14.06.2013

Der Einwanderer als Investition

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Der Einwanderer als Investition

Das neue Gesetz zur US-Staatsbürgerschaft von Benoît Bréville

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Für die einen sind die Einwanderer eine Bedrohung – Arbeitsplatzdiebe, Sozialhilfeschmarotzer oder eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die anderen sehen in ihnen fleißige Arbeitskräfte, die Tätigkeiten verrichten, mit denen sich die Einheimischen nicht mehr abgeben wollen, oder engagierte Unternehmer, die ohne einen Cent ins Land gekommen sind und ihre eigene Firma gründen. Eine Last für die Nation oder ein Segen für die Volkswirtschaft?

Die amerikanische Rechte ist in der Frage der Einwanderung seit Jahrzehnten gespalten: Die Konservativen sehen die amerikanischen „Werte“ durch die Zuwanderer bedroht, während die Neoliberalen eine stärkere Öffnung der Grenzen fordern, um das Wirtschaftswachstum zu stimulieren.

Mitt Romney, der republikanische Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2012, gehört zur ersten Fraktion. Er forderte Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung zur „Selbstabschiebung“ in ihre Herkunftsländer auf – sonst werde sich die Polizei darum kümmern. Davon waren die Millionen Latino-Wähler, die auf die Einbürgerung eines Verwandten hoffen, nicht sehr begeistert: Romney erhielt nur 27 Prozent ihrer Stimmen, Obama hingegen 71 Prozent.

„Die Leute lassen sich von uns nicht gern etwas über Probleme des Wirtschaftswachstums, über die Staatsquote oder die Sozialversicherungskosten erzählen, wenn sie gleichzeitig denken, dass wir ihre Großmutter abschieben wollen“, kommentierte der neue Star der Tea Party, Senator Marco Rubio aus Florida, das Wahlergebnis. Wenn die Republikaner die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen wollen, und nicht nur die Kongresswahlen, bei denen sich ihre Kandidaten dank der Wahlkreiseinteilung auf eine solide weiße Wählerschaft stützen können, müssen sie ihre Rhetorik in Sachen Einwanderung überdenken.

Kein Wunder also, dass sich konservative Wortführer seit einigen Monaten ständig zu Wort melden, um die Wirtschaftsbilanz der Einwanderung zu loben. „Die USA sind das reichste Land der Welt und zugleich am offensten für Ausländer. Das ist kein Zufall“, erklärte zum Beispiel Grover Norquist, ein einflussreicher Kämpfer gegen Steuern. „Wer will, dass wir weniger offen sind, macht uns weniger brillant, weniger wohlhabend und ganz gewiss weniger amerikanisch.“1

Einige Tage später sprach sich auch Paul Ryan, Kongressabgeordneter aus Wisconsin und ehemaliger Vizepräsidentschaftskandidat der Republikaner, für eine stärkere Öffnung der Grenzen aus: „Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Wirtschaft im 21. Jahrhundert ankommt. Das heißt auch, dass wir die Besten und die Klügsten hier in Amerika halten müssen, alle, die etwas beitragen, hart arbeiten, die Spielregeln einhalten und vorankommen wollen. Das bedeutet Einwanderung, und davon profitieren alle im Land.“2

Angesichts dieses ideologischen Wandels konnte Barack Obama die im Wahlkampf versprochene Reform der Einwanderungspolitik schon kurz nach seiner Wiederwahl angehen. Bereits im Dezember 2012 setzte sich eine Gruppe von acht Senatoren beider Parteien (darunter Marco Rubio) zusammen, um einen Gesetzentwurf zu erarbeiten. Wenige Monate später wurde dem Senat in ungewohnter Einigkeit ein 844 Seiten starkes Dokument vorgelegt: Das Gesetz über Grenzsicherung, wirtschaftliche Chancen und Modernisierung der Einwanderung (Border Security, Economic Opportunity, and Immigration Modernization Act). Noch im Juni dieses Jahres soll der US-Senat über den Entwurf abstimmen. Was enthält dieser Entwurf, der vom Cato Institute (neoliberal) bis zum Center for American Progress (Mitte links), von der US-Handelskammer bis zum größten Gewerkschaftsverband AFL-CIO, vom Wall Street Journal (konservativ) bis zum Fernsehsender MSNBC (prodemokratisch), also von allen wichtigen Kräften des Landes unterstützt wird?

Die seit Langem von Bürgerrechtsorganisationen geforderte Legalisierung von Millionen illegaler Einwanderer ist die bemerkenswerteste und vielversprechendste Maßnahme des Gesetzentwurfs – aber auch die umstrittenste. Ein Teil der Rechten wehrt sich gegen diese angebliche „Amnestie“ und sieht darin eine Belohnung von Straftätern. Um diesen Flügel der Republikaner zu beschwichtigen, dessen Zustimmung im Kongress nötig sein wird, ist der in dem Entwurf vorgesehene „Weg zur Staatsbürgerschaft“ für die Illegalen absichtlich lang, teuer und ungewiss.

Die elf Millionen illegalen Einwanderer, die vor dem 31. Dezember 2011 in die USA gekommen sind, erhalten zunächst einen „provisorischen Status“ für zehn Jahre, allerdings nur wenn sie eine Geldstrafe, rückwirkend Steuern (sofern sie schwarz gearbeitet haben) und eine Verwaltungsgebühr von mehreren hundert Dollar zahlen. Nach diesen zehn Jahren, in denen sie Steuern zahlen müssen, jedoch von zahlreichen staatlichen Leistungen (Medicaid, Krankenversicherung, Sozialversicherung) ausgeschlossen sind, erhalten sie eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung (Greencard), mit der sie nach weiteren drei Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen können.

Zehn Grenzschützer pro Meile

Diese erhalten sie jedoch erst, nachdem sie eine ganze Reihe von Tests (Sprache, Staatsbürgerkunde und so weiter) absolviert haben und wenn sie nicht vorbestraft sind. Der kleinste Verstoß kann dreizehn Jahre Mühen zunichtemachen. Die Älteren – die womöglich sterben, bevor sie ihren „Weg“ hinter sich gebracht haben –, die Armen – die den Preis für ihre Legalisierung nicht bezahlen können – und die nach dem schicksalhaften 31. Dezember 2011 Gekommenen bleiben von der Reform ausgeschlossen.

Zudem haben die acht Senatoren die Reform an die Vorbedingung einer Verstärkung der Grenzkontrollen geknüpft. Die Behörden schätzen, dass derzeit 40 Prozent der illegalen Grenzübertritte verhindert werden. Diese Quote soll auf 90 Prozent steigen, was nur durch eine massive Aufrüstung zu erreichen sein wird. Man rechnet bereits mit zehn Grenzschützern pro Meile der US-mexikanischen Grenze. „Die Abgeordneten, die die Einwanderungsreform ausgebrütet haben, wollten den Weg zur Staatsbürgerschaft offenbar erschweren und nicht erleichtern“, urteilt die linke Zeitschrift Counterpunch.3 Doch weil dieser steinige Weg einigen Rechten immer noch zu einfach ist, werden sie ihn womöglich lieber ganz versperren.

Die Debatte über diese (stark eingeschränkte) Massenlegalisierung hat ein anderes nicht weniger kontroverses Kapitel der Reform in den Hintergrund gedrängt: die Erteilung von Arbeitsvisa. Dabei lässt sich auch daraus einiges über das Einwanderungskonzept ablesen, das sich in den USA mehr und mehr durchsetzt. An der Frage der Arbeitsvisa sind in der Vergangenheit bereits mehrere Gesetzentwürfe gescheitert, zuletzt 2007 die Initiative von George W. Bush. Der damalige US-Präsident hatte von der AFL-CIO und der Handelskammer verlangt, sich auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen. Die Gewerkschaft fürchtete jedoch, dass der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte die Löhne drücken werde, und konnte sich nicht mit den Arbeitgebern einigen, die ihrerseits die Reserve an Arbeitsimmigranten vergrößern wollten.

Seither tun unterschiedliche Organisationen alles, was sie können, um die Zahl der jährlich erteilten Visa zu erhöhen: die Vereinigung der Bauunternehmer, die Handelskammer, Landwirtschaftsverbände und Thinktanks wie das Cato Institute, die Brookings Institution und die ImmigrationWorks USA. Erst kürzlich haben auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und einige Kollegen aus Silicon Valley eine Initiative gestartet, die sich für eine erleichterte Vergabe von Visa an hochqualifizierte Fachkräfte einsetzt.4

All diese Bemühungen zahlten sich schließlich aus. Im Februar dieses Jahres stellten die Präsidenten der Handelskammer und der AFL-CIO, Thomas Donahue und Richard Trumka, eine gemeinsame Erklärung vor, deren Inhalt direkt in das Projekt zur Einwanderungsreform aufgenommen wurde. „Wir haben ein neues Modell, ein modernes Visasystem geschaffen“, brüstete sich Trumka, der in den legalen Einwanderern künftige Gewerkschaftsmitglieder sieht. Wenn man den Gesetzestext liest, ist Modernisierung allerdings nicht gleichbedeutend mit gewerkschaftlicher Organisation; sie bedeutet auch größere Flexibilität und eine verschärfte Unterordnung unter die Bedürfnisse der Unternehmen, die, wenn das Gesetz angenommen wird, die Einwanderungsströme nach Belieben lenken könnten.

Die Zahl der Ingenieure, Wissenschaftler oder Mathematiker, die jedes Jahr zum Arbeiten in die USA kommen dürften, würde von derzeit 65 000 auf 110 000 und in Zeiten starken Wachstums sogar auf 180 000 steigen. Eine solche Abwanderung von Hochqualifizierten (Braindrain) käme die Herkunftsländer teuer zu stehen. Außerdem würden ausländische Wissenschaftler, die an US-Universitäten ausgebildet wurden, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten, nicht mehr wie derzeit ein Einjahresvisum. Gegenwärtig werden in China und in Indien jedes Jahr fünf- bis zehnmal so viele Ingenieure ausgebildet wie in den USA. Mit dem neuen Gesetz will man im Wettbewerb um Hochschulabsolventen wieder konkurrenzfähig werden.

Ein neues Visum, das sogenannte W-Visum, soll darüber hinaus auch die Einreise unqualifizierter Arbeitskräfte erleichtern und den Branchen helfen, die unter Arbeitskräftemangel leiden: Gastronomie, Hotellerie, Großhandel, Pflegedienstleistungen und andere Niedriglohnsektoren, die sich nicht ins Ausland verlagern lassen und bei denen die Einstellung ausländischer Arbeitskräfte geringe Lohnkosten und damit niedrige Preise garantiert. „Dank der Arbeit unqualifizierter Einwanderer sinken die Kosten für Nahrung und Dienstleistungen in Privathaushalten und für die Kinderbetreuung. Das Lebensniveau steigt, und mehr Frauen können es sich leisten, arbeiten zu gehen“,5 freut sich der konservative Kommentator David Brooks.

Die US-Handelskammer forderte gleich 400 000 dieser neuen Visa, die AFL-CIO wollte nur 10 000. Festgelegt wurden 20 000 im ersten, 35 000 im zweiten, 55 000 im dritten und 75 000 im vierten Jahr nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes. Danach soll die Zahl jedes Jahr vom eigens geschaffenen Amt für Einwanderung und Arbeitsmarktforschung (Bureau of Immigration and Labor Market Research) festgelegt und den Bedürfnissen der Unternehmen angepasst werden, jedoch 200 000 nicht überschreiten. Diese bedarfsorientierte Planung bei der Visavergabe stärkt den Einfluss des Privatsektors. „Die Marktkräfte können am besten bestimmen, wie viele und welche Einwanderer die Arbeitgeber einstellen wollen“, erklärt der arbeitgebernahe Thinktank American Entreprise Institute. Allein von Politikern oder Beamten festgelegte Quoten könnten nicht schnell genug auf die Entwicklung der Wirtschaft reagieren.

Aber wie definiert man einen Arbeitskräftemangel? Wie schätzt man sein Ausmaß ein? Davon steht im Gesetz kein Wort. Diese Unklarheit könnten die Arbeitgeber nutzen, um die Löhne zu drücken oder zumindest ihren Anstieg zu verhindern, erklärt der frühere Arbeitsminister Robert Reich, der heute an der Universität in Berkeley Ökonomie lehrt: „Sobald eine wachsende Nachfrage die Löhne nach oben treibt, können die Arbeitgeber einen Arbeitskräftemangel verkünden und so den Zustrom von mehr ausländischen Arbeitern ermöglichen, um die Lohnsteigerung zu verhindern.“6

Hinzu kommt, dass die Anzahl der Visa für Familienzusammenführungen beschränkt werden soll. Unter anderem sollen Geschwister und verheiratete Kinder über 31 davon ausgeschlossen sein. Und weil der Zufall in dieser von Marktgesetzen bestimmten Welt auch keinen Platz mehr hat, sieht der Gesetzentwurf die Abschaffung der Greencard-Lotterie vor, bei der jedes Jahr 55 000 Ausländer eine ständige Aufenthaltsgenehmigung für die USA gewinnen können. An ihre Stelle tritt eine Vergabe nach Verdiensten, die den Beruf des Antragstellers, seine Qualifizierung, sein Herkunftsland, die Beherrschung des Englischen und Ähnliches berücksichtigt. Insgesamt also eine ausgewählte, gefilterte Einwanderung, bei der die Launen des Losglücks den wirtschaftlichen Erfordernissen nicht mehr in die Quere kommen können.

In einem Land, in dem alles einen Preis hat, wird der Einwanderer immer mehr als „langfristige Investition“ wahrgenommen, als ein Posten in einer nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung. Es gab sogar schon den Vorschlag, Arbeitsvisa an die Unternehmen zu versteigern. Durch ein solches System könne man anhand der „Wertsteigerung der Arbeitsgenehmigungen die Höhe der Nachfrage nach Einwanderern ablesen und die jährlichen Visazahlen anpassen“.7

Fußnoten: 1 Grover Norquist, „Immigration is a no-brainer to help the economy“, The Guardian, London, 24. April 2013. 2 Gerald F. Seib, „Ryan takes a key role on immigration“, The Wall Street Journal, New York, 30. April 2013. 3 Mark Vorpahl, „The Argument for Amnesty“, Counterpunch, 5. Februar 2013. 4 Bevor Unternehmen eine/n AusländerIn einstellen können, müssen sie nachweisen, dass sie erfolglos versucht haben, die Stelle mit einem US-Bürger zu besetzen. 5 David Brooks, „The easy problem“, The New York Times, 31. Januar 2013. 6 Robert Reich, „What immigration reform could mean for American workers, and why AFL-CIO is embracing it“, 2. April 2013: www.robertreich.org. 7 Giovanni Peri, „The economic windfall of immigration reform“, The Wall Street Journal, 12. Februar 2013. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Benoît Bréville