14.06.2013

Stellvertreterkriege in Syrien

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Stellvertreterkriege in Syrien

von Karim Emile Bitar

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Wenn es eine Konstante in der Geschichte der Länder der Levante gibt, so ist es der ewige Konflikt zwischen den Freiheits- und Emanzipationsbestrebungen der Bevölkerung und der Realpolitik ausländischer Mächte. Dabei wurden die Ersteren viel zu oft auf dem Altar der eigenen geostrategischen Interessen geopfert.

Die Expedition Napoleons nach Ägypten 1798 war der Auftakt zu einer endlosen Konfrontation zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland auf dem Gebiet des untergehenden Osmanischen Reichs. Das größte Trauma datiert allerdings vom Ende des Ersten Weltkriegs, als die Araber von T. E. Lawrence, genannt Lawrence von Arabien1 , zur Rebellion gegen die Türken aufgestachelt worden waren.

Damals hatte der britische Hochkommissar für Ägypten, Henry McMahon, den Arabern in einem Brief an Hussein ibn Ali, den Scherifen von Mekka, die Errichtung eines unabhängigen Königreichs zugesagt. Dieses Versprechen wurde gleich doppelt gebrochen: durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, das die Region zwischen Großbritannien und Frankreich aufteilte, und durch die Balfour-Deklaration von 1917, mit der die Briten der Errichtung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina zustimmten.

Unter dem französischem Mandat, das der Völkerbund 1922 bestätigte, wurde Syrien zunächst in vier kleine Staaten aufgeteilt, bevor es 1946 die Unabhängigkeit erlangte. Doch die parlamentarische Republik währte nicht lange: 1949 putschte sich Oberst Husni al-Zaim an die Macht. Das war der erst Militärputsch in der arabischen Welt, der von einer US-Botschaft und der CIA eingefädelt wurde.2

Diese historischen Fakten sind eine Erklärung sowohl für den strammen Nationalismus in Syrien als auch für das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber allen Eingriffen von außen. Und sie erklären auch, warum das aktuelle syrische Regime immer wieder auf antiimperialistische Slogans zurückgriff, um seine brutale Repression zu legitimieren, als es sich einer spontanen und friedlichen Revolte der Bevölkerung gegenübersah, die an die Aufstände in Tunesien und Ägypten anknüpfen wollte. Mit dieser Strategie schaffte es das Regime, sich die Unterstützung einiger autoritär-nationalistischer Bewegungen und einer Minderheit der arabischen Linken zu erhalten.3

Das Verhältnis zu Israel war in den vergangenen vierzig Jahren bemerkenswert spannungsfrei, so dass die besetzten Golanhöhen geradezu als Oase der Stabilität in einer unruhigen Region erschienen. 1976 intervenierte Syrien mit Billigung der USA und dem stillen Einverständnis Israels im Libanon, um einen Sieg der sogenannten islamisch-progressiven Koalition zu verhindern. Während des „globalen Kriegs gegen den Terror“ nach 2003 war Damaskus sogar in das Foltersystem der Bush-Administration eingebunden. Und nach dem Ausbruch der arabischen Revolutionen rechtfertigte Syrien die Niederschlagung der Revolte in Bahrain durch Saudi-Arabien.

Die größte Fehleinschätzung Assads, die auch in seinem Interview mit dem Wall Street Journal vom 31. Januar 2011 deutlich wurde, war die Annahme, Syrien habe sich durch seine Unterstützung der libanesischen Hisbollah (vor allem während des Kriegs mit Israel im Sommer 2006) und seine Hilfe für die Hamas während der israelischen Gaza-Invasion im Winter 2008/2009 gegen die revolutionäre Epidemie in der arabischen Welt immunisiert.

Selbst wenn dieser angebliche Antiimperialismus von der Bevölkerung als real und aufrichtig wahrgenommen worden wäre, hätte dies keinesfalls eine Empörung besänftigt, die vor allem auf die innenpolitischen Verhältnisse reagierte. Die soziale und wirtschaftliche Situation im Lande war erbärmlich: Von 300 000 jungen Syrern, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt strömten, bekamen nur 8 000 einen regulären Arbeitsvertrag.4 Die stramm durchgezogenen neoliberalen Reformen verwandelten staatliche in private Monopole, was zu einem System des kapitalistischen Nepotismus führte. Die Freiheiten wurden durch einen Ausnahmezustand erstickt, der seit 1963 ununterbrochen in Kraft blieb. Die institutionalisierte Folter wurde zu einer Art Regierungstechnik, um die Massen einzuschüchtern.

Die syrische Revolution wurde aber auch sehr schnell von ausländischen Mächten vereinnahmt, die das Land zum Schauplatz gleich mehrerer Stellvertreterkriege machten. Deshalb schließen sich die beiden konkurrierenden Darstellungen des Konflikts in Syrien – die diesen als Revolte des Volkes oder aber als geopolitischen Konflikt schildern – keineswegs gegenseitig aus. Beide Dimensionen existieren gleichzeitig nebeneinander, wobei die erste zwischen März und Oktober 2011 vorherrschte und die zweite seit Juli 2012 immer dominanter wird.

Als Assads entschiedenster Unterstützer hat sich Russland erwiesen. Putin ging sogar so weit, durch sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat dreimal eine gegen das Assad-Regime gerichtete Resolution zu verhindern. Die Gründe für die russische Position sind vielschichtig.

Israels Mann in Damaskus

Ein Grund sind die engen bilateralen Beziehungen beider Länder, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen. Im Gegensatz zu Ägypten hat Syrien die Brücken zum sowjetischen Block nie abgebrochen: Zehntausende syrischer Bürger haben zusätzlich die russische Staatsangehörigkeit, und da viele Russen in Syrien und viele Syrer in Russland leben, gibt es auch viele russisch-syrische Ehepaare.5 Auch die wirtschaftlichen Beziehungen sind stabil. 2010 beliefen sich Russlands Exporte nach Syrien auf 1,1 Milliarden US-Dollar und die russischen Investitionen in Syrien auf mehr als 20 Milliarden Dollar.

Hinzukommen die russischen Waffenverkäufe an Syrien, die auch für das russische Militär interessant sind, weil es so die Funktionsfähigkeit der eigenen Technologien testen kann. Zudem hat Russland mit diesen Verkäufen im Jahr 2011 rund 4 Milliarden US-Dollar verdient, auch wenn Damaskus nur selten wirklich gezahlt hat und Moskau häufig mit dem Preis heruntergegangen ist oder die syrischen Schulden am Ende erlassen musste. Die russische Militärbasis in Tartus – der einzige russische Stützpunkt am Mittelmeer – wird in ihrer Bedeutung oft überschätzt, denn sie stellt in erster Linie eine Versorgungsbasis dar.

Ähnlich wie Frankreich im 19. Jahrhundert gibt sich auch Russland als Beschützer der Christen im Orient. In Syrien leben etwa eine Million Christen (4,6 Prozent der Bevölkerung), mehr als die Hälfte von ihnen sind griechisch-orthodoxen Glaubens.6 Dass in Moskau die Interessen der syrischen orthodoxen Kirche, deren Führung dem Assad-Regime nahesteht, zunehmend berücksichtigt werden, könnte damit zu tun haben, dass sich in Russland offenbar ein enges Bündnis zwischen Präsident Wladimir Putin, Premierminister Dmitri Medwedjew und dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, dem Moskauer Patriarchen Kyrill I., anbahnt.

Als Motiv weit wichtiger ist aber das im Kreml herrschende Gefühl, dass man 2011 bei der Libyen-Intervention hereingelegt wurde. Aus russischer Sicht hat der Westen die entsprechende Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats überinterpretiert, wenn nicht sogar missbraucht, um den Militäreinsatz über die Wahrnehmung der einfachen „Schutzverantwortung“ hinaus auszuweiten und einen Regimewechsel herbeizuführen.

Ein weiterer maßgeblicher Faktor ist ganz sicher die Tatsache, dass Präsident Putin die Geschehnisse in Syrien durch die tschetschenische Brille betrachtet. Dadurch sieht er in den arabischen Aufständen zuallererst islamistische Revolutionen, die man stoppen muss, bevor sie den Kaukasus oder andere muslimische Regionen Russlands erreichen (fast 15 Prozent der russischen Bevölkerung sind Muslime).

Eine einfachere Erklärung gibt es für die Unterstützung des Assad-Regimes durch den Iran. Für Teheran geht es darum, seinen einzigen arabischen Verbündeten zu schützen und die Nachschubwege für die Hisbollah offen zu halten. Die syrisch-iranische Allianz beruht auf einem alten strategischen Pakt, der aus dem Jahr 1980 datiert, als die iranische Revolution gerade mal zwei Jahre alt war. Präsident Hafiz al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, war damals weitgehend isoliert, und die Beziehungen zu seinem baathistischen Intimfeind Saddam Hussein im Irak und zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafats waren auf ihrem Tiefpunkt angelangt.

Dieses syrisch-iranische Bündnis hat harte Prüfungen überstanden, vor allem im Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988. Doch alle Versuche, diese Allianz zu sprengen, sind gescheitert. Seit Beginn der syrischen Revolution im März 2011 wird Assad vom Iran mit allen Mitteln unterstützt. Im Januar 2013 hat Teheran dem syrischen Präsidenten einen Kredit in Höhe von einer Milliarde US-Dollar gewährt, obwohl das Land infolge der internationalen Sanktionen in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt. Zudem hat der Iran hochrangige Mitglieder seiner Revolutionsgarden als Berater nach Syrien entsandt. Und auch die unter iranischem Einfluss stehende Hisbollah und schiitische Milizen aus dem Irak engagieren sich aufseiten des Assad-Regimes. An der Einnahme der lange umkämpften und strategisch wichtigen Stadt Kusair durch die syrische Armee Anfang Juni, waren Einheiten der Hisbollah maßgeblich beteiligt.

Auf der anderen Seite unterstützen die drei einflussreichsten sunnitischen Mächte der Region – die Türkei, Saudi-Arabien und Katar – die syrischen Rebellen mit allen Mitteln. Nachdem die Türkei für kurze Zeit versucht hatte, einen Kompromiss zwischen dem Regime und den syrischen Muslimbrüdern herbeizuführen, bekennt sich Ankara inzwischen klar zu dem Ziel, das Assad-Regime zu stürzen. Für die beiden Golfstaaten geht es vor allem darum, den Einfluss ihres Erzfeindes Iran zu beschränken, auch auf die Gefahr hin, dass der konfessionelle Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten eskaliert.

Das Emirat Katar hat sich gleich nach Ausbruch des syrischen Konflikts entschieden, die syrischen Muslimbrüder zu unterstützen (wie bereits zuvor bei den Revolutionen in Tunesien und Ägypten). Laut Financial Times hat Katar für die Bewaffnung der syrischen Rebellen bislang 3 Milliarden US-Dollar ausgegeben.7 Einige Monate später als die Katarer haben auch die zunächst zögernden Saudis begonnen, im syrischen Konflikt mitzumischen. Da man in Riad aber den Muslimbrüdern feindlich gesinnt ist8 , unterstützt man eher die salafistischen Gruppierungen. Wobei die Saudis gegenüber Gruppen, die der al-Qaida nahestehen, misstrauisch bleiben; schließlich hat das Terrornetzwerk im wahhabitischen Königreich mehrere Anschläge verübt.

Katar setzt bei seiner Syrienpolitik ganz auf die Karte der Nationalen Syrischen Koalition und hat Ghassan Hitto, der den Muslimbrüdern nahesteht, als Ministerpräsidenten der Exilregierung durchgesetzt. Saudi-Arabien versucht dagegen eher, seinen Einfluss innerhalb Syriens über direkte Hilfen geltend zu machen, die vor allem über ein in Jordanien eingerichtetes Koordinationsbüro laufen.

Aus israelischer Sicht galt das syrische Regime lange Zeit als geringstes Übel, als Garant für Stabilität an der Grenze. Das hat sich seit dem Julikrieg 2006 gegen die Hisbollah geändert. Damals wurde klar, dass die Unterstützung aus Damaskus für den Widerstand der Hisbollah entscheidend war. Seitdem hat sich in Israel auch die antiiranische Rhetorik verstärkt. Allerdings vertrat der ehemalige Mossad-Direktor Efraim Halevy noch Anfang Mai die Ansicht, dass Assad denjenigen, die ihn stürzen wollen, vorzuziehen sei. Für Halevy ist Assad sogar „der Mann Israels in Damaskus“.9

Die israelfreundlichen Kreise in den USA sind in der Frage, wie mit der Situation in Syrien umzugehen sei, geteilter Meinung: So plädiert etwa Dennis Ross, ehemaliger Berater im Weißen Haus, für eine Intervention der USA gegen das Assad-Regime. Dagegen rät der Historiker Daniel Pipes, einer der vehementesten Fürsprecher Israels in den USA, das syrische Regime zu unterstützen und auf eine Verlängerung des Konflikts zu setzen.

Die in Washington herrschende Verwirrung wird durch das israelische Zögern noch verstärk. Präsident Obama ist zwar durch die Erfahrungen im Irak abgeschreckt, zugleich aber dem Druck aus dem immer noch einflussreichen Lager der Interventionisten ausgesetzt. Die Ideallösung für die USA wäre ein Rücktritt Assads bei gleichzeitigem Fortbestehen des Kernregimes. Dies ist auch das treibende Motiv hinter der US-russischen Initiative für eine Friedens-Konferenz in Genf, die ursprünglich im Juni stattfinden sollte.

Das Assad-Regime hat seine grundsätzliche Bereitschaft erklärt, an einem solchen Treffen teilzunehmen. Allerdings ist fraglich, ob die Konferenz überhaupt stattfinden wird. Denn die Nationale Koalition der syrischen Opposition hat eine Reihe von Bedingungen für ihre Teilnahme an der Konferenz gestellt, darunter den Rücktritt von Präsident Assad. In der Nationalen Koalition tobt zudem ein Machtkampf zwischen einem durch Saudi-Arabien unterstützten Flügel und einer an Katar orientierten Fraktion um Ghassan Hitto.

Das Gesamtbild zeigt deutlich die völlige Planlosigkeit der regionalen und internationalen Mächte (was überhaupt nicht zu den Verschwörungstheorien passt, die beim Thema Naher Osten so häufig bemüht werden). All diesen äußeren Mächten geht es in erster Linie um die Wahrung ihrer eigenen Interessen – die der syrischen Bevölkerung bleiben dabei auf der Strecke.

Fußnoten: 1 Die Rolle von T. E. Lawrence wurde unter anderem durch den Film von David Lean (1962) zur Legende stilisiert, weshalb dieser bis heute als der klassische romantische Westler gilt, der die Orientalen vom Despotismus befreien will. 2 Siehe Tom Weiner, „Legacy of Ashes: The History of the CIA“, New York (Anchor) 2008. Die freigegebenen US-Akten bezeichnen Husni al-Zaim als „liebenswürdigen Schurken“ („likeable rogue“). 3 Siehe Nicolas Dot-Pouillard, „La crise syrienne déchire les gauches arabes“, Le Monde diplomatique (französische Ausgabe), August 2012. 4 So Samir Aita vor der außenpolitischen Kommission im französischen Senat, 24. April 2013: www.senat.fr/compte-rendu-commissions/20130422/etr.html#toc4. 5 Siehe Michael Thumann, „Russlands Naher Osten“, Le Monde diplomatique, April 2013. 6 Vgl. die Angaben des Demografen Youssef Courbage in „Ce que la démographie nous dit du conflit syrien“, Slate, 15. Oktober 2012: www.slate.fr/story/62969/syrie-guerre-demographie-minorites. 7 „Qatar bankrolls Syrian revolt with cash and arms“, Financial Times, London, 17. Mai 2013. 8 Siehe Alain Gresh, „Im neuen Ägypten“, Le Monde diplomatique, November 2012. 9 Efraim Halevy, „Israel’s man in Damascus. Why Jerusalem does not want the Assad regime to fall“, Foreign Affairs, New York, 10. Mai 2013. Aus dem Französischen von Jakob Horst Karim Emile Bitar ist Forscher am Institut des relations internationales at stratégiques (Iris), Paris, und Autor von „Regards sur la France“, Paris (Seuil) 2007.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Karim Emile Bitar