine groß anlegte Öffentlichkeitskampagne, die nach Auskunft von Unternehmenschef H. Lee Scott jr. eine Antwort sein sollte auf „eine der bestorganisierten, bestdurchdachten und kostspieligsten Kampagnen, die je gegen ein einzelnes Unternehmen initiiert wurde“. In allen die Zulieferer betreffenden Fragen versuchte der Konzern, die Tatsachen zu relativieren, und demonstrierte scheinbar gelassen ein gutes Gewissen. So versicherte Wal-Mart, man unterhalte regelmäßige Kontakte zu mehreren Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Schließung von „Sweatshops und Maquiladores“5 einsetzen. Dennoch bezieht das Unternehmen weiterhin 50 Prozent seiner Auslandswaren aus solchen Ausbeuterfabriken.
Die von Wal-Mart beauftragten Spin-Doctors verwiesen bei ihrer Gegenoffensive auch auf die Rechenoperationen des US-Magazins Fortune: „Wal-Mart beschäftigt direkt 1,4 Millionen Personen, das ist das 56fache der durchschnittlichen Beschäftigtenzahl aller US-amerikanischen Unternehmen. Damit liegt die Wahrscheinlichkeit eines missliebigen Vorfalls bei Wal-Mart um 5 500 Prozent höher als bei der Konkurrenz.“6
Und von Wal-Mart-Chef Lee Scott jr., der 2004 rund 16 000-mal so viel verdiente wie ein Arbeiter in Swasiland, ist der folgende dümmliche Allgemeinplatz überliefert: Solange es Habsucht gibt, wird es immer Menschen geben, die sich gegen das Gesetz vergehen.
Wohl wissend, dass solche Verlautbarungen kaum überzeugen können, verweist Wal-Mart auf seine stolzen Zahlen: Im Jahr 2004 habe man in 7 600 Fabriken insgesamt 12 000 Inspektionen durchgeführt und die geschäftlichen Beziehungen zu 1 500 Fabriken eingestellt. Den Kontakt zu 108 Subunternehmen habe man endgültig abgebrochen, vor allem wegen Verstößen gegen Regelungen, die die Kinderarbeit betreffen.
Aisha Bahadur vom südafrikanischen Civil Society Research and Support Collectif (CSRSC) hat mehrfach die Arbeitsbedingungen in süd- und ostafrikanischen Textilunternehmen untersucht. Bei der Diskussion um die Walmartisierung der Arbeitswelt beziehen sich die Medien selten auf Afrika, obgleich das Unternehmen gerade hier sein Diktat, das die „Löhne, Arbeitsbedingungen, Unternehmenspraktiken und die Preise für Jeansstoffe weltweit beeinflusst“7 , besonders erbarmungslos durchsetzt.
Auch die Freihandelsabkommen, die Washington mit einigen afrikanischen Staaten unterzeichnet hat, wusste der US-Konzern trefflich zu nutzen. Im Januar 2003 klagte die Textilarbeitergewerkschaft von Lesotho (Lecawu) und die Afrikanische Föderation der Textil- und Lederarbeiter (ITGLWF) gegen die Arbeitsbedingungen in 21 Unternehmen, die am Stadtrand von Maseru, der Hauptstadt von Lesotho, für Wal-Mart produzieren. Diese Fälle, die Zulieferer für Marken wie Gap und Hudson Bay betreffen, führen uns vor Augen, dass Wal-Mart einen erheblichen Teil seiner Textilien aus Afrika bezieht.
Die drei Freihandelsabkommen, die Washington im Rahmen des African Growth and Opportunity Act (Agoa) seit 2000 abgeschlossen hat, beziehen sich vor allem auf den östlichen Teil des Kontinents. Seither haben viele taiwanische Textilunternehmen ihre Fabriken nach Afrika verlagert, um von den günstigeren US-Einfuhrbedingungen zu profitieren. Bis Dezember 2004 arbeiteten diese Betriebe auf Hochtouren für Wal-Mart.
Wie Aisha Bahadur betont, war der Konzern damit einer der „Hauptnutznießer des Agoa und des Multifaserabkommens“. Die neuen Industriegebiete zogen zahlreiche Arbeitskräfte aus dem Umland an, die von den Wal-Mart-Zulieferern extrem ausgebeutet wurden. Nach diversen Skandalen mussten zwar einige Firmen schließen, doch an ihrer Stelle wurden sofort neue gegründet.
Als dann aber Ende 2004 das Textilabkommen zwischen China und der EU ablief, entfiel auch die bis dahin gültige Quotenregelung für Kleiderimporte. Damit endete die kurze Ära der Vollbeschäftigung. Die nach Afrika ausgelagerten Betriebe zogen sich wieder in den südostasiatischen Raum zurück. Rund 60 000 Beschäftigte verloren zwischen Oktober 2004 und Mai 2005 ihren Arbeitsplatz, schätzt Aisha Bahadur. In den verbliebenen Unternehmen seien die afrikanischen Arbeiter stärker als je zuvor von den Entscheidungen abhängig, die in der Wal-Mart-Zentrale getroffen werden.
In der ugandischen Hauptstadt Kampala ist die Konfektionsfirma Apparel TriStar Ltd. ansässig. Sie gehört zu einem Unternehmen aus Sri Lanka, das vom Agoa profitiert hat und auch heute noch für Wal-Mart produziert. Mehrere Beschäftigte von TriStar haben bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Beschwerde eingereicht. Nach Angaben des Internationalen Bunds Freier Gewerkschaften (IBFG) werden bei TriStar „die Rechte der (überwiegend weiblichen) Arbeitnehmer in unglaublichem Ausmaß verletzt“.8
Die Aussagen einiger der rund 2 000 Arbeiterinnen werfen in der Tat ein fragwürdiges Licht auf ein Unternehmen, das die ugandische Regierung als Paradebeispiel für die Entwicklung des Landes darstellt. Eine Arbeiterin erzählt: „Wer auf die Toilette will, muss den Vorarbeiter um Erlaubnis bitten. Ist er einverstanden, bekommt man eine Art ‚Passierschein‘. Da es aber überhaupt nur zwei Toiletten pro Abteilung, also für 70 Personen gibt, muss man meistens warten. Wenn man dann dran ist, muss man sich beeilen, denn man darf höchstens fünf Minuten wegbleiben. Aber die Toiletten sind von den Werkhallen so weit entfernt, dass fast die ganze Zeit dafür draufgeht, erst mal hinzukommen.“
Außerdem gibt es Wachmänner, die jedes Verlassen des Arbeitsplatzes registrieren, indem sie Namen und Kartennummer sowie Beginn und Ende der Abwesenheit aufschreiben. Wer zu lange wegbleibt, erhält eine Abmahnung, die am Ende zur Entlassung führen kann. Der Slogan „Die Preise bleiben unten, immer“ hat in Afrika einen anderen Klang.