Die Türkei denkt sich neu
von Wendy Kristianasen
Ahmet Davutoglu hat eine weitreichende Vision. Er wünscht sich Frieden und Sicherheit für die weitere Umgebung der Türkei. Und er glaubt, dass sein Land als Mitglied der G 20 und der Nato über gute Voraussetzungen verfügt, um diese Vision zu verwirklichen. Davutoglu ist der Architekt der neuen türkischen Außenpolitik, die auf zwei Prinzipien beruht: als Ziel „null Probleme“ mit den Nachbarstaaten, als Methode „soft power“, also „weiche Macht“.
Seit dem Erdrutschsieg der AKP bei den Parlamentswahlen vom November 2002 fungierte Davutoglu als Chefberater von Ministerpräsident Erdogan, der ihn im Mai 2009 zum Außenminister berufen hat. Heute meint er, die Türkei sei bereit und dank ihrer engen Verbindungen zu turkophonen Gruppen unterschiedlicher religiöser und nationaler Identität auch in der Lage, eine Vermittlerrolle in verschiedenen Konfliktregionen zu übernehmen. Er meint damit die Balkan- und die Kaukasusregion, Russland sowie den Nahen und Mittleren Osten.
Davutoglu ist kein Politiker, sondern ein Akademiker. Er sitzt nicht einmal im türkischen Parlament und ist deshalb nicht von einem Wahlkreis abhängig. Aber er hat sich die neue außenpolitische Konzeption nicht nur ausgedacht, sondern mit der Umsetzung begonnen. Als erste Erfolge zählt er auf: „61 Abkommen mit Syrien und 48 mit dem Irak; Aufhebung der Visumpflicht mit acht Nachbarstaaten; Beilegung der Differenzen zwischen Beirut und Damaskus über die Wahl eines neuen libanesischen Präsidenten; Unterzeichnung von zwei Protokollen mit Armenien.“ Außerdem kann er auf seine Bemühungen um eine Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern verweisen wie auch auf seine aktive Rolle bei den Verhandlungen, die 2007 und 2008 zwischen Syrien und Israel geführt wurden: „Wir standen kurz vor einer Vereinbarung – also nicht etwa vor einem Frieden –, aber dann setzte der israelische Angriff auf Gaza diesen Bemühungen ein Ende. Gaza war bei unseren Verhandlungen kein Thema, aber es war ein negativer Faktor im Hintergrund.“ Und er fügt hinzu, er werde ein guter Zuhörer sein, wenn die Israelis eine Friedensvision entwickeln würden.
Der „tiefe Staat“ auf dem Rückzug
Bedeutet eine solche, von Werten inspirierte Strategie die Übertragung religiöser Vorstellungen auf die Welt der Politik? Oder will sie damit den moralischen Ort erobern, der einst vom „Gewissen der alten Linken“ besetzt war? Das fragt sich Yavuz Baydar, politischer Kommentator von Today’s Zaman, der englischsprachigen Ausgabe der regierungsnahen Tageszeitung Zaman. Viele säkular orientierte Türken fürchten immer noch eine „islamische Agenda“ der AKP und verübeln der Regierung Erdogan ihre Klientelpolitik, die sie vor allem im Bereich der staatlichen Verwaltung betreibt. Und was die „ethnische Vielfalt“ betrifft, so ist die Frage der ethnischen Identität bekanntlich in der Türkei selbst noch immer ein ungelöstes Problem.
Allerdings vollzieht sich gerade in der türkischen Innenpolitik ein entscheidender Wandel. Das Militär zieht sich in die Kasernen zurück. Das hängt mit der Enthüllung der finsteren Geheimnisse zusammen, die sich im Innern des „tiefen Staats“ verbergen. Die politischen Machenschaften des derin devlet, wie man den harten Kern von Militär, Gendarmerie und Geheimdiensten nennt, kommen im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ans Licht, so etwa die mehrfachen Anläufe zu einem Militärputsch in den Jahren 2003 und 2004.1
Im Zuge der jüngsten Ermittlungen – über einen mutmaßlichen Attentatsversuch gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc am 19. Dezember 2009 – wurde von Polizei und Staatsanwälten das Hauptquartier der Anti-Guerilla-Spezialeinheiten der türkischen Armee durchsucht. Damit gelangen erstmalig die „Unantastbaren“ innerhalb der Armee in die Reichweite der zivilen Justiz. Allerdings hat das Militär, in dem es verschiedene Strömungen gibt, auf einigen Gebieten nach wie vor großen Einfluss. Es verfügt außerdem über stramm kemalistische Mitstreiter im Justizwesen, das dringend einer umfassenden Reform bedarf.
Dennoch geschehen derzeit unerhörte Dinge. Die Demokratisierung kommt voran, es bilden sich neue Eliten heraus, rekrutiert aus einer wachsenden und vitalen Mittelklasse, und es entsteht eben ein neuer außenpolitischer Konsens, der von Bürgern unterschiedlicher Überzeugung getragen wird und dem Bedürfnis nach ökonomischem Aufstieg und Sicherheit entspringt. Und der deutlich zum Ausdruck bringt, wie sich die Türkei in der Welt verortet.
So sieht es jedenfalls Ihsan Bal, der als Professor an der Polizeiakademie lehrt: „Es gibt eine neue Dynamik, und die kommt aus dem Volk. Das wird im Westen nicht gesehen.“ Begonnen hat es im Jahr 2003, als die USA die Türkei als Frontstaat bei ihrer Irakinvasion benutzen wollten: „Damals war es das Volk, die Abgeordneten und ihre lokale Wählerschaft, die Nein sagten.“
Eigentlich sollte man erwarten, dass die Türken sich heute wegen der Auswirkungen der globalen Finanzkrise sorgen oder wegen der Arbeitslosigkeit, die bei 15 Prozent und bei der jungen Generation bei etwa 30 Prozent liegt -, aber stattdessen diskutieren sie über Gaza. Vor einem Jahr wurde Ministerpräsident Erdogan bei seiner Rückkehr vom Weltwirtschaftsforum in Davos am Istanbuler Flughafen von 5 000 Anhängern bejubelt, die türkische Fahnen schwenkten. In Davos hatte er wutentbrannt eine im Fernsehen übertragene Diskussion mit dem israelischen Präsidenten Schimon Peres verlassen, nachdem der Moderator ihm nicht erlaubt hatte, der von Peres vorgetragenen Rechtfertigung des Gazakriegs entgegenzutreten.2 Das Thema Gaza berührt die Türken. Und viele nehmen es ihrem Regierungschef ab, wenn er seine Gefühle zeigt, und sind empfänglich für die charismatische Ausstrahlung, die ihr populistischer, aus einfachen Verhältnissen stammender Regierungschef an den Tag legt.
Sein Davos-Auftritt machte Erdogan in der ganzen arabischen und muslimischen Welt mit einem Schlag zum Helden. Auch die US-Regierung war über den Wutausbruch offenbar nicht allzu unglücklich, obwohl es ihr lieber wäre, wenn die Sympathien der Türkei nicht immer nur der Hamas, sondern auch der Fatah gälten und so wieder Bewegung in den auf Eis liegenden Friedensprozess käme. Einige Türken bemängeln, dass die Unterstützung für die Hamas - etwa durch die Einladung ihres Vorsitzenden Chaled Meschal nach Ankara - nicht honoriert wurde, zum Beispiel durch die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit, den die Hamas-Regierung seit dem 25. Juni 2006 im Gazastreifen gefangen hält.
Anfang Januar 2010 protestierte die Türkei lautstark gegen die „erniedrigende“ Behandlung ihres Botschafters in Israel, nachdem dieser bei einem offiziellen Termin vom israelischen Vizeaußenminister Danny Ajalon auf ein sichtbar niedrigeres Sofa platziert wurde. Die AKP-Regierung drohte mit dem Abzug ihres Botschafters, worauf das israelische Außenministerium sich in Ankara entschuldigte. Dabei hatte die Regierung Erdogan nach ihrer Machtübernahme im Jahr 2002 die guten Beziehungen der Türkei mit Israel durchaus weiter gepflegt, wie ihre Bemühungen um eine Vermittlung zwischen Israel und Syrien zeigen. Aber die Invasion im Gazastreifen hat die ganze Konstellation verändert. Was bedeutet das für das Verhältnis zwischen den beiden Ländern? Unter Ministerpräsident Netanjahu steht Israel relativ isoliert da, seine strategische Position ist geschwächt, seit in Washington Präsident Obama regiert. Zudem ist die Türkei heute für Israel wichtiger als umgekehrt, auch als Markt. Nach Ansicht von Meliha Altunisik, Professorin an der Middle East Technical University in Ankara, hätte nach dem Gazakrieg jede türkische Regierung ihre Politik überdenken müssen. In den bilateralen Beziehungen werde es zwar eine Abkühlung geben, aber keinen Bruch. Im Übrigen wünschten auch die Araber nicht, dass die Türkei ihre Brücken zu Israel niederbrennt: „Die Menschen der Region erwarten von der Türkei eine konstruktive Rolle. Entscheidend sind die ökonomischen Beziehungen. Aber Erdogan ist auch als Person populär. Das begann, als die Türkei 2003 den USA nicht erlaubte, das Land als Startrampe für den Irakkrieg zu benutzen. Da entstand das Gefühl: Endlich hat es einer von uns gewagt.“
Ein Konkurrenzverhältnis bestehe noch zum Iran, meint Professorin Altunisik: „Die Türkei versucht, Teheran das Wasser abzugraben: mit der offenen Unterstützung der Palästinenser in Gaza, mit der Vermittlung zwischen Syrien und Israel, mit der Überwindung der Krise nach den Präsidentschaftswahlen im Libanon.“ Der neue, kooperative Ansatz biete gleich mehrere Vorteile: „Im Nahen Osten ist er unmittelbar nützlich, weil er sich positiv auf die Beziehungen zum arabischen Lager und zum Iran auswirkt; hinzu kommen die ökonomischen Vorteile und der Gewinn an Stabilität.“
Die Iranpolitik der Regierung ist jedoch umstritten. Etliche Kritiker halten die Versuche Ankaras, in der Frage der iranischen Nuklearpolitik zu vermitteln, für vergeblich, naiv und gefährlich. Die Differenzen ergeben sich nicht zuletzt daraus, dass die iranischen Ambitionen schwer einzuschätzen sind. Und die Vorstellung, dass es in der unmittelbaren Nachbarschaft zu einer explosiven Situation kommen könnte, weckt natürlich große Ängste.
Alte Konflikte, inzwischen beigelegt
Wie ein Wunder erscheint da die Entwicklung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Damaskus. Vergessen sind die alten Probleme, wie die Unterstützung der Syrer für die PKK, die erst 1998 nach einer türkischen Invasionsdrohung beendet wurde, oder der Anspruch auf die türkische Provinz Hatay (das alte Alexandretta)3 , oder der Konflikt um das auf türkischem Territorium aufgestaute Euphratwasser. Im Irak hat die Türkei dazu beigetragen, die sunnitischen Gruppierungen zur Zusammenarbeit mit der Regierung in Bagdad zu bewegen und damit stabilere Verhältnisse zu schaffen, was freilich in befremdlichem Kontrast steht zu den türkischen Militäraktionen im Nordirak gegen Stellungen und Lager der PKK.
Auf wirtschaftlichem Gebiet macht man gute Geschäfte in Afrika und speziell in Libyen und im Sudan, dessen Präsident von Erdogan auf peinliche Weise vom Vorwurf des Völkermords in Darfur „freigesprochen“ wurde.4 Auf allgemeine Zustimmung stößt dagegen der Beitrag der Türkei zur Ifor-Truppe in Afghanistan, wobei die 1 750 Soldaten - entgegen den Wünschen der USA - keine Kampftruppen sind
Die AKP-Regierung will nicht nur die Beziehungen mit der muslimischen Welt verbessern, sondern auch mit Russland, Serbien, Griechenland, Georgien und Armenien. Mit Eriwan wurden am 10. Oktober 2009 zwei Protokolle über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der gemeinsamen Grenze unterschrieben; die Umsetzung wurde bislang allerdings aufgeschoben, weil Ankara die verbündeten Aserbaidschaner nicht verprellen will.
In der westlichen Presse wird zuweilen unterstellt, die Hinwendung der Türkei nach Osten und Süden sei ein Symptom für neo-osmanische Ambitionen. 5 Doch damit verkennt man die heutigen Türken. Der Exdiplomat Temel Iskit, der in den 1980er-Jahren der erste Regierungsbeauftragte für EWG-Angelegenheiten war, sieht das als Ausdruck der These, dass die Türkei “das Interesse an einer EU-Mitgliedschaft verloren hat und sich dem Islam zuwendet“. Diese Kritik komme von Leuten, die gegen die Aufnahme der Türkei in die EU sind, und sie sei ebenso verlogen wie falsch. Iskit gehört zu den vielen ehemaligen Anhängern der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei), die der „alten Partei Atatürks“ und ihrem heutigen Führer Deniz Baykal die Gefolgschaft aufgekündigt haben.
„Nachdem ich ein Leben lang für die alten Tabus über Armenien, Zypern, die Kurden eintreten musste, habe ich meine Meinung geändert und mich entschlossen, die Dinge offen anzusprechen.“ Der alte Diplomat erläutert, dass die Türkei geopolitisch immer schon eine zentrale Position innehatte. Doch wegen des Unabhängigkeitskampfs der jungen Republik und des anschließenden Kalten Kriegs habe sich das Land ständig in der Defensive gefühlt. Das sei jetzt anders: „Die Türkei beginnt sich zu demokratisieren. Und diese Demokratisierung erzeugt einen neuen Geist der Zusammenarbeit und des Kompromisses.“ Als Voraussetzung für diesen Prozess sieht Iskit zum einen die Kopenhagener Kriterien, also die Bedingungen für einen EU-Beitritt, auf die sich die Türkei schon festgelegt hatte, bevor die AKP an die Macht kam. Die zweite Voraussetzung sei der Verzicht der Armee auf die Einmischung in die Politik (siehe dazu den untenstehenden Artikel von Niels Kadritzke).
Nach Ansicht von Kadri Gürsel, Kolumnist der Tageszeitung Milliyet, wäre die neue außenpolitische Orientierung auch von jeder anderen Regierung eingeschlagen worden: „Mit dem ökonomischen Boom von 2002 und 2003 haben wir viele neue außenpolitische Vorteile gewonnen: Wir hatten ein Datum für die EU-Beitrittsverhandlungen, und mit der Ergreifung von Öcalan war ein großes Sicherheitsproblem gelöst.“ Seitdem passe sich die Türkei mit großer Selbstverständlich den Gegebenheiten der Globalisierung an. Das habe eine neue Dynamik erzeugt, von der eine säkulare Partei allerdings nicht ganz so stark profitiert hätte: „Die AKP fühlt sich mit dem Nahen Osten vertraut, besonders mit den sunnitischen Ländern.“
Nach Ansicht von Kadri Gürsel, Kolumnist der Tageszeitung Milliyet, wäre die neue außenpolitische Orientierung auch von jeder anderen Regierung eingeschlagen worden: „Mit dem ökonomischen Boom von 2002 und 2003 haben wir viele neue außenpolitische Vorteile gewonnen: Wir hatten ein Datum für die EU-Beitrittsverhandlungen, und mit der Ergreifung von Öcalan war ein großes Sicherheitsproblem gelöst.“ Seitdem passe sich die Türkei mit großer Selbstverständlich den Gegebenheiten der Globalisierung an. Das habe eine neue Dynamik erzeugt, von der eine säkulare Partei allerdings nicht ganz so stark profitiert hätte: „Die AKP fühlt sich mit dem Nahen Osten vertraut, besonders mit den sunnitischen Ländern.“
Gürsel verweist darauf, dass viele Leute innerhalb wie im Umkreis der Regierung Arabisch sprechen. Das bedeute aber noch keine „östliche Achse“. Der entscheidende Faktor sei die Wirtschaft: „Die Türkei ist zu Wachstum verdammt, und zwar auf der Basis von Exporten. Dafür muss sie neue Märkte finden, und die sind im Nahen Osten.“ Die Strategie ist anscheinend aufgegangen: „Die Regierung hat die richtige Wirtschaftspolitik betrieben. Sie agiert unternehmerfreundlich, auch wenn die Regierenden die Gewinne eher unter ihren Leuten verteilen. Das kommt am Ende der anatolischen Wählerbasis der AKP zugute, die eine neue Mittelklasse hervorbringt, und es sichert für die Zukunft eine stabile Demokratie.“
Soli Özel lehrt an der Istanbuler Bilgi-Universität internationale Politik. Ihrer Meinung nach zeigt die ganze Aufregung über die „östliche Achse“ vor allem eines: die Schwierigkeit, die der Westen damit hat, „dass sich die Türkei nicht mehr reinreden lässt“. Die AKP-Regierung pflege im Übrigen sehr gute Beziehungen zu den USA. Die Frage, wie westlich die Türkei ist, habe weniger mit ihrer strategischen Orientierung zu tun, als mit der Frage, ob sie sich zu einem wirklich westlichen Land entwickeln wird. Aber wenn die EU nicht genug Verständnis für die Türkei aufbringe, nehme sie sich selbst aus dem Spiel, und Ankara werde seine Außenpolitik auf Washington ausrichten. Viele Türken hoffen, dass Barack Obama dafür als Partner geeigneter sein wird, als es George W. Bush war.
Yasemin Congar von der Istanbuler Tageszeitung Taraf6 verweist auf Obamas multikulturellen Background und seine Islamkenntnisse. Sein Anliegen, einen neuen Dialog mit der muslimischen Welt aufzunehmen, und sein Respekt für die Menschenrechte passen ihrer Meinung nach gut zu den Bemühungen der Türkei um Demokratisierung und eine gerechte Lösung für ihr Kurdenproblem. Enttäuscht sind die Leute jedoch darüber, dass Obama keinen Druck auf Israel wegen der Palästinenserfrage und vor allem wegen ihrer Siedlungspolitik ausübt und dass er noch mehr Truppen nach Afghanistan entsendet. Dabei wird in der Türkei durchaus registriert, dass es aus Washington keine Kritik an der offenen Kritik Ankaras an Israel gibt, aber wenn Obama den während der Bush-Ära herrschenden Antiamerikanismus der Türken zerstreuen will, muss er echte Fortschritte für die Palästinenser erreichen.
Die allgemeine Verbitterung über die Europäer ist groß. Besonders tief sitzt die Kränkung durch Präsident Sarkozy. „Die Türkei hat keinen Platz in Europa“, hatte er im Juni 2007 gegenüber der Pariser Zeitung Le Figaro bekannt. Dabei strebt inzwischen die Regierung Erdogan auch ihrerseits die EU-Mitgliedschaft nicht mehr mit der ursprünglichen Begeisterung an.
Zafer Yavan ist Generalsekretär des türkischen Industriellenverbands Tüsiad, traditionell eine Domäne der alten nichtreligiösen Unternehmerfamilien Istanbuls. Er beklagt, dass die Regierung sich nicht schnell genug auf die EU zu bewegt, womit sie Zweifel an ihrer Europabegeisterung ausgelöst hat. Aber für das verlangsamte Konvergenztempo sei eher Sarkozy verantwortlich, und nicht die Türkei: „Die Richtung stimmt. Die Türkei wird Fortschritte machen, egal ob mit oder ohne die Regierung. Aber die AKP wird ihre demokratischen Bemühungen fortsetzen - das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Und in ihrem Tempo und ihrer Beharrlichkeit ist die AKP mit keiner früheren Regierung zu vergleichen.“
Ayse Celikel ist Mitglied der kemalistischen CHP und ehemalige Justizministerin. Sie hat allen Grund, gegen die AKP-Regierung zu sein. Als Vorsitzende einer Vereinigung, die jungen Mädchen eine nichtreligiöse Erziehung bietet, ist sie ins Visier der Regierung geraten. 14 ihrer Mitarbeiter wurden ohne offizielle Anklage festgenommen. Sie bezeichnet sich selbst als kemalistisch, „aber nicht borniert“. Sie stellt immerhin anerkennend fest, dass sich die AKP-Regierung, obwohl ihr die EU die kalte Schulter zeigt, mit der Öffnung nach Osten und Süden um einen Balanceakt bemüht: „Solange sie sich nicht weiter von Europa weg bewegt oder näher an den Iran heranrückt, ist das in Ordnung.“
Der pensionierte General Armagan Kuloglu ist Berater eines neuen Thinktanks für strategische Studien über den Nahen Osten und sieht sich selbst als Atatürkcü (Atatürk-Verehrer). Er verteidigt die alten Tabus und verurteilt die Initiativen der Regierung gegenüber Zypern, Armenien und den Kurden. Aber auch er sieht keine neue außenpolitische Achse: „Die Regierung will nur gute Beziehungen mit den Nachbarländern.“ Und die EU-Politik Erdogans kritisiert er schon deshalb nicht, weil er entschieden gegen einen Beitritt ist.
Manche Türken befürchten, dass die Regierung mit zu vielen Tellern jongliert und ihre Möglichkeiten als „soft power“ überschätzt. Aber vielleicht hat sich auch etwas Grundsätzliches verändert: Früher war die Türkei aus der Sicht der Nachbarländer eine vernachlässigbare Größe. Heute kann man über die Zukunft vieler Weltregionen nicht mehr diskutieren, ohne auch über die Türkei zu reden.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Wendy Kristianasen ist verantwortlich für die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.