14.06.2013

Von Goldgräbern und Nerds

zurück

Von Goldgräbern und Nerds

Zum zweiten Mal in seiner Geschichte verwandelt sich San Francisco – es wird zur Vorstadt von Silicon Valley von Rebecca Solnit

Audio: Artikel vorlesen lassen

Sie fahren morgens und abends die Bushaltestellen von San Francisco an, jedoch eher incognito. Denn es sind keine öffentlichen Verkehrsmittel, an der Frontscheibe tragen sie ein dezentes Akronym, nirgends steht, wo sie hinfahren. Die Fahrgäste steigen durch die vordere Tür ein, was seine Zeit dauert und die grell-orangen Linienbusse hinter ihnen zum Warten zwingt. Für die Passagiere sind die Luxusbusse ein Gratisservice. Die meisten Fahrgäste holen gleich nach dem Einsteigen ihre Laptops heraus und beginnen ihren Arbeitstag schon im Bus, der natürlich mit WLAN ausgestattet ist. Die meisten dieser Busse sind strahlend weiß, sie wirken mit ihren dunkel getönten Scheiben wie Luxuslimousinen, und manchmal lassen sie mich an Raumschiffe denken, in denen außerirdische Überwesen auf der Erde landen, um über uns zu herrschen.

An anderen Tagen erinnern sie mich an die Firmenbusse, mit denen einst Bergarbeiter zu den Gruben gekarrt wurden. Und einem alten Bergwerksbesitzer kämen die Arbeitszeiten bestimmt vertraut vor: Im Silicon Valley ist der Arbeitstag seit jeher prinzipiell unbegrenzt. Die jungen Leute, die hier einen Job haben, reißen Jahr für Jahr ihre 60- oder 70-Stunden-Wochen herunter, und die luxuriösen Extras, die ihr Arbeitsplatz bietet – Ruheräume, Gourmetkantine, Fitnesszentrum, Wäscheservice –, sollen ein hauptsächlich mit Arbeiten verbrachtes Leben weniger schrecklich machen. An dieselben Spielregeln hält sich auch die Biotech-Industrie. Die Megaunternehmen, die sich südlich von San Francisco angesiedelt haben, haben Hunderte dieser Luxusbusse im Einsatz; freilich ist von ihnen immer nur im Singular die Rede, wie zum Beispiel vom Google-Bus.

Wir reden übrigens viel über die Busse. Mit „wir“ meine ich Leute wie mich, die hier schon länger leben, aber nicht in der IT- oder Biotech-Branche arbeiten. Wir reden über sie, wie die Pariser Bevölkerung 1871 wahrscheinlich ständig über die eingerückte preußische Armee geredet hat. Mein Bruder sagt, er hätte, als er zum ersten Mal Leute aus so einem Bus steigen sah – korrekt gekleidet, uncool, etwas fehl am Platz und, von ihren dunklen Bildschirmen auftauchend, leicht benommen in die Sonne blinzelnd –, gedacht, sie seien deutsche Touristen.

Die Angestellten in der Hightech-Branche sind meistens neu in der Gegend, männliche Nerds weißer oder asiatischer Abstammung, Alter zwischen zwanzig und vierzig. Es heißt, mit fünfzig ist man in dieser Welt bereits ein Fossil; die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin sind noch keine vierzig (und gehören zu den zwanzig reichsten Menschen der Welt).

Ein Freund erzählte mir eine Geschichte aus der Zeit, als er selbst mit dem Apple-Bus zur Arbeit fuhr. Einmal wollte sich der Fahrer einen Scherz erlauben und fuhr, nachdem er die meisten seiner Fahrgäste beim zentralen Apple-Gelände abgesetzt hatte, einfach in Richtung San Jose weiter, ohne an der zweiten Apple-Haltestelle zu halten. Die im Bus verbliebenen IT-Spezialisten, die längst verlernt hatten, direkt und spontan zu kommunizieren und Einspruch zu erheben, blieben völlig regungslos sitzen und starrten auf ihre vorbeiziehenden Büros und Arbeitsstätten, bis der Fahrer sie in irgendeinem Slum südlich des neuen globalen Machtzentrums absetzte. Von dort riefen sie dann die Zentrale an, die ihnen einen anderen weniger unternehmungslustigen Fahrer schickte.

Als ich diese Geschichte einem anderen Freund erzählte, malten wir uns aus, wie die Leute im Bus ihre Firmenzentrale per SMS um die E-Mail-Adressen der Leidensgenossen gebeten haben, die neben ihnen saßen. Denn diese ganz eigene Welt hat viele neue Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen, während sie altmodische Kulturtechniken verkümmern lässt – wie das Reden mit Menschen in der direkten Umgebung. Ausgerechnet diese jungen Leute fahren mit dem Google-Bus hin und her, weil sie unbedingt in San Francisco leben wollen – in einer Stadt des Flanierens und leichter Bekanntschaften. Offenbar schätzen sie diesen Dinge, an deren Auslöschung sie gleichzeitig arbeiten.

Der Google-Bus macht vieles möglich. Zum Beispiel eben, dass das Fußvolk des Konzerns, der die Weltherrschaft anstrebt, im Silicon Valley arbeitet, aber in San Francisco wohnen kann, ohne sich mit dem eigenen Auto jeden Tag viereinhalb Stunden durch das haarsträubende Verkehrschaos quälen zu müssen. Mit dem Bus nimmt die Fahrerei zur Arbeit und zurück immerhin nur dreieinhalb Stunden in Anspruch. Das heißt allerdings, dass die Unternehmen – im Unterschied zu Großkonzernen anderer Weltgegenden und Epochen – an der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs wenig Interesse haben. Indem sie ihren Mitarbeitern eigene Transportmittel bieten, untergraben sie in Wahrheit die finanzielle Basis für Pendlerzüge.

San Francisco war von der Zeit des Goldrauschs bis zum Aufstieg von Los Angeles zur größten Industriestadt der USA die unbestrittene Metropole des amerikanischen Westens. Jetzt aber ist die Bay Area wegen ihrer Nähe zum Silicon Valley zur Schlafstadt der globalen Hightech-Metropole geworden.

Wo einst Obstbäume standen, blüht heute Apple

Dass Kalifornien so lange am äußersten Rand des Kontinents lag, hatte seine Vorteile, doch inzwischen sind wir ins Zentrum gerückt, eben wegen Silicon Valley. Allein schon weil hier fünf der sechs meistbesuchten Websites der Welt zu Hause sind: Facebook, Google, YouTube, Yahoo und Wikipedia (Nummer fünf ist die chinesische Suchmaschine Baidu). Würden diese Unternehmen, gegründet von Absolventen der kalifornischen Stanford University, einen eigenen Staat bilden, wäre dieser mit einem Bruttoinlandsprodukt von 2,7 Billionen Dollar die zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt.1 Und in einem Bericht der Boston Consulting Group heißt es: „Wenn das Internet ein Land wäre, dann gäbe es in vier Jahren nur noch vier Länder auf der Welt mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt.“2

Dieses Land hat eine Hauptstadt, die nicht wie eine Hauptstadt aussieht. Sie sieht aus wie eine herrliche, eichenbestandene Hügellandschaft, überwuchert von Ansiedlungen: Einfamilienhäuser (die Villenanwesen liegen etwas abseits) und Einkaufszentren, hoffnungslos verstopfte Schnellstraßen und die monströsen Firmensitze der IT-Unternehmen, die ausnahmslos als „Campus“ bezeichnet werden.

Vor fünfzig Jahren war dies noch das „Valley of the Heart’s Delight“,3 eines der größten Obstanbaugebiete der Welt. Eine Herzenslust war das Leben hier allerdings nicht für alle. San Jose ist nicht zufällig der Gründungsort der Landarbeitergewerkschaft United Farm Workers, die in den 1960er Jahren von César Chávez aus der Taufe gehoben wurde: Die Leute, die all die Pflaumen und Aprikosen ernteten, arbeiteten in endlos langen Schichten und zu Hungerlöhnen. Aber der Anblick und der Duft von mehr als 50 000 Hektar Obstgärten müssen überwältigend gewesen sein.

Wo einst die Obstbäume wuchsen, hat sich Apple hingepflanzt. Die Arbeitszeiten sind immer noch extrem, aber die Branche zahlt enorme Gehälter. Die ewige Klage der IT-Angestellten ist es, dass sie keine Zeit haben, ihr Geld auszugeben. Allerdings gehen sie oft essen, weil ihnen kaum Zeit zum Einkaufen und Kochen bleibt, das ist gut für die Restaurants in San Francisco. In den Cafés aus den 1980er Jahren, wo man sich früher mit Freunden getroffen und stundenlang geredet hat, sitzen heute die Freiberufler bei der Arbeit. Und selbst die schickeren Lokale sind fest in der Hand von stummen Gestalten, die auf ihre Apple-Bildschirme starren, als wären in irgendeinem Büro plötzlich alle PCs ausgefallen. Neben den 44 000 festen Jobs in den mehr als 1 700 Unternehmen gibt es in San Francisco noch sehr viel mehr Freiberufler, die von kleineren Auftragsarbeiten leben. Nicht alle IT-Leute steigen in die schicken Busse nach Süden. Selbst junge Leute in der Branche kommen gewöhnlich auf sechsstellige Jahresgehälter – bei vielen von ihnen steht mehr als eine Eins am Anfang –, was die Immobilienpreise in der Gegend kräftig in die Höhe treibt. Die Fahrer im Google-Bus verdienen zwischen 17 und 30 Dollar die Stunde, nicht einmal 50 000 Dollar im Jahr.

Ich selbst habe den Dotcom-Boom der späten 1990er Jahre als Zuschauerin an mir vorüberziehen lassen. Aber letztes Jahr habe ich meine Wohnung an einen Google-Ingenieur verkauft – mit der Vorstellung, einen Teil des Geldes kurzfristig für Miete auszugeben und langfristig in eine neue Immobilie anzulegen. Wobei ich mit meiner langjährigen Erfahrung in der Stadt davon ausging, mit meinem ansehnlichen Finanzpolster werde das schon irgendwie klappen. Doch diese Zuversicht war bald dahin. Denn der Wohnungsmarkt in San Francisco ist so umkämpft, dass man auf jedes Angebot, das auf der einschlägigen Website Craigslist zu finden ist, binnen weniger Stunden reagieren muss, um überhaupt eine Antwort von einem Hausbesitzer oder Makler zu bekommen. In den Angeboten von Häusern und Wohnungen, zur Miete oder zum Kauf, war übrigens häufig die Entfernung zur Haltestelle des Google- und Apple-Busses angegeben. Bei den Besichtigungsterminen kommt man sich oft vor wie bei einem Popkonzert ohne Band. Die meisten Leute in dem Gedränge, die aussahen wie Studenten, rückten mit Scheckheften und ganzen Stapeln von Lebensläufen, Einkommensnachweisen und anderen Referenzen an. Es wurde aufgeregt erzählt, diese jungen Leute lieferten sich regelrechte Bieterschlachten, ganze Jahresmieten würden im Voraus angeboten und viel höher als verlangt. Diese Gerüchte haben sich absolut bewahrheitet.

Inzwischen sind Zwangsräumungen wieder so häufig wie in den Hochzeiten der Dotcom-Blase. Zwar genießen die meisten Mieter in San Francisco einen relativ guten Schutz vor Mieterhöhungen und Kündigungen; aber der kann mit allerlei Tricks ausgehebelt werden, was häufig zu erbitterten Auseinandersetzungen führt: rechtlichen wie illegalen. Ein Freund von mir, der nach einer Eigenbedarfskündigung des Wohnungsbesitzers ausziehen musste, hat eine neue Wohnung direkt neben seiner alten gefunden und wacht nun mit Argusaugen darüber, ob der Besitzer seiner früheren Wohnung auch tatsächlich die vorgeschriebenen drei Jahre darin wohnen bleibt.

In Kalifornien gibt es außerdem ein Gesetz, das es jedem Hausbesitzer erlaubt, sämtliche Mieter auf die Straße zu setzen, wenn er das Objekt in Eigentumswohnungen umwandeln und verkaufen will. Deshalb hat die an sich erfreuliche Mietpreisbindung oft den Effekt, dass Vermieter ihre Altmieter loswerden wollen, um die freien Wohnungen zu Fantasiepreisen verkaufen zu können.5 Frisch renoviert kommen sie dann auf den Markt: Bad und Küche mit Armaturen aus gebürstetem Edelstahl, kühle Fliesen, die Zimmer in neutralen Farben gestrichen, ganz nach dem Geschmack junger Technokraten.

Vor Kurzem wurde ein Latino, der seit vierzig Jahren eine Berühmtheit in der hiesigen Kulturszene ist, von seinem Vermieter an die Luft gesetzt, während seine Frau eine Chemotherapie machte. Einer der bekanntesten Dichter der Stadt wird gerade aus seiner Wohnung geworfen, in der er fünfunddreißig Jahre verbracht hat. Das ganze Gebäude, seit Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend Mietwohnungen, wird in Wohneigentum umgewandelt. Man weiß nicht, ob unser Poet ein bescheideneres Domizil wird ergattern können oder ob er ins Exil gehen muss. Und wie sieht die Zukunft einer Stadt aus, die sich kein Dichter mehr leisten kann?

Im letzten Jahr sind die Mieten in San Francisco je nach Viertel um 10 bis 135 Prozent gestiegen.5 Da viele Leute zuvor dank der Mietpreisbindung deutlich weniger gezahlt hatten, als der Markt noch vor dem Boom hergegeben hätte, fällt die Anpassung an das neue Preisniveau besonders hart aus. Auch zwei sehr beliebte und gut frequentierte Buchläden bekamen eine Räumungsklage, weil die Vermieter mehr Geld herausholen wollten. In derselben Gegend haben innerhalb eines Jahres sechzehn neue Restaurants aufgemacht. Larry Ellison ist der Chef des Softwareriesen Oracle und der sechstreichste Mensch der Welt. Er hat mit der Stadtverwaltung ausgehandelt, dass er die Piers 27, 28 und 29 an der San Francisco Bay, wo im September 2013 der America’s Cup stattfinden soll, für fünfundsiebzig Jahre kommerziell nutzen darf, wenn er dafür diese urbanen Filetstücke bis zum diesjährigen Start der ältesten Segelregatta der Welt renovieren lässt.6 Dass Ellison Dutzende kleiner Läden in Ufernähe räumen lassen wird, ist ein Teil der Abmachung. Solche Entwicklungen verändern den Charakter einer Stadt, in der über Jahrzehnte politische Dissidenten und Pazifisten, Schwule und Lesben, aber auch alle möglichen Lebenskünstler Zuflucht gesucht und gefunden haben.

Armut ist grausam für eine Stadt, aber Reichtum auch

Wie viele Städte, die in ihrer postindustriellen Phase aufgeblüht sind, wurde auch San Francisco im Lauf der letzten fünfundzwanzig Jahre ein teures Pflaster. Trotzdem leben hier immer noch viele Schriftsteller, politische Aktivisten, Umweltschützer oder einfach gesellschaftliche Außenseiter. Aber insgesamt sind Leute, die nicht 60 Stunden pro Woche für eine Firma arbeiten wollen, selten geworden. Denn Boomstädte vertreiben auch und gerade diejenigen, die für ein eher bescheidenes Einkommen wichtige Dienste leisten, zum Beispiel Lehrer, Feuerwehrleute, Automechaniker und Schreiner; aber auch Leute, die Zeit für soziales Engagement haben. Ich frage mich immer, wie eigentlich Verkäuferinnen oder die berühmten Tellerwäscher mit ihrem Geld auskommen. Und wie weit ihre Wohnungen wohl von ihrem innerstädtischen Arbeitsplatz entfernt sein mögen.

Letzten Sommer war ich bei einer Hausbesichtigung. In der Anzeige hatte es keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass das Haus bewohnt war. Es war ein schönes altes Haus, in dem die Besitztümer der Familie sich wie Sedimente abgesetzt hatten: ein Schlagzeug, Bibeln, verblasste Porträtfotos, Möbel mit der Patina vieler Jahre, Küchengegenstände, Kinderspielzeug. Es war eine Ausstellung all dessen, was verloren gehen würde. Der Makler stand an der Haustür und versicherte den Interessenten, sie bräuchten keine Räumungsklage anzustrengen, sie müssten nur die Miete so erhöhen, dass die Bewohner sie nicht mehr würden zahlen können. Die ihr ein Haus braucht, kommt und zerstört die Häuser der Armen.

In den ärmeren Vororten gehen, wie überall in den USA seit der Immobilienkrise 2008, die Zwangsvollstreckungen und Notverkäufe bei überschuldeten Eigenheimen unvermindert weiter, obwohl in vielen Fällen der erzielte Preis niedriger ist als die Hypothek, die auf dem Haus lastet. Dagegen kämpft das nachbarschaftliche Aktionsbündnis Occupy Bernal Heights mit Demonstrationen vor Banken und Protestkundgebungen vor Häusern.

Armut ist grausam und zerstörerisch. Doch Reichtum ist auch grausam und zerstörerisch. Die Vereinigten Staaten sind wie ein Schwarz-Weiß-Mosaik, zusammengesetzt aus Unterdruckregionen, wo es viel Zeit und Raum, aber wenig Geld gibt, und den Boomtowns mit Unmengen Geld und einem wahnwitzigen Tempo, wo der Wohnraum extrem knapp ist. In keiner von beiden Situationen ist das Leben besonders angenehm.

Der Hightech-Boom von San Francisco wird gern mit dem kalifornischen Goldrausch des 19. Jahrhunderts verglichen, von dem wir meist nur die niedlichen Bilder bärtiger Männer mit Spitzhacken im Kopf haben, die in ihren karierten Flanellhemden so ähnlich aussehen wie manche Szeneschwule der 1970er Jahre. Als im Frühjahr 1848 hier das erste Gold entdeckt worden war, gaben Angestellte ihre Jobs auf und Seeleute ließen ihre Schiffe im Stich. Die winzige Hafenstadt Yerba Buena, wie San Francisco damals hieß, war binnen kurzem verödet. An der Hauptader wurden manche reich; viele bezahlten das Abenteuer mit ihrem Leben, als Opfer von Epidemien, schlechter Ernährung, des harten Lebens und der Gewalt. Einige verloren ihr ganzes Geld wieder und schleppten sich zurück in die Vereinigten Staaten, wie die von Siedlern bewohnte Osthälfte des Landes damals genannt wurde, als der amerikanische Westen noch weitgehend den Indianern gehörte.

Das neue Eldorado war ein Außenposten, die Neuankömmlinge landeten hier meist mit dem Schiff. Genauso profitabel wie das Goldschürfen – und viel ungefährlicher – war es, die Goldgräber mit Lebensmitteln zu versorgen und ihnen Gelegenheiten zu geben, ihr Geld auszugeben. Die großen Vermögen wurden von Ladenbesitzern gemacht, solchen wie Levi Strauss, der Anfang der 1850er Jahre als Hausierer mit Kleidung und Kurzwaren in den Goldgräbersiedlungen begann, oder auch Leland Stanford, der zum Eisenbahnmagnaten aufstieg und 1891 die Stanford University gründete, aus der ein Jahrhundert später das Silicon Valley hervorgehen sollte. Die mexikanischen Bewohner Kaliforniens, die vor dem Goldrausch riesige Ranchs besessen und ein gutes Leben geführt hatten, wurden weitgehend enteignet. Noch härter traf es die indigenen Kalifornier: Sie wurden massakriert oder vertrieben. Von ihnen blieb nur etwa ein Fünftel übrig, und die Überlebenden mussten mit ansehen, wie die Goldminen ihr Land zerstörten.

Der Goldrausch bescherte San Francisco, wo zunächst vor allem zugewanderte junge Männer lebten, ein rasantes Wachstum. 1850 lebten in ganz Kalifornien 120 000 Menschen, 110 000 von ihnen Männer. 1852 machten die Frauen ein Zehntel der Bevölkerung aus, 1870 etwas mehr als ein Viertel. In dieser Zeit blühte die Prostitution: von den eleganten Kurtisanen, die im politischen und kulturellen Leben der Stadt eine einflussreiche Rolle spielten, bis zu den minderjährigen chinesischen Sexsklavinnen, die in „Krippen“ gehalten wurden. So nannte man die vergitterten Kabinen, in denen sie „arbeiten“ mussten, bis sie zu Tode geschunden waren.7

Der Boom trieb die Preise in fantastische Höhen: Ein Ei kostete in San Francisco 1848 einen Dollar. 1863 brach sogar ein „Eierkrieg“ um die Farallones Islands aus. Um diese 50 Kilometer vor der Küste im Pazifik liegenden Klippen stritten sich zwei Firmen, die es auf die Eier der dort nistenden Seevögel abgesehen hatten, weil die in Ermangelung von Hühnereiern sehr wertvoll waren.

Ein Ei für einen Dollar, Stiefel für einhundert

Ein Paar feste Stiefel kostete hundert Dollar, und die innerstädtischen Grundstücke waren so teuer, dass die Leute unter Wasser liegende Flächen in der Bucht kauften und durch Aufschüttung zu Baugelände machten. Auch die Löhne lagen sehr hoch, jedenfalls bis 1869. In diesem Jahr wurde die Central-Pacific-Eisenbahn fertig, die eine direkte Schienenverbindung zwischen der San Francisco Bay Area und dem Osten der USA herstellte. Danach strömten mehr und mehr arme Einwanderer von der Ostküste in die Bay Area, wo sie den arbeitslos gewordenen Eisenbahnarbeitern Konkurrenz machten.

Die Boomtown war auch ein Eldorado des Dienstleistungsgewerbes. In den berühmten „Annals of San Francisco“8 heißt es über das Jahr 1849: „Damals hatte man in San Francisco keine eigene Wohnung, und die Zeit war zu kostbar, als dass irgendjemand sein Essen selbst zubereitet hätte. Folglich aß die übergroße Mehrheit der Menschen in einem der zahllosen Restaurants, in Hotels oder Pensionen, die vielen sowohl Unterkunft als auch Verköstigung boten. Oft waren es freilich elende Schuppen, wo das Essen schlecht, der Service noch schlechter war, außerdem waren sie dreckig, unbequem und teuer. Die vereinzelten besseren Unterkünfte, die es gab, verlangten natürlich noch höhere Preise.“

In Boomtowns, damals wie heute, schwappt viel Geld hin und her, und doch prägt nicht Überfluss, sondern Mangel den Alltag. Auch die Arbeitskräfte in der heutigen Schiefergasförderung in Wyoming, North Dakota und in der kanadischen Provinz Alberta sind Neuankömmlinge. Sie haben lange Arbeitsschichten, bekommen hohe Löhne, treiben die Mieten in die Höhe, verdrängen Alteingesessene, essen außer Haus, trinken viel – und wenn sie suchtkrank werden oder Schlägereien anzetteln und ins Krankenhaus müssen, belasten sie die kommunalen Dienste.

In Wyoming beispielsweise gibt es etliche junge Männer, die bei einem Fracking-Unternehmen angeheuert haben und so viel Geld verdienen wie noch nie in ihrem Leben. Sie kaufen sich gute Wohnwagen und teure Zugfahrzeuge, sie gönnen sich extravagante Vergnügen, alles auf Kredit. Und dann werden sie aus irgendeinem Grund arbeitsunfähig, und ihr Leben fällt auseinander. In North Dakota hat das Fracking viele Böden verseucht und Farmer in den Ruin getrieben. Hier mussten die indigenen Amerikaner den Trailer-Park, in dem sie jahrzehntelang gelebt hatten, räumen und Platz für besser zahlende Arbeiter mit nagelneuen Wohnwagen machen. Wie ein Virus zerstört die Fracking-Industrie die von ihr befallene Landschaft, um anschließend weiterzuziehen. Im Westen der USA trifft man überall auf Geisterstädte, wo das lokale Gewerbe dahinsiecht. Umgeben sind sie von einer Geisterlandschaft mit Hügeln aus geschredderter Erde und Tümpeln voller giftiger Rückstände.

In gewisser Hinsicht ist Silicon Valley ganz anders: Es bietet saubere, ruhige Arbeitsplätze, die in der einen oder anderen Form sogar bleiben werden. Aber auch der IT-Boom ist eben nur ein weiterer Boom für die San Francisco Bay Area: Die Arbeitskräfte kommen und gehen, die Mieten und Immobilienpreise steigen ins Unermessliche, Alteinwohner müssen weichen, stellenweise wird die gewachsene Stadtlandschaft ausradiert.

Mir kommt das alles wie eine moderne Variante des amerikanischen Pioniergeists vor, mit den sattsam bekannten Verhaltensweisen und der entsprechenden Einstellung: Bindungslose Menschen ziehen irgendwo hin, tun Dinge, ohne sich groß um die Auswirkungen zu kümmern, gehen ziemlich leichtsinnig mit Geld um und setzen ebenso leichtsinnig ihr Leben aufs Spiel.

So gesehen passt der Google-Bus vielleicht zu dem einen Gesicht des janusköpfigen Kapitalismus: Er bringt Leute zur Arbeit, die zu wertvoll sind, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder im eigenen Auto zu fahren. Diese wertvollen Menschen bewegen sich im selben Raum, in dem Obdachlose vagabundieren, denen weder eine Privatsphäre noch ein Minimum an Komfort und Sicherheit zugestanden werden. Gleich neben der Haltestelle des Google-Busses an der Cesar Chavez Street stehen auch Migranten aus Lateinamerika, die darauf warten, von einem Bauunternehmer für einen Tag angeheuert – oder von der Polizei festgenommen und abgeschoben zu werden.

Fußnoten: 1 Studie von Charles Eesley und William F. Miller: news.stanford.edu/news/2012/october/innovation-economic-impact-102412.html. 2 Zitiert nach: Silicon Valley Business Journal, 20. März 2012. 3 „The Valley of Heart’s Delight“ ist der Titel eines US-Films von 1948, der das ländliche Leben in Santa Clara Valley, dem heutigen Silicon Valley, schildert. 4 Die Spekulationsblase entstand ab 1995 durch die Gründung vieler neuer Dotcom-Firmen der „New Economy“ (Internet- und Mobiltelefonbranche). Ihr Platzen im März 2000 löste einen großen Börsencrash aus. 5 Die Zahl solcher Kündigungen ist im letzten Jahr um 81 Prozent gestiegen. Siehe April Demosky, „Technology bonanza drives San Francisco housing boom“, Financial Times, 1./2. Juni 2013. 6 Siehe www.americascup.com/experience. 7 Die Erwartung dieser minderjährigen Prostitutierten lag bei vier „Berufsjahren“. Siehe National Women’s History Museum: www.nwhm.org/online-exhibits/chinese/resources.html#24. 8 Das Buch wurde 1855 von den Journalisten Frank Soul, John H. Gihon und James Nisbe als „Chronik von Augenzeugen“ verfasst. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Rebecca Solnit ist Kulturhistorikerin und Umweltaktivistin. Auf Deutsch erschien zuletzt: „Die Kunst, sich zu verlieren: Ein Führer durch den Irrgarten des Lebens“, Zürich (Pendo) 2009. © London Review of Books, für die deutsche Übersetzung: Le Monde diplomatique, Berlin

Betr.: San Francisco 1914

San Francisco 1914, in dem Jahr, als der Panamakanal eröffnet wurde. Durch die neue Wasserstraße zwischen Atlantik und Pazifik verkürzte sich die Reisezeit von New York nach San Francisco um ganze drei Wochen. Die Panoramaaufnahme hing auf der Weltausstellung, die 1915 in San Francisco stattfand akg

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Rebecca Solnit