Die falsche Angst
Die Islamisierung Europas findet nicht statt von Patrick Haenni und Samir Amghar
Ist der Islam seinem Wesen nach expansionistisch? Im westlichen Europa stellt man sich diese Frage voller Unruhe. Und die Initiatoren der Volksabstimmung gegen den Neubau von Minaretten in der Schweiz beriefen sich dabei auf neuere islamkritische Publikationen1 , die belegen würden, dass der Expansionismus ein konstituierendes Merkmal der „islamischen Ideologie“ sei. Deren Vertreter – die sogenannten Islamisten – verfolgten den Plan, sich über Bevölkerungswachstum und Bekehrung die politische Vorherrschaft zu sichern.2 Als der islamische Rechtsgelehrte Yusuf al-Qaradawi in seiner beliebten allwöchentlichen Fernsehsendung „al-Scharia wal-Hayat“ (Das islamische Gesetz und das Leben) am 6. Dezember 2009 auf al-Dschasira das Schweizer Votum kommentierte und hernach erklärte, der Islam werde seinen Siegeszug fortsetzen, bis alle Menschen unter dem Wort Gottes vereint seien, schien dieser gemäßigte Sunnit, der in der islamischen Welt als moralische Instanz gilt, die Furcht der Schweizer vor dem Minarett vordergründig sogar zu bestätigen.
Natürlich haben religionskritische Fragen ihre Berechtigung – schließlich betrachtet sich der Islam, wie das Christentum auch, als Heilsbringer für die Menschheit und Bote der göttlichen Offenbarung. Aber man muss sich dennoch fragen, was eigentlich Expansionismus im Zusammenhang mit einer Religion bedeutet. Die Sozialwissenschaften verstehen darunter politisches, propagandistisches oder militantes Eiferertum, die Ausbreitung einer Religion durch Bekehrung oder Rückbesinnung auf den Glauben und Bevölkerungswachstum.
In Westeuropa gehören die Muslimbruderschaft und die türkische Vereinigung Milli Görüs3 zu den Vertretern eines politischen Islam. Sie wollen einen islamischen Staat errichten und berufen sich dabei nicht nur auf universalistische Vorstellungen (der Islam als Religion für alle Menschen), sondern beanspruchen auch politische Vorherrschaft – so heißt es bei Hassan al-Banna, der 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft mitbegründete, sie wollten „die Welt führen“. Doch das war nicht der Grund, warum seit den 1950er-Jahren viele Muslimbrüder in Europa Zuflucht suchten. Hier bot sich ihnen vielmehr eine rückwärtige Basis an, ein Refugium im Rahmen der Kämpfe, die sie damals in Nordafrika und im Nahen Osten ausfochten. Dass sich Muslime auf Dauer in Westeuropa niederlassen würden, war für die Muslimbrüder selbst eine überraschende und im weiteren Verlauf nicht unproblematische Entwicklung.
Weil die Vertreter des politischen Islam in Europa eine Minderheit bilden, beschäftigt sie ein strategisches Problem: Soll man den Leuten predigen oder sich auf Lobbyarbeit konzentrieren? Auf dem Feld der Mission geben längst die Salafisten und die sunnitisch-orthodoxe Tablighi al-Dschamaat (Gemeinschaft zur Verkündigung und Mission) den Ton an4 – Gruppierungen, die der Politologe Olivier Roy als „Neofundamentalisten“5 bezeichnet.
Lobbyismus zahlt sich nur aus, wenn es bereits eine größere Schar von Anhängern gibt, die bereit sind, sich auch kommunalpolitisch zu engagieren. Letzteres wird von Kritikern in doppelter Hinsicht als Nachteil begriffen, erstens weil der Einfluss keine große Reichweite habe, und zweitens schüre es den Verdacht, dass man sich nur auf faule Kompromisse mit den politischen Entscheidungsträgern einlassen würde.
Die Geschichte der Muslimbrüder hat es vorgeführt: Beim Marsch durch die Institutionen ging der revolutionäre Schwung verloren. Große Vorhaben, wie die Lösung der Palästinafrage, wurden aufgegeben, und bei heiklen Themen, wie dem Kopftuchverbot in Frankreich, verweigerte man sich dem Aufruf zu Massenprotesten. Viele junge Muslime kritisieren die Muslimbrüder nicht nur dafür, sie wenden sich auch ab, weil sie ihnen „Verbürgerlichung“ und die Anpassung ans politische Establishment vorwerfen. Sogar der Schweizer „Euroislamist“ Tariq Ramadan, der Enkel von Hassan al-Banna, verlor einige Anhänger, als er sich 2005 an einer „Muslim Task Force“ beteiligte, die im Auftrag der britischen Regierung unter Tony Blair Vorschläge unterbreiten sollte, wie man religiös motiviertem Extremismus nachhaltig entgegenwirken könnte.
Dass sich die Verfechter eines politischen Islam so schwertun, im Westen eine überzeugende Strategie zu entwickeln, nützt wiederum den Neofundamentalisten, die das klassische politische Engagement rundheraus ablehnen. Unter ihren zahlreichen verschiedenen Gruppierungen gilt der wahhabitische „wissenschaftliche“ Salafismus (salafiya ilmiya) als einflussreichste Strömung, die ihren Ursprung in Saudi-Arabien hat. In dieser streng traditionellen und dogmatischen Auffassung des Islam spielt, bei aller Radikalität, der Heilige Krieg keine Rolle. Ihre Anhänger gewinnen die Salafisten zunehmend unter Muslimen, die sich vom politischen Islam oder von den in Westeuropa seit langem aktiven anderen neofundamentalistischen Bewegungen wie zum Beispiel der Tablighi enttäuscht abgewendet haben. Aber der wahhabitische Salafismus liefert keine neue Variante des alten Programms zur Durchsetzung politischer Hegemonie; er fordert im Gegenteil eine Entpolitisierung des Islam und von seinen Anhängern religiöse Einkehr und Abkehr von den westlichen Gesellschaften. An die Stelle der kulturellen (tunesischen, marokkanischen und so weiter) soll die Gemeinschaft der Gläubigen treten. Damit verhält sich der Salafismus wie eine Sekte, deren Vertreter sich nicht zum Kopftuchverbot äußern, keine Unterstützung organisieren, wenn einer ihrer Imame ausgewiesen wird, und auch nicht an den Solidaritätskundgebungen für die Palästinenser teilnehmen.
Vor allem Jugendliche, die den Islam neu entdeckt haben – die sogenannten Erretteten (firqa nayiya) –, folgen dem Ruf der Salafisten. Doch Familien und Imame, die sich ihm nicht anschließen wollen, werden hart angegangen. Auf diese Weise isolieren sich die Salafisten vom Rest der muslimischen Welt und finden neue Anhänger eher unter jungen Außenseitern. Wo starke soziale Bindungen noch Bestand haben, wie bei den Türken oder Komoren, haben sie kaum eine Chance.
Proklamiertes Ziel der Salafisten ist nicht die Eroberung des Westens oder die Errichtung islamischer Ghettos, sondern die Hidschra, die Flucht, der Exodus in islamische Länder – oder in Staaten wie Kanada und Großbritannien, die als toleranter gelten. Die jungen Menschen, die sich dieser Minderheit anschließen, geraten damit in die gleiche Lage wie einst ihre Eltern: Ihre abwartende Haltung macht sie unbeweglich und verhindert jede mögliche Einlassung auf das Leben in den westlichen Gesellschaften. Sehnte sich die Elterngeneration zeitlebens danach, irgendwann in ihr Herkunftsland zurückzukehren, so sind diese Kinder heute von dem Wunsch beseelt, endlich das Land ihrer Geburt verlassen zu können.
Von einem neuen „islamistischen Eroberungsfeldzug“ kann also keine Rede sein. Der Minderheitenstatus blockiert etwaige politische Pläne, die missionarischen Bewegungen haben eher Sektencharakter und die Aktivisten des bewaffneten Dschihad bilden ebenfalls nur eine Randgruppe: In Europa bedeutet Dschihadismus weniger die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln als die Bereitschaft, sich zu opfern. Militante Gruppen wie al-Qaida oder die Bewegung von Metin Kaplan6 sind ebenso Sektierer wie die Salafisten, die dem Kampf abgeschworen haben. Die Dschihadisten erklären alle Gegner als ungläubig (taqfir), und dieses Verdikt trifft nicht nur Juden und Christen, sondern auch vermeintlich abtrünnige Muslime und die Muslimbruderschaft. Auch die Dschihadisten wollen keine ghettoisierte Gegenkultur im Westen etablieren. Im Gegenteil: Sie lehnen das Gemeindeleben und muslimische Wohnviertel radikal ab. Und die Institution der Moschee wird verdammt, weil man sich hier kompromisslerisch an die Aufnahmegesellschaft anbiedere und sie zudem zu einfach vom Geheimdienst überwacht werden könne. Die Dschihadisten rekrutieren neue Anhänger lieber anderswo: in Internetcafés, Sportvereinen und, wenn es sich ergibt, auch im Gefängnis.
Da sich ihr Bannfluch fast gegen alles und jeden richtet, finden die neuen Dschihadisten auch keine Völker mehr, die es zu befreien gilt. Es fehlt an konkreten Zielen: Gebiete oder Staaten, für die man sich einsetzen, politische Kräfteverhältnisse, die man aufbrechen, ein Regime, das man stürzen könnte. Es geht nur noch um den bewaffneten Kampf und seine mediale Wirkung sowie um die Zerstörung von Symbolen des Imperialismus – also der USA und ihrer Verbündeten.
Wenn die Eroberung Europas nicht das Ziel der militanten Islamisten ist, stellt sich die Frage, ob es nicht subtilere Strategien der Expansion gibt: Zum Beispiel durch eine Erneuerung des Glaubens, der das politische Gleichgewicht in den europäischen Gesellschaften ins Wanken bringen oder in ihnen wenigstens islamische Refugien errichten könnte. Dass der Islam im Westen mehr auffällt, heißt noch lange nicht, dass es mehr fromme Muslime gibt. In Frankreich zum Beispiel ist die Zahl der praktizierenden Gläubigen seit rund zwanzig Jahren unverändert beziehungsweise sogar leicht rückläufig.7
Es sind vor allem zwei Tendenzen, die in Westeuropa die jüngste Rückbesinnung auf den Glauben prägen: Zum einen könnte man von einer Art islamischem Lifestyle8 sprechen; diese Religiosität schert sich nicht um die politischen Obsessionen der Islamisten, sondern zielt auf eine kulturelle Normalisierung ab: Islamische Streetwear – wie die Kombination aus engen Jeans, Sneakers und modischen Kopftüchern –, Popmusik halal oder Cola der Marke Muslim Up – all das zeigt, dass der Islam massenkulturell kompatibel ist. Es geht hier weniger um traditionelle Fragen der Religion als um Zeichen kultureller Eigenständigkeit in der vom Westen dominierten Globalisierung (siehe Artikel unten). Die zweite Tendenz bestimmen die Neofundamentalisten, die sich von der westlichen Ordnung der Dinge ganz abgewendet haben und darauf warten, auszuwandern.
Der Übertritt zur anderen Religion findet natürlich auch statt: Nach Angaben des französischen Innenministeriums treten jährlich etwa 800 Muslime zum Christentum über, während rund 4 000 Franzosen zum Islam konvertieren.9 Dabei legen gerade Konvertiten und Neubekehrte viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild: Die Männer tragen Vollbart und Qamis (ein längeres Hemd mit Stehkragen), die Frauen einen Tschador. Aber auch das sind eher individuelle Entscheidungen. Es gibt kaum Druck von Organisationen. Die neue Religiosität ist also zugleich öffentlich sichtbarer und weniger politisch. In einem Land mit einer starken laizistischen Tradition wie Frankreich werden solche Kleiderordnungen zwar abgelehnt (nach dem Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen, das 2004 in Kraft trat10 , fordern französische Abgeordnete jetzt auch ein grundsätzliches Verbot der Burka), aber eine Bedrohung für die Sicherheit der Gesellschaft stellen sie nicht dar. Gefährdet sind da am ehesten Reformmuslime wie der Imam von Drancy, Hassen Chalghoumi, der sich Ende Januar für das Burkaverbot aussprach und daraufhin von Fanatikern in seiner Moschee angegriffen wurde.
Auch die Behauptung, ganze Ghettos würden sich unter dem Einfluss von Islamisten komplett vom Rest der Gesellschaft abschotten, entspricht nicht der Wirklichkeit. In manchen Vierteln mag die muslimische Bevölkerung einen so hohen Anteil stellen, dass sie unter Umständen eine soziale Kontrolle ausüben kann. Aber das ist nicht das Ergebnis einer politischen Strategie, die auf die Stärkung der islamischen Community abzielt. Es ist vielmehr die Folge von komplexen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen und gezielten staatlichen Maßnahmen, nicht nur in Ländern wie Großbritannien und den Niederlanden, in denen kommunitaristische Sonderrechte für Religionsgemeinschaften gelten. Auch im egalitär-laizistischen Frankreich wird der „muslimische Wähler“ umworben, Sozialwohnungen werden nach ethnischen Kriterien vergeben, und die Behörden sind auf der Suche nach muslimischen Mediatoren, um in den Vorstädten an Einfluss zu gewinnen und Islamisten unter Kontrolle zu bekommen. So wurde auf staatliche Initiative hin 2003 der französische Zentralrat der Muslime (CFCM) gegründet, der bisher vornehmlich damit beschäftigt war, bei der Umsetzung des Kopftuchverbots zu helfen.
Die Muslimbruderschaft, deren Anhänger vorwiegend aus der Mittelschicht kommen, konnte in den Vorstädten bislang kaum Erfolge verbuchen. So war zum Beispiel die Anti-Gewalt-Fatwa, die die Union der Islamischen Organisationen in Frankreich (UOIF) während der Unruhen von 2005 ausrief, praktisch wirkungslos. Auch die Salafisten haben in den Banlieues wenig zu sagen. Ihr Einfluss ist begrenzt, und es fehlt ihnen jede Erfahrung im Umgang mit sozialen Bewegungen – eine Führungsrolle könnten sie hier nicht übernehmen.
In den überwiegend muslimisch geprägten Vierteln zeichnen sich derweil deutlich neue Trends ab – bemerkenswert ist vor allem, wie wichtig den jungen Leuten individualistische Werte sind. Es gibt immer mehr Mischehen11 , gerade auch mit Frauen aus Migrantenfamilien. Die traditionelle väterliche Autorität schwindet, die Zahl der konfessionellen Bildungseinrichtungen geht drastisch zurück, das Gemeindeleben schwächelt. Und islamische Listen, die bei den Kommunalwahlen antraten, mussten herbe Verluste hinnehmen.
Die Fraktion, die für die gesellschaftliche Anerkennung des Islam kämpft, setzt daher auch auf die Parole „Nur noch Politik“, wie es einmal Yamin Makri formulierte, der früher die Union junger Muslime in Frankreich anführte. Manche Muslimbrüder engagieren sich ganz bewusst in den klassischen Parteien, vom rechten bis zum linken Spektrum, und trennen klar zwischen der Da’awa (Bekehrungsmission) und der Tagespolitik. Doch während sie in den 1990er-Jahren noch die muslimische Szene dominierten, wird die Forderung nach gleichen Rechten und Chancen heute auch durch explizit nichtreligiöse Organisationen vertreten, wie die antirassistische Bewegung der Indigenen der Republik (Mouvement des Indigènes de la République, MIR), die im Kontext der Pariser Unruhen vom November 2005 entstand.
All diese verschiedenen Wege der Trennung von Politik und Religion verweisen darauf, dass der Islam schon lange nicht mehr als Welteroberungsreligion angesehen wird. Vereinzelte expansionistische Anwandlungen sind durch den gesellschaftlichen Wandel ohnehin zum Scheitern verurteilt.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
Patrick Haenni leitet die Forschungsabteilung der Fondation Religioscope; von ihm erschien zuletzt (als Hg. mit Stéphane Lathion), „Les minarets de la discorde. Eclairage sur un débat suisse et européen“, Paris (Infolio) 2009. Samir Amghar ist Doktorand der Soziologie an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS), Paris.