Kurz vor Hinterindien
von Subir Bhaumik
Was Indiens Innenminister P. Chidambaram über den äußersten Nordosten seines Landes sagt, klingt verhalten optimistisch: „In dieser Grenzregion stößt unser Nation-Building-Prozess seit der Unabhängigkeit immer wieder auf den Widerstand bewaffneter Rebellenbewegungen. Doch neuerdings gibt es eine Aussicht auf Frieden.“
Damit unterscheidet sich die Situation im Nordosten erheblich von der im äußersten Westen. Hier sehen die Inder ihren Nachbarn Pakistan am Werk, der immer noch militante islamische Gruppen in dem umstrittenen Gebiet von Jammu und Kaschmir unterstützt (und womöglich auch indische Muslime in anderen Regionen). Im Nordosten dagegen, sagt Nirupama Rao, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, haben die Nachbarstaaten Bangladesch, Bhutan und Birma begonnen, die indische Regierung in ihrem Kampf gegen die separatistischen Gruppen zu unterstützen.
Indien hat inzwischen Vereinbarungen über die Bekämpfung von grenzüberschreitenden Aufstandsbewegungen mit Bhutan und Birma abgeschlossen. Seit kurzem gibt es auch ein Abkommen mit Bangladesch, das Premierministerin Sheikh Hasina im Januar 2010 bei ihrem Besuch in Delhi unterzeichnet hat. Bereits Ende 2009 gab es eine massive Operation des indischen Militärs gegen separatistische Rebellengruppen aus dem Nordosten, die seit fast zwanzig Jahren immer wieder Zuflucht in Bangladesch fanden und auch vom Militärgeheimdienst in Dhaka unterstützt wurden.
Die größten Verluste erlitt im Gefolge der indischen Operation die United Liberation Front of Assam (Ulfa), eine der stärksten Rebellenarmeen in der Grenzregion. Fast die gesamte Führung um den „Vorsitzenden“ Arabinda Rajkhowa wurde auf bangladeschischem Territorium festgenommen und an die Inder ausgeliefert. Genauso erging es mehr als hundert Guerillakämpfern anderer aufständischer Gruppen, weitere 300 flohen aus ihren Lagern über die Grenze und stellten sich den indischen Behörden. Die Regierung in Dhaka ließ fast 40 Konten einfrieren, auf denen die Rebellenführer eine Gesamtsumme von nahezu 4 Milliarden Taka (etwa 465 000 Euro) deponiert hatten.
„Dhaka hat diesen Rebellengruppen einen harten Schlag versetzt; speziell die Ulfa ist damit ausgeknockt“, behauptet der indische Verteidigungsexperte Gaganjit Singh, ein ehemaliger Generalmajor. Nach der Schützenhilfe durch Bhutan und Bangladesch hat sich auch Birma zu einer begrenzten Aktion durchgerungen. Die Rebellen werden also bald nirgends mehr Zuflucht finden.
Ohne die Unterstützung von jenseits der Grenzen hätten die Rebellenarmeen im Nordosten Indiens weder die Schläge der mächtigen indischen Militärmaschine noch die Machenschaften der Politiker überstehen können, denen es mit diversen Versprechen oft gelang, die Separatisten zu spalten. Und seit die Aufständischen jetzt immer weniger Hilfe aus dem Ausland bekommen, hoffen die Inder aus ihrem Nordosten eine echte „Wachstumsregion“ machen zu können – und das ebenfalls mit Hilfe ihrer Nachbarn.
Bijoy Hanique, Minister für die Nordostregion in der Unionsregierung, glaubt, dass bedeutende in- und ausländische Investitionen ins Land fließen werden, wenn erst einmal der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen ist. Und der Ökonom Jayant Madhab, der selbst aus Assam stammt und früher bei der Asiatischen Entwicklungsbank gearbeitet hat, gibt ihm recht: „Die Investoren sind aus Angst vor den Rebellen weggeblieben. Deshalb stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung, was wiederum zu mehr Unzufriedenheit und verstärkten Aktivitäten der Rebellen geführt hat. Das ändert sich jetzt hoffentlich.“
Das mag sein, aber es wird nicht so schnell gehen, wie Madhab und viele andere im Nordosten Indiens es sich wünschen. Zwar gestattet Bangladesch den Indern die Nutzung der beiden großen Häfen Chittagong und Mongla als Umschlagplatz für Güter, die vom indischen Subkontinent in die Nordostregion gelangen sollen. Und in Birma dürfen sie den Hafen Sittwe nutzen, von wo aus der indische Nordosten über den Kaladan-Fluss zu erreichen ist. Aber beide Länder haben kein Geld und erwarten, dass Indien für die zur Bewältigung des zusätzlichen Güteraufkommens nötigen Investitionen in den Ausbau ihrer Häfen, ergänzenden Eisenbahnlinien, Straßen und Wasserwege aufkommt.
Gemeinsam mit China unterstützt Birma noch ein wichtiges Verkehrsprojekt: Den Ausbau der fast 1 800 Kilometer langen Stillwell Road, die während des Zweiten Weltkriegs von den Engländern angelegt wurde. Diese Fernstraße durch das nördliche Birma würde die alte Verbindung zwischen Assam und der chinesischen Provinz Yunnan wiederherstellen und den Transportweg nach Westchina beträchtlich abkürzen, erklärt Rajiv Singh von der indischen Handelskammer: „Über diese Straße könnten 20 bis 30 Prozent des indisch-chinesischen Handels abgewickelt werden. Das wird den Nordosten Indiens zu einem bedeutenden Industriestandort und Handelsumschlagplatz machen.“ Noch sind all diese Pläne nur Zukunftsmusik und konkret hat sich bislang wenig getan.
Der Nordosten Indiens zählt 43 Millionen Einwohner und hat eine Fläche von rund 246 000 Quadratkilometern; er besteht aus Ebenen, vor allem entlang des Brahmaputra, und bergigen Regionen. Administrativ ist er in sieben Bundesstaaten aufgeteilt.1 Die einzige territoriale Verbindung mit dem restlichen Indien ist der „Chicken Neck“, der an der engsten Stelle nur 22 Kilometer breit ist. Zu 98 Prozent grenzt also der Nordosten nicht an andere indische Bundesstaaten, sondern an die Nachbarländer China, Birma, Bangladesch, Bhutan und Nepal.
Noch ist das mongolische Erbe stärker
Die meisten Völker der nordöstlichen Bundesstaaten haben mongolische Vorfahren, die einst aus Südostasien oder Südwestchina zugewandert sind. Diese ethnische Zusammensetzung macht den Nordosten in den Worten des Ethnografen Peter Kunstader zu einer Region, die „immer weniger an Indien erinnert und immer mehr an das angrenzende Hochland von Südostasien.“
Die Bevölkerung empfindet nicht nur eine kulturelle Fremdheit gegenüber dem restlichen Indien und lehnt das postkoloniale Nation-Building-Programm ab, auf das sich Minister Chidambaram in Delhi so stolz beruft. Viele Gruppen bestehen auch auf dem Recht auf Selbstbestimmung und fordern territoriale Souveränität. Um diese Ziele zu erreichen, haben militante Rebellenorganisationen schon häufig länger andauernde bewaffnete Aufstände angezettelt und Terrorakte verübt. Sie gingen sogar so weit, an belebten Plätzen Bomben hochgehen zu lassen.
Sehr oft allerdings bekämpfen diese disparaten ethnischen Gruppen ihre lokalen Rivalen noch erbitterter als die indische Herrschaft. Zwischen vielen dieser Ethnien gibt es tiefsitzende Ressentiments, und häufig kommt es vor, dass sie dasselbe Territorium exklusiv für die eigene Community beanspuchen. Diese Konflikte haben mindestens ebenso viele Opfer gefordert wie die Aufstandsbewegung gegen die indischen Autoritäten. Verstärkt werden diese Spannungen noch durch illegale Einwanderung aus Nachbarländern wie Bangladesch und Nepal, aber auch aus anderen indischen Bundesstaaten. Damit verschieben sich nicht nur die demografischen Gewichte, sondern die einzelnen Ethnien rücken auch dichter zusammen.
Die indische Zentralregierung hat sich angewöhnt, die ethnischen Auseinandersetzungen nach dem Teile-und-herrsche-Prinzip auszunutzen, statt als Vermittler einzugreifen, um den Streit beizulegen. In der Tat kann man sagen, dass die Differenzen zwischen den zerstrittenen Volksgruppen der Region es den Indern leichter gemacht haben, das „Problem des Nordostens“ unter Kontrolle zu halten. „Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum die separatistischen Aktivitäten im Nordosten keinerlei Erfolgschancen haben“, meint der Politikwissenschaftler Sabyasachi Basu Ray Choudhury. Diese Wunde wird vielleicht nicht so schnell verheilen, aber eine staatliche Abspaltung wird es hier nie geben, wie etwa im Fall Bangladesch, das sich von Pakistan losgesagt hat, oder Osttimor, das heute unabhängig ist von Indonesien.“
Die Nordostregion ist reich an Rohstoffen wie Öl und Erdgas, aber auch an pflanzlichen Produkten wie Tee und Kautschuk, Heilpflanzen und Früchten. Im Bundesstaat Meghalaya hat man riesige Uranvorkommen entdeckt, die von enormer Bedeutung für das indische Atomprogramm sind. Die Regierung in Delhi plant riesige Staudämme, vor allem in dem dünn besiedelten Bundesstaat Arunachal Pradesh im äußersten Nordosten. Damit will man das riesige Potenzial an Wasserkraft nutzen, das mit rund 40 000 Megawatt angegeben wird.
Die Region wird damit zu einer Art Kraftwerk für die indische Wirtschaft, die bei ihrem raschen Wachstum einen ständig steigenden Energiebedarf hat. Die Ressourcen des Nordostens wurden bislang nicht ausgebeutet. Die Region war im Gegenteil auf riesige Budgetmittel aus der Bundeskasse angewiesen: Die ineffiziente Bürokratie fraß Zuschüsse und Kredite aus Delhi auf, mit denen eigentlich Entwicklungsprojekte hätten finanziert werden sollen.
Die neue Nachbarschaftspolitik Delhis sorgt zwar dafür, dass die bewaffneten Rebellen keine Hilfe mehr von jenseits der Grenzen beziehen, aber das bedeutet nicht, dass die Aufstandsbewegungen binnen kurzem einschlafen werden. Dazu ist das Misstrauen einfach zu tief verwurzelt. Auf der Liste, die das South Asia Terrorism Portal im Internet2 publiziert, sind für den Nordosten Indiens 115 Rebellengruppen aufgeführt. Davon sind zurzeit noch 104 aktiv. Von denen schätzt Delhi allerdings nur zehn bis zwölf so stark ein, dass die indischen Antiterroreinheiten sie ernsthaft bekämpfen müssen.
Einige dieser Organisationen – wie der National Socialist Council of Nagaland (NSCN) – sind echte Separatisten, die für einen unabhängigen Staat kämpfen; andere wie die Rebellengruppen der Bodo in Assam streben für ihre Volksgruppe nur die Bildung eines eigenen indischen Bundesstaats an. Aber die meisten anderen wollen lediglich in autonomen Stammesgebieten leben. Und während die einen Gruppen ihre Operationen vor allem gegen die indischen Sicherheitskräfte und Politiker richten, befehden sich die anderen in erster Linie gegenseitig.
Inzwischen haben allerdings sieben separatistische Organisationen angekündigt, dass sie sich im Kampf gegen die indische Herrschaft verbünden wollen. Im Januar forderten sie in einer gemeinsamen Erklärung, den Republic Day zu boykottieren – ein Protestakt mit Tradition. Außerdem drohten die Rebellen, die Feiern mit „koordinierten Angriffen“ zu stören. Nachdem am 25. Januar in Manipur und Assam insgesamt drei Bomben hochgegangen waren – es gab 11 Verletzte – , wurden die staatlichen Sicherheitsvorkehrungen massiv verstärkt. Doch am Republic Day selbst, der an das Inkrafttreten von Indiens republikanischer Verfassung am 26. Januar 1950 erinnert, feierten zum Beispiel in Assam viele mit, die sich dem Boykott nicht anschließen wollten. In Manipur hingegen wurden die Geschäfte geschlossen und die Leute blieben zu Hause.
Die sieben Rebellengruppen operieren in Assam, Tripura und Manipur. In diesem Bundesstaat an der Grenze zu Birma soll die Lage am schlimmsten sein.3 Insgesamt verfügen die Gruppen über 7 000 bis 8 000 Kämpfer, die gut ausgebildet und auch stark bewaffnet sind, weil sie sich in Birma zu günstigen Preisen chinesische Waffen und Sprengstoff beschaffen können. „Die Zahl der Aufständischen ist zwar nicht gigantisch“, sagt Brigadegeneral a. D. Basant Ponwar, der früher die Armeeschule für Aufstandsbekämpfung CIJWS (Counter-Insurgency and Jungle Warfare School) leitete, „aber weil die Rebellen einige lokale Unterstützung finden und das Terrain sehr gut kennen, braucht man hier sehr viele Soldaten.“
Alle sieben verbündeten Gruppen weisen inzwischen die indischen Friedensangebote zurück und bestehen auf ihrer Forderung nach Unabhängigkeit. Mindestens zwei von ihnen verlangen von Delhi ein entsprechendes Plebiszit in den Bundesstaaten Assam und Manipur. „Wenn die Leute sich in diesem Plebiszit gegen die Unabhängigkeit aussprechen, werden wir die Waffen niederlegen und unseren langen Kampf einstellen“, erklärte mir vor kurzem Paresh Barua, einer der Anführer der Separatisten von Assam. Allerdings müsse das Plebiszit unter Aufsicht der Vereinten Nationen abgehalten werden.
Für ein ähnliches Plebiszit ist auch Rajkumar Meghen, der Anführer der separatistischen Organisation von Manipur, der United National Liberation Front (UNLF). Er fordert Indien auf, die Operationen gegen die UNLF einzustellen, die schon mindestens drei große militärische Offensiven gegen ihre Stützpunkte an der birmesischen Grenze zurückgeschlagen hat. „Die UNLF ist die einzige separatistische Gruppe, die es geschafft hat, die Kontrolle über einen Großteil des von ihr gehaltenen Territoriums zu bewahren“, räumt ein Offizier des militärischen Geheimdienstes ein. Der Oberst, der anonym bleiben will, findet das beunruhigend.
Noch beunruhigender ist allerdings die Lage der Menschenrechte in Manipur und zum Teil auch in Assam. Der Polizeichef von Manipur hat zugegeben, dass es 2009 in seinem Bundesstaat mindestens 62 umstrittene Todesfälle gab, bei denen gegen die Polizei ein Prozess wegen des Verdachts außergerichtlicher Hinrichtungen angestrengt wurde. Einige der Todesopfer waren ehemalige Kämpfer, die sich ergeben hatten, andere waren Bauern oder arbeitslose Jugendliche, die von den Rebellengruppen als Kuriere oder Informanten benutzt wurden.
Im August 2004 wurden Soldaten der paramilitärischen Assam-Rifles-Einheit in Manipur beschuldigt, ein Mädchen vergewaltigt und getötet zu haben. Es kam zu einer Protestwelle. 14 ältere Frauen zogen sich direkt vor dem Hauptquartier der Assam Rifles im Fort Kangla aus und riefen: „Kommt heraus und vergewaltigt uns!“ Die Menschenrechtsaktivistin Irom Sharmila befindet sich seit dem Jahr 2000 im Hungerstreik. Damit will sie die Aufhebung des Notstandserlasses erzwingen, das den Sicherheitskräften in Manipur praktisch unbegrenzte Macht verleiht, die diese immer wieder missbrauchen.4
Nach dem Tod des Mädchens bestellte die Bundesregierung in Delhi eine fünfköpfige Kommission ein, die unter dem Vorsitz von Richter B. P. Jeevan Reddy, der bis 1997 im Obersten Gerichtshof saß, den Fall neu aufrollen sollte. Sanjoy Hazirka, ein Mitglied der Reddy-Kommission, hat bereits erklärt: „Wir sind einstimmig für die Aufhebung des Notstandserlasses, andernfalls wird sich die Lage der Menschenrechte in Manipur und dem übrigen Nordosten nicht bessern.“
Aber die Regierung hat die Empfehlungen der von ihr selbst eingesetzten Kommission noch nicht umgesetzt. Die Gründe erläutert Nandita Haksar, die bekannteste indische Anwältin für Menschenrechtsfragen, die schon viele Klagen wegen Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung der Nordostgebiete gegen das indische Militär angestrengt hat: „In Delhi haben die Sicherheitskräfte eine starke Lobby, und die Bundesregierung ist nicht gewillt, sich mit diesen Leuten anzulegen, vor allem solange es immer wieder zu Terrorangriffen kommt und die Stimmung im Rest des Landes für eine Politik der starken Hand plädiert.“
Auch in Assam hatte die Bildung einer Kommission, die sich mit „verdeckten Morden“ beschäftigen sollte, keine gerichtliche Verurteilung zur Folge. Polizeiangehörige, denen Auftragsmorde an Familienangehörigen von Ulfa-Mitgliedern vorgeworfen werden – durch ehemalige Rebellen, die den Kampf aufgegeben hatten –, wurden sogar noch befördert. „Diese Kommission zur Untersuchung der außergerichtlichen Hinrichtungen wurde zu einer einzigen Farce“, meint Lachit Bordoloi, der Vorsitzende der in Assam ansässigen Menschenrechtsgruppe MASS (Manab Adhikar Sangram Samity).
Der Regierung in Delhi ist offenbar nicht recht bewusst, dass die rechtswidrigen Übergriffe der indischen Sicherheitskräfte die Öffentlichkeit in den Bundesstaaten des Nordostens dermaßen empören, dass viele allein aus diesem Grund bereit sind, sich den Rebellengruppen anzuschließen. „Wenn sie meine unschuldigen Familienangehörigen umbringen, werde nicht nur ich in den Untergrund gehen, sondern auch meine Brüder und Schwestern“, ließ vor kurzem Mithinga Daimary verlauten, der ehemalige „Sekretär für Öffentlichkeitsarbeit“ der Ulfa, der in Assam im Gefängnis sitzt.
Gegen die Brutalitäten im Nordosten protestieren auch im übrigen Indien viele Bürger, weil sich die Gewalt auf andere Bundesstaaten ausweitet. Aber bei diesen Konflikten geht es um mehr als ethnischen Stolz. Es geht auch um Land: mit einem großen landwirtschaftlichen und Ressourcenpotenzial, das auf bedeutende Öl-, Gas- oder Erzvorkommen hoffen lässt. Das Streben nach politischem Einfluss, ökonomischer Macht oder gesellschaftlichem Ansehen heizt den Konflikt an. Und noch ein Faktor spielt eine immer größere Rolle: Ein Großteil der Gewalt rührt von illegalen Aktivitäten wie Rauschgift- und Waffenhandel über die birmesische Grenze hinweg. Etliche dieser Gruppen haben längst ihre ursprünglich „ethnischen“ Motive vergessen und agieren heute eher nach Mafia-Art.
Aus sittenstrengen Rebellen wurden Drogenhändler
Selbst die älteste ethnische Aufstandsbewegung im Nordosten – die der Naga-Stämme – ist davon infiziert. Beide Fraktionen des National Socialist Council of Nagaland (NSCN) verhandeln seit zwölf Jahren mit der Regierung in Delhi. Dieser mühsame Prozess werde aber vor allem dadurch aufgehalten, dass die NSCN-Führer in illegale Geschäfte wie den Drogenhandel eingestiegen sind, meint Donald Ingti von der Antidrogenpolizei: „Die langjährigen Scharmützel zwischen dem NSCN und den Milizen des Kuki-Stammes haben nicht nur mit territorialen Streitigkeiten zu tun. Es geht auch um die Kontrolle der Drogenhändlerrouten zwischen dem birmesischen ‚Goldenen Dreieck‘ und Indien.“ Einst war die NSCN eine sittenstrenge christliche Rebellengruppe, in der Alkoholismus und Drogensucht strikt geahndet wurden. Doch in den vergangenen Monaten wurden ihre Anführer immer wieder auf frischer Tat ertappt, als sie dabei waren, Heroin und Amphetamine aus Birma einzuschleusen.
Dennoch zeigen die indischen Behörden keine große Lust, stärkeren Druck auf die NSCN-Kämpfer auszuüben, solange diese den mit Delhi unterzeichneten Waffenstillstand einhalten. Delhi hofft, dass dieser den Rebellen letztlich die Existenzgrundlage entziehen wird. Das sei nur eine Frage der Zeit, meint G. K. Pillai, Staatssekretär im Innenministerium: „Wenn wir die stärkste dieser Gruppen, die NSCN, an den Verhandlungstisch zwingen können, werden die anderen folgen.“ Im Gespräch mit dem Autor meinte der Minister weiter: „Wir haben nie viel von Gewalt gehalten, also setzen wir nur in begrenztem Maße auf militärische Aktionen. Wir tun das nur, um die Rebellen an den Verhandlungstisch zu zwingen, so dass über einen Dialog beiderseits akzeptable Lösungen herauskommen können.“
Doch die Regierung setzt bei der Niederschlagung der ethnischen Aufstände nicht mehr nur auf militärische Gewalt oder finanzielle Anreize, Dialogangebote und Teile-und-herrsche-Taktik, sondern neuerdings auch auf eine offensive Diplomatie gegenüber den Nachbarstaaten. Allerdings betont die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Nirupama Rao: „Wir erwarten von unseren östlichen Nachbarn nicht nur eine Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. Wir wollen sie überzeugen, dass die vor der Teilung Indiens bestehenden Verkehrsverbindungen nach Birma, Bangladesch und sogar China wiederhergestellt werden sollten, um den Handel zu erleichtern. Das ist die Hauptstoßrichtung unserer Ostpolitik.“
Unter einem Premierminister, der Ökonom ist und dessen Wahlkreis in der Nordostregion liegt, hat sich der Schwerpunkt der indischen Politik von der Sicherheit auf die Wirtschaftsbeziehungen verlagert. „Der Nordosten wird immer mehr als gemeinsamer transregionaler Wirtschaftsraum betrachtet“, meint Sanjib Barua, Politikwissenschaftler aus Assam. Aber er gibt auch ehrlich zu, dass diese Vision nur Gestalt annehmen kann, wenn in Delhi – und in ganz Indien – ein Umdenken stattfindet: „Indien sollte den Nordosten als einen Teil seiner selbst ansehen – und nicht als ein feindliches Territorium, das nur wegen seiner Bodenschätze wichtig ist, aber nicht wegen der Menschen, die hier leben.“
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Subir Bhaumik ist indischer Journalist und Ostindien-Korrespondent des BBC World Service in Kalkutta. Im Dezember 2009 veröffentlichte er das Buch „Troubled Periphery: Crisis of India’s North East“ (Sage Studies on India’s North East).
© Le Monde diplomatique, Berlin