12.02.2010

Deutschlands Muslime

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Deutschlands Muslime

Aus Türken wurden Muslime, aus türkischer und arabischer Kultur die islamische. Seit den Terroranschlägen in den USA (2001) und der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh (2004) werden die türkisch- und arabischstämmigen Minderheiten in Deutschland islamisiert. Nicht mehr die nationalen, ethnischen, sozialen, kulturellen und individuellen Identitätsmerkmale beherrschen seitdem die Wahrnehmung. Die Zugewanderten und ihre Nachkommen werden von der Mehrheitsgesellschaft auf ihre religiöse Identität reduziert. Gleichzeitig wurde der Islam in endlos redundanten Debatten des Feuilletons zu einer rückständigen und potenziell gewalttätigen Religion erklärt.

Die Mehrheitsgesellschaft ist längst zum Opfer ihrer religiösen Obsessionen und Identitätskonstruktionen geworden. Sie kann nicht mehr anders und nimmt die Angehörigen der größten religiösen Minderheit vor allem als potenzielle Gefahr wahr. Ängstlich fragt sie sich: Wird Deutschland vom Islam unterwandert? Stellen arabische und türkische Jugendliche die Fundamente unseres Zusammenlebens in Frage?

Diese Angst ist irrational. Der terroristische Dschihadismus ist zwar brandgefährlich, weil er den Tod vieler seiner Gegner ersehnt, aber in Deutschland stößt er nur bei sehr, sehr wenigen Muslimen auf Zustimmung und Unterstützung. Nach Erkenntnissen des Bundesinnenministeriums sind in den vergangenen zehn Jahren rund 140 Islamisten aus Deutschland in Terrorcamps im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet gereist. Es handelt sich dabei um deutsche Konvertiten und Dschihadisten mit türkischem oder arabischem Hintergrund. Etwa 60 bis 80 sind in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Hinzu kommen rund 300 weitere potenziell gefährliche Islamisten. Das gesamte Milieu schätzt das Bundesinnenministerium auf 1 000 Personen.1

Allerdings scheint die Gefahr islamistischer Radikalisierung virulent. „Die Zahl der radikalisierten Muslime wird wachsen, solange sich muslimische Einwanderer hierzulande benachteiligt fühlen müssen.“2 Dies meint nicht nur der Islamexperte Guido Steinberg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Sollte es diesen Wirkungszusammenhang tatsächlich geben, dann ist die Lage ernst. Denn nur 11 Prozent der Muslime in Deutschland glauben, sie würden von den Deutschen als ihresgleichen betrachtet.3 Und 72 Prozent der Befragten türkischstämmigen Menschen in Deutschland geben an, dass sie bereits wegen ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert wurden. Am häufigsten in den Bereichen, in denen eine starke Konkurrenz herrscht – am Arbeitsplatz und bei der Wohnungs- und Arbeitssuche.4

An diese Erfahrungen knüpfen islamische und islamistische Organisationen an. Gruppen wie die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG) präsentieren sich als Hüter einer angeblich bedrohten muslimischen Identität. Dabei reduziert Milli Görüs die Menschen türkischer Herkunft ebenso auf ihre Religion, wie es die deutsche Mehrheitsgesellschaft tut.

Nach Angaben des Zentrums für Türkeistudien hat die Religiosität unter den in Deutschland lebenden Türken seit 2001 zugenommen. Während sich im Jahr 2000 nur 57 Prozent als religiös beziehungsweise sehr religiös bezeichneten, waren es 2008 72 Prozent, von den unter 30-jährigen Deutschtürken sogar 75 Prozent. Die wachsende Bedeutung des Religiösen sagt allerdings nicht automatisch etwas über den gesellschaftlichen Einfluss des Islam in Deutschland aus. Der bleibt bescheiden, denn der Islam in Deutschland ist im Vergleich zu anderen Glaubensgemeinschaften arm und nur wenig organisiert. Während rund 70 Prozent der deutschen Staatsbürger Mitglied in der katholischen oder der evangelischen Kirche sind, sind deutschlandweit weniger als 20 Prozent der Muslime Mitglied eines Moscheevereins.

In den zurückliegenden Jahren sind neue Formen muslimischer Religiosität entstanden. Der unscheinbare „Gastarbeiterislam“ ist nichts, was Jugendliche begeistern könnte. Der gelebte Islam hat sich modernisiert und in vielfältigen Jugendkulturen entwickelt, die sich ganz bewusst auf die Religion beziehen. Sie bilden einen bunten, kleinen Kosmos voller Widersprüche. Da sind die Jugendlichen, für die der Islam vor allem eine Frage des Lifestyles ist, eine Frage der richtigen Kleidung und Musik, der Freunde und der Ästhetik. Ihnen geht es vor allem um das Recht, ihre Identität frei von Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft zu leben – inklusive der Religion.

Neben diesen Popmuslimen stehen Jugendliche, die sich bewusst vom Volksglauben ihrer Eltern distanzieren. Sie suchen Spiritualität und die in ihren Augen wahren, von Politik und Machtinteressen unverfälschten Wurzeln des Islam. Diese sogenannten Neomuslime erinnern ein wenig an Jesusfreaks und diskussionsfreudige, von ihrer Mission erfüllte evangelische Kirchentagsbesucher. Sie treffen sich in Vereinen, im Netz und auf Events. Diese Gruppen sehen sich als Teil der Gesellschaft und suchen den Dialog. Sie lehnen Gewalt als Mittel der Durchsetzung ihrer Interessen ab. Daneben gibt es eine verschwindend geringe Minderheit von Jugendlichen, die sich in salafistischen Gruppen zu Hause fühlen, die Demokratie und individuelle Freiheitsrechte ablehnen und einen Gottesstaat à la Saudi-Arabien herbeisehnen.5

Entgegen gängigen Erwartungen ist die hohe Religiosität der Muslime gepaart mit einer sehr pluralistischen und toleranten Einstellung. Darauf weist der „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung hin.6 65 Prozent der Muslime in Deutschland lehnen eine islamische Partei ab, 86 Prozent finden, man sollte gegenüber allen Religionen offen sein. Vor allem für die politische Einstellung ist die Religiosität wenig maßgeblich. Hier sagen nur 16 Prozent, der Glaube habe für sie einen bedeutenden Einfluss.

Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet: Etwa 8 bis 12 Prozent der Muslime in Deutschland weisen laut Bertelsmann-Stiftung eine „demokratiedistante“ Einstellung auf. Und knapp 6 Prozent der Muslime akzeptieren massive Formen politisch-religiös motivierter Gewalt.

Schockieren können die Zahlen allerdings nur den, der die Verhältnisse in der Mehrheitsgesellschaft nicht kennt. Bis zu 13 Prozent der Deutschen haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Tatsächlich kommt die Studie „Muslime in Deutschland“ zu dem Ergebnis: Es ist kein signifikant höheres Maß an Autoritarismus und Demokratiedistanz junger Muslime im Vergleich zu einheimischen Nichtmuslimen nachzuweisen, es handelt sich also nicht um ein spezifisch muslimisches Problem.7

Einen Unterschied gibt es bei muslimischen und nichtmuslimischen Jugendlichen in der Zielrichtung der religiösen Intoleranz. 15 Prozent der nichtmuslimischen Studenten stimmten der Aussage zu, „Muslime sind intolerant und gewalttätig“. Der Aussage „Menschen jüdischen Glaubens sind überheblich und geldgierig“ stimmten 5,4 der nichtmuslimischen und 9,4 der muslimischen Studenten zu.

Das Fazit der Autoren der Studie „Islam in Deutschland“: Betrachtet man die verschiedenen Zielrichtungen der Vorurteile als vergleichbare Formen religiöser Intoleranz, dann zeigt sich, dass Unterschiede im Ausmaß religiöser Intoleranz zwischen jugendlichen Muslimen und einheimischen Nichtmuslimen nicht mehr nachweisbar sind.

Je mehr empirische Forschungsergebnisse zu den religiösen und gesellschaftspolitischen Einstellungen der muslimischen Minderheit in Deutschland vorliegen, umso offensichtlicher wird: Eine islamistische Radikalisierung vor allem von türkischen und arabischen Jugendlichen hat seit 2001 nicht stattgefunden, der Einfluss religiöser Traditionen auf die Lebenswelten der Muslime wird überschätzt. Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit und Religion mögen zwar die Alltagskultur beeinflussen, sind aber auf Dauer nicht identitätsstiftend.8

Eberhard Seidel

Fußnoten: 1 Es werden Anschläge durch deutsche Dschihadisten befürchtet. Vgl. „Die Drohungen machen uns Sorgen“, Interview mit August Hanning, Bundesinnenministerium, Der Tagesspiegel vom 27. März 2009. 2 taz vom 20. Oktober 2009, S. 3. 3 Open Society Institute, „Muslims in Europe: A Report on 11 EU Cities“, London 2009. 4 Zentrum für Türkeistudien, „Türkeistämmige Migranten in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland: Lebenssituation und Integrationsstand“, Essen 2009. 5 Vgl. Jochen Müller, Görtz Nordbruch und Berke Tataroglu, „Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus. Lifestyle, Medien, Musik“, Berlin 2008. 6 Bertelsmann-Stiftung (Hg.), „Religionsmonitor 2008 – Muslimische Religiosität in Deutschland“, Gütersloh 2008. 7 Bundesministerium des Inneren (Hg.), „Muslime in Deutschland“, Hamburg 2007. 8 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie von Sinus Sosiovision „Lebenswelten von Migrantinnnen und Migranten“ findet sich in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5/2009, Bonn 2009.

Eberhard Seidel ist Journalist und lebt in Berlin.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.02.2010, von Eberhard Seidel