Armenier und Kurden
Da wurde ein Tabu gebrochen“, meint Markar Esayan, der für die unabhängige Istanbuler Tageszeitung Taraf und für die armenische Wochenzeitung Agos schreibt. „Jetzt können wir endlich die Vergangenheit zur Kenntnis nehmen. Der armenische Völkermord ist ein verbotenes Thema, wie auch die Kurden- und die Zypernfrage. Die AKP hatte den Mut, diese Themen anzugehen und sogar das Verbot zu durchbrechen. Allein mit dieser Entscheidung hat sie bewirkt, dass die Türkei ihre Selbstwahrnehmung verändern und sich zugleich gegenüber der Welt öffnen konnte.“
Esayan ist einer von 50 000 Armeniern der Türkei, seine Familie stammt aus dem anatolischen Sivas, er selbst lebt in Istanbul. Die Protokolle, die am 10. Oktober 2009 von der Türkei und Armenien unterzeichnet wurden, sieht er als hoffnungsvollen Anfang, auch wenn sie bislang nicht umgesetzt wurden.
Diplomatische Offensive, mit und ohne Ball
Bevor die Türkei die gemeinsame Grenze öffnet, will sie, dass Armenien seine Truppen aus Karabach und anderen aserbaidschanischen Gebieten zurückzieht. Diplomaten beider Länder haben seit 2007 in der Schweiz Geheimverhandlungen geführt. Dann begann die Fußballdiplomatie: Der armenische Präsident Serge Sarkissian lud seinen türkischen Kollegen Abdullah Gül im September zum WM-Qualifikationsspiel zwischen den beiden Nationalteams in Eriwan ein. Gül revanchierte sich mit der Einladung zum Rückspiel in Bursa am 14. Oktober 2009. Am Ende stand die Unterschrift von Zürich, trotz armenischer Vorbehalte und der Weigerung der Türkei, für die Massenmorde von 1915 das Wort „Genozid“ in den Mund zu nehmen. Allerdings müssen beide Parlamente die Protokolle noch ratifizieren, und auch das armenische Verfassungsgericht äußert Bedenken.
Der außenpolitische Durchbruch ging Hand in Hand mit innertürkischen Entwicklungen. Am 19. Januar 2007 war Hrant Dink, der Chefredakteur der armenischen Zeitung Agos, in Istanbul ermordet worden, nachdem man gegen ihn nach Artikel 301 des Strafgesetzbuchs Anklage wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ erhoben hatte. Am Tag seiner Beerdigung ging ein Trauerzug mit 100 000 Menschen durch die Stadt. Der Artikel 301 wurde am 30. April 2009 vom Parlament zu „Verunglimpfung der türkischen Nation“ umformuliert. Für Esayan ist das Tabu dennoch gebrochen: „Man kann zwar noch nicht von Genozid oder von 1,5 Millionen Toten reden, aber die Freiheit wird größer, und wir fühlen uns besser.“
Auch in der Zypernfrage hat die AKP-Regierung etwas bewegt. 2004 unterstützte sie den Annan-Plan, der eine aus zwei Teilstaaten bestehende Föderation vorsah. Der Plan wurde von den griechischen Zyprioten in einem Referendum abgelehnt, und Zypern wurde in die EU aufgenommen, ohne dass der acquis communitaire der Union für den türkischen Norden Gültigkeit hat. Die Türkei habe damit gegenüber der EU ihren guten Willen bewiesen, argumentieren die meisten Türken, aber das hat ihre eigenen Beitrittsperspektiven nicht gefördert. Im Gegenteil: Die sind auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, seit in Frankreich und Deutschland die politischen Kräfte das Sagen haben, die den EU-Beitritt der Türkei gar nicht wollen.
Positiv sehen die meisten Türken auch die Öffnung der Grenze zum Irak, da sie mehr Sicherheit sowie soziale und ökonomische Vorteile für die Kurdenregion im Nordirak bringt, die bis vor kurzem aus der Sicht Ankaras noch eine Quelle der Instabilität war, insofern sie als Basis für die kurdische Widerstandsbewegung PKK diente.
Noch wichtiger sind jedoch die Auswirkungen auf die Lage der Kurden im eigenen Land. Die AKP-Regierung hat begriffen, dass sie die Spannungen entschärfen und die auf Gewalt gestützte Politik im Südosten beenden muss, damit aber auch die Dominanz der Armee. Davon verspricht sie sich auch neue kurdische Wählerstimmen. Der Sicherheitsexperte Ihsan Bal, der an der Polizeiakademie in Ankara lehrt, hält die Öffnung gegenüber den Kurden, die in den letzten beiden Jahren erfolgte, für ganz entscheidend: „Diese Demokratisierung wird auch den Aleviten1 , Griechen und Armeniern zugutekommen. Ob die Türkei das alles gleichzeitig bewältigen kann, ist eine andere Frage.“
Was als Initiative in der Kurdenfrage begonnen hat, läuft inzwischen unter dem Titel „demokratische Öffnung“. Die Reformen konzentrieren sich auf kulturelle Rechte und soziale Fragen. Einige Dörfer durften sich wieder ihre kurdischen Namen zulegen, die lokalen Bürgermeister bekamen mehr Rechte, und es ist mehr Unterricht auf Kurdisch erlaubt. Aber viele Türken registrieren, dass die Kurdenpartei DTP (Partei für eine demokratische Gesellschaft), die am 11. Dezember vom Obersten Gericht verboten wurde, zu den wichtigen nationalen Fragen geschwiegen hat. Sie glauben, die Regierung müsste den Kult um den im Gefängnis sitzenden PKK-Führer Öcalan dadurch stoppen, dass sie anderen kurdischen Führungsfiguren die Rückkehr aus dem Exil ermöglicht.
Für Ihsan Bal ist aber noch etwas anderes wichtig: Die Enthüllungen über den Ergenekom-Komplex haben den Türken die Augen über den „tiefen Staat“ geöffnet. In den letzten beiden Jahren wurden die Unantastbaren endlich angetastet. Das Land merkt nun, dass es keine Schande ist, die Fehler der Vergangenheit aufzudecken. Im Gegenteil, es verhilft zu einer neuen Glaubwürdigkeit gegenüber der Welt.