Die Papua unter indonesischer Herrschaft
Der unbekannte Genozid von Philippe Pataud Célérier
Ob SBY oder ein anderer, ist doch egal. Stand doch längst fest, wie die Wahl ausgeht“, sagt Linus aus Jayapura. „Irgendein General gewinnt am Ende immer. Ein General Peng-peng!“ Am 8. Juni 2009 wurde der Viersternegeneral Susilo Bambang Yudhoyno – kurz SBY genannt – zum zweiten Mal nach 2004 Präsident von Indonesien, dem mit 17 000 Inseln weltweit größten Archipel .
Linus und sein Freund Agus haben ihre Verwaltungsausbildung in der großen Hafenstadt Surabaya auf Java fast abgeschlossen. Seit Januar 2002 wurde ihre Heimatregion Papua zwar zur autonomen Provinz erklärt, doch von Selbstbestimmung kann keine Rede sein: „Statt der Unabhängigkeit haben wir einen Sonderstatus. Und der ist so besonders, dass ihm jeder misstraut“, witzelt Agus. „Ich weiß nur, dass ich endlich einen Job in einem neuen Distrikt im Süden von Papua bekommen werde. Die Unabhängigkeitskämpfer verachten mich deswegen als Handlanger der Indonesier. Und in den Augen unserer javanischen Ausbilder sind wir Affen, die noch auf den Bäumen leben. Aber was soll ich denn machen? Ich muss doch meine Familie ernähren!“ Er bricht ab, als Leute aus dem Hotel kommen. Denn das Thema ist hochbrisant.
Vor einigen Monaten stürmten Papua mit Pfeil und Bogen eine Polizeistation am Stadtrand von Jayapura. Die Polizisten fingen sofort an zu schießen, einer der Angreifer kam ums Leben. Die indonesische Presse wirft den Separatisten vor, dass sie Indonesiens „elektorale Demokratie“ boykottieren. „Was heißt hier frei und demokratisch? Und warum werden in Papua immer noch so viele Leute umgebracht?“, sagt Agus voller Zorn.
Als Präsident Suharto nach dreißig Jahren Diktatur 1998 zum Rücktritt gezwungen wurde, fiel das Reich, das er mit Hilfe der Armee gewaltsam zusammengehalten hatte, auseinander. Von Aceh bis West-Papua griffen Separatisten wieder zu den Waffen, um für ihr Recht auf Selbstbestimmung zu kämpfen. Die mit 40 Prozent größte Gruppe der 240 Millionen Indonesier – 90 Prozent von ihnen sind Muslime – bilden die Javaner, deren Sitten und Gebräuche die Traditionen der zahlreichen anderen ethnischen Gruppen verdrängt haben.
Vergeblich hatte sich die Bevölkerung von West-Neuguinea1 1962 gegen die Annektion durch Indonesien und das manipulierte Referendum2 von 1969 gewehrt, das ihre Heimat zur indonesischen Provinz erklärte. Dass sie heute Autonomiestatus besitzt, hat die Lage nicht verbessert. Die indonesischen Nationalisten sind hingegen der Meinung, dass die Regierung in Jakarta den Separatisten schon viel zu weit entgegen gekommen sei. Aus ihrer Sicht wurden bereits genügend Gesetzesänderungen in die Verfassung aufgenommen, um die auf dem Archipel gestellten Forderungen zu befriedigen, wie die Anerkennung der regionalen Vielfalt, die Einrichtung autonomer Gebiete und eine dezentrale Steuerverwaltung: lauter Reformen, die das Fundament des Staates angreifen würden. Heute müsse es darum gehen, die nationale Einheit Indonesiens wiederherzustellen, statt Autonomiegebiete wie in Papua zu schaffen, die nicht nur hier die Hoffnung auf eine echte Unabhängigkeit nährten, sondern auch in anderen Regionen Separatisten dazu ermuntern könnten, sich zu organisieren.
Der Papua-Rat (Presidium Dewan Papua, PDP), die wichtigste Unabhängigkeitsbewegung von West-Neuguinea, hatte das Autonomiegesetz von Anfang an kategorisch abgelehnt. Zwei Wochen nach seiner Verkündigung durch die damalige indonesische Präsidentin Megawati Sukarnoputri am 21. November 2001 fand man die Leiche von Theys Eluay, dem charismatischen Vorsitzenden des Papua-Rats, in einem Elendsviertel von Jayapura. West-Papua stand am Rande des Chaos. Doch in der indonesischen Gesellschaft nahm kaum jemand Notiz von dem Mord. Und die Nationalisten sahen sich nur darin bestätigt, dass die Unabhängigkeitsbestrebungen vor allem die nationale Einheit bedrohten.
„Der indonesische Nationalismus ist sehr stark ausgeprägt“, erklärt Jacques Bertrand, Politikprofessor an der Universität Toronto in Kanada. „Die Indonesier betrachten jeden Abspaltungsversuch als Angriff auf die Integrität von Staat und Nation. Der Nationalismus beherrscht die öffentlichen Debatten, den Unterricht an den Schulen und die Interpretation der indonesischen Geschichte. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Vereinten Nationen die Übernahme West-Papuas durch Indonesien damals unterstützt und anerkannt und damit völkerrechtlich legitimiert haben.“3
Während die Regierung die berüchtigte Spezialeinheit Kopassus (Komando Pasukan Khusus) auf die Mörder von Eluay ansetzte – später gaben Militärs zu, dass die Kopassus selbst an dessen Entführung beteiligt gewesen war –, kassierte Megawati das Autonomiegesetz. Sie fürchtete, die aufgebrachte Bevölkerung Papuas könne sich radikaleren Führern anschließen. Mitten in diesem Chaos erließ sie ein Dekret4 zur Teilung von West-Neuguinea in drei Provinzen. Ein geschicktes Manöver. Denn noch verstehen sich die Papua nicht als ein Volk mit einer gemeinsamen Herkunft. Das ist auch kein Wunder, wenn 1,5 bis 2 Millionen Papua 310 verschiedenen ethnolinguistischen Gruppen angehören. Die Leute identifizieren sich viel stärker mit ihrem unmittelbaren Umfeld: „Indem Megawati die drei Provinzen anordnete, verhinderte sie, dass die Papua durch eine unabhängige Regierung, die ihre Forderungen gebündelt hätte, mit einer Stimme hätten sprechen können“, erklärt Jacques Bertrand. „So hat es die indonesische Regierung geschafft, die ethnische Vielfalt der Papua für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.“
Die lokalen Eliten profitieren wiederum von einer verzweigten Verwaltungsgliederung: Denn je mehr Provinzen und Distrikte (kabupaten) eingerichtet werden, umso mehr Gouverneure und bupatis (Distriktchefs) werden gebraucht. Die politischen Repräsentanten in den heute 33 indonesischen Provinzen werden seit 2005 in allgemeinen freien Wahlen direkt gewählt. „Die Wahlen sorgen aber zum Beispiel in Papua dafür, dass die Entscheidungsträger neuerdings gegeneinander konkurrieren, was letztlich allen nur schadet“, erklärt ein Dozent von der Universität Cenderawasih in Jayapura: „Die Armee unterstützt den Kandidaten, der ihnen die besseren Konditionen verspricht. So entsteht auch unter den Militär- und Polizeieinheiten ein extrem harter Konkurrenzkampf.“
Am Ende wurden dann doch nur zwei statt drei Provinzen in West-Neuguinea geschaffen: Papua und West-Papua. Seit im Jahr 2009 Steuergelder in Höhe von 24 Billionen Rupien (1,7 Milliarden Euro) in die beiden Provinzen flossen, mehren sich die Stimmen, die die Zentralregierung dazu bewegen wollen, doch noch eine dritte Provinz einzurichten. So entstünden noch mehr Jobs für das Elitenkartell, zu dem heute auch jene Einheimischen gezählt werden können, die nach dem Autonomiegesetz javanische Beamte ersetzt haben. Doch für die übrige Bevölkerung hat sich nichts geändert: Sie müssen sich nach wie vor mit inkompetenten und korrupten Beamten herumschlagen.
Die Zentralregierung in Jakarta betont gern, dass die mit erheblichen Geldtransfers verbundene Gebietsreform die regionale Integration fördere, weil unzugängliche Gebiete auf diese Weise leichter erschlossen und mit einer medizinischen Grundversorgung und Schulen ausgestattet werden könnten. „Diese territoriale Zersplitterung bedeutet vor allem eines: aufgeblasene Verwaltungsstrukturen, zusätzliche Polizeistationen und Schulen, in denen überwiegend javanische Lehrer in der Amtssprache Bahasa Indonesia unterrichten“, entgegnet ein Papua-Aktivist.
Schätzungsweise 48 Prozent der rund 2,4 Millionen Einwohner von Papua kommen ursprünglich von der Insel Java. Um den Bevölkerungsdruck auf der Hauptinsel zu mildern, wurden unter Suharto seit 1969 Javaner in West-Neuguinea angesiedelt. Mit dem sogenannten Transmigrasi-Projekt verbanden sich auch wirtschaftliche Interessen, denn West-Papua ist reich an Gold, Kupfer, Uran, Nickel, Öl, Erdgas und Holz (ein Viertel der Waldfläche Indonesiens). Die Regierung in Jakarta hat mehr als die Hälfte der 42 Millionen Hektar Regenwald für die Nutzung freigegeben. Hinzu kommen rund neun Millionen Hektar für die Landwirtschaft, insbesondere zum Anbau von Ölpalmplantagen. Die Produktion von Palmöl, das in der Nahrungsmittelindustrie und als Biokraftstoff begehrt ist, hat bereits die Inseln Sumatra und Kalimantan zerstört.5 Jetzt ist Papua dran, das zusammen mit Malaysia 85 Prozent der Weltproduktion abdeckt. Sinar Mas, der größte indonesische Palmölhersteller, hat vor kurzem knapp drei Millionen Hektar Land erworben.
Der US-Bergbaukonzern Freeport-McMoRan (Phoenix) ist nach wie vor der mit Abstand größte ausländische Investor in Indonesien – und zugleich der umstrittenste, was seine Abbaumethoden betrifft. 2008 erzielte er einen Umsatz von knapp 18 Milliarden Dollar. Den Preis dafür zahlen die indigenen Völker wie der Stamm der Amungme, der gezwungen wurde, das kühle Hochland in der Region Tembagapura zu verlassen und sich weiter südlich in der sumpfigen und malariaverseuchten Tiefebene von Timika nahe der Küste anzusiedeln. Eine ökologische, menschliche und soziale Katastrophe, wie selbst British Petroleum (BP) Indonesia einräumte. Der Konzern erschließt seit 2009 in der Bintuni-Bucht im Vogelkopf-Gebiet ein riesiges Gasfeld. Für den Bau einer Gasverflüssigungsanlage musste ein ganzes Dorf mit 127 Familien umgesiedelt werden. Den Neuaufbau samt Moschee, Schulen und Krankenstation bezahlte der Energiekonzern, der Verträge mit Abnehmern in China, Südkorea, Mexiko und den USA abgeschlossen hat.
Die meisten Papua profitieren nicht von den Bodenschätzen; hier ist der Anteil der Leute, die von Armut betroffen sind, doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, und die Kindersterblichkeit ist je nach Region zwischen zwei- und sechsmal so hoch. Es gibt vierzigmal so viele Aidskranke wie im übrigen Indonesien. Betroffen sind vor allem Prostituierte für Soldaten, um deren Gesundheit sich streng genommen die Armee kümmern müsste.
Als Soldat ist man hier ohnehin auf sich selbst gestellt. Es heißt, der Staat zahlt nur noch 30 Prozent vom Sold aus. Und Jakarta ist weit weg. Es herrschen Zustände wie bei den Söldnerheeren im Dreißigjährigen Krieg. Die Soldaten halten sich mit Zuhälterei, Spielen, Alkohol- und Waffenhandel, illegalen Rodungen und betrügerischen Machenschaften in allen möglichen Bereichen (Straßenbau, Transport, Sicherheit und so weiter) über Wasser. Seit der Unabhängigkeit von Ost-Timor, der Befriedung der Inselgruppen Molukken und Celeben und dem Ende des Bürgerkriegs in Aceh konzentrieren sich die Konkurrenzkämpfe der Militärs um lukrative Nebeneinkünfte vor allem auf Papua.
Zwischen 1963 und 1983 sollen nach offiziellen Angaben 150 000 Papua getötet worden sein. Neuere Zahlen gibt es nicht – obwohl die Armee hier seit mittlerweile vierzig Jahren ihr Unwesen treibt. Jeden Monat berichten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Survival International von Verfolgungen, Vergewaltigung, Folter, Mord und Vertreibung; die Soldaten zerstören mutwillig Häuser und schlachten das Vieh.6 Angesichts all dieser Gewalttaten sprechen manche schon von Völkermord. Eines scheint so gut wie sicher: Im Jahr 2015 wird es wohl mehr Zugewanderte als Einheimische in Papua geben.
Ob man das, was sich hier abspielt, nun als Genozid bezeichnet oder nicht, die Folge ist bereits erkennbar: Die papuanische Gesellschaft beginnt sich aufzulösen. Allein seit 2001 wurden mehr als 20 000 Menschen vertrieben. Und 13 500 Papua leben im unabhängigen Nachbarstaat Papua-Neuguinea, auf der anderen Seite der Grenze, die die Insel teilt.
Es fragt sich tatsächlich, ob der indonesische Staat die Stämme der Papua zerstören will. Die Regierung kann diesen Verdacht nur ausräumen, wenn sie den Menschen zu ihrem Recht verhilft und die Region wieder öffnet. Seit 2003 werden keine ausländischen Journalisten mehr ins Land gelassen; einige Korrespondenten aus Jakarta haben zwar eine Einreiserlaubnis bekommen, dürfen allerdings nicht über Politik und Menschenrechtsfragen berichten. Und solange der Staat aus Unfähigkeit oder aus Berechnung untätig bleibt, gilt: Die indonesische Demokratie hört in Papua auf.
Aus dem Französischen von Veronika Kabis
Philippe Pataud Célérier ist Journalist.