Landnahme am Bío-Bío-Fluss
Die chilenischen Mapuche wollen ihre Territorien zurück, doch das stört mächtige Wirtschaftsinteressen von Alain Devalpo
Die Nacht senkt sich über die Hügel der Gemeinde Chekenko. So weit das Auge reicht, ist die Landschaft mit Fichten und Eukalyptus bedeckt. Es herrscht beißende Kälte, und die Feuer lodern schon. Die machi, die Schamanin, erhebt sich von ihrem Ruheplatz unter einem Schutzdach und greift zur Trommel, dem kultrún. Damit beginnt das guillatún, eine traditionelle Zeremonie des Mapuche-Volks.
Es ist ein besonderes guillatún an diesem 6. November 2005, zum Gedenken an Alex Lemun, einen siebzehnjährigen Mapuche, der 2002 von einem Carabinero, einem Beamten der Nationalpolizei, erschossen wurde. Der Einladung seiner Familie sind sogar Gäste aus der 700 Kilometer nördlich gelegenen Hauptstadt Santiago gefolgt. Andere haben das Risiko auf sich genommen, vorübergehend aus dem Leben im Untergrund aufzutauchen. Viele Oberhäupter benachbarter Dorfgemeinschaften waren allerdings am Kommen gehindert: Sie verbüßen Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.
Die Schatten sammeln sich um den réwé in der Mitte des Feldes, die in einen Baumstumpf gehauene Skulptur einer zum Himmel führenden Treppe. Sie grüßen die vier Himmelsrichtungen und beginnen einen Rundtanz. Angeführt von der machi, wenden sich die Mapuche singend an die Geister.
Solche Gesänge wollen die chilenischen Behörden nicht mehr hören.
„Fünfzehn Jahre nach dem Ende der Diktatur hat unser Land mit seiner angeblich beispielhaften Demokratie immer noch keine gesetzlichen Rahmen zum Schutz der indigenen Völker“, beklagt die chilenische NGO ODPI, die die Einhaltung der Rechte indigener Völker beobachtet.1 Die Verfassung erkennt die ethnische Vielfalt dieses Landes nicht an; Chile es ist auch eines der wenigen Länder des Kontinents, die den internationalen Vertrag über die Rechte der indigenen Völker, die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), nicht ratifiziert haben.
Acht autochthone Völker leben auf chilenischem Gebiet.2 Eine umstrittene Studie aus dem Jahr 2000 schätzt die indigene Bevölkerung auf 700 000 Personen oder 4,5 Prozent der 15 Millionen Einwohner Chiles. Von ihnen sind 85 Prozent Mapuche.3 Mapuche bedeutet, wörtlich übersetzt, „Menschen der Erde“. Ihr traditioneller Lebensraum ist das Gebiet südlich des Flusses Bío-Bío, das von den spanischen Konquistadoren Araukanien getauft wurde.4
Trotz ihres erbitterten Widerstands gegen die Spanier und später gegen den chilenischen Staat mussten die Mapuche 1883 nach der guerra de pacificación („Befriedungskrieg“) kapitulieren. Gemäß den für ihren Landbesitz ausgestellten Rechtsurkunden, den titulos de merced, wurde ihr bis dahin 10 Millionen Hektar umfassendes Gebiet auf 500 000 Hektar beschränkt. Gleichzeitig begann die Regierung in Santiago, nach dem Motto „Freiwillig oder mit Gewalt“ Siedler in das Gebiet zu schicken.
„Meine Vorfahren sind 1906 auf Einladung der Regierung hierher gekommen. Sie bekamen ein Stück Land, 200 Bretter, eine Kiste Nägel und ein Paar Ochsen“, erzählt der deutschstämmige Jorge Luchsinger.5 Luchsinger ist heute der reichste Grundbesitzer der IX. Region (Araucanía).6
Während des 20. Jahrhunderts haben die Mapuche ein Schattendasein geführt. Sie sind auf engem Raum zusammengepfercht und verarmt. Aus dem einst autonom lebenden Volk ist eine unterdrückte ethnische Minderheit geworden. Ein Lichtblick bot sich Anfang der 1970er-Jahre mit der Agrarreform unter Salvador Allende. Aber die Diktatur von General Pinochet (1973 bis 1989) brachte den Assimilationsdruck zurück. Pinochet erkaufte sich durch eine Politik der Hilfeleistungen die Gunst einiger lonkos (Mapucheführer) und öffnete gleichzeitig einer neuerlichen Invasion des Mapuche-Gebiets Tür und Tor: dem Einzug forstwirtschaftlicher Unternehmen.
„Damals hat sich Señor Pino hier niedergelassen“, erinnert sich Elvira, die in der Gemeinde Pasqual Coña am Ufer des Lleu-Lleu-Sees südlich der Stadt Cañete lebt. „Dieser winka7 kam aus den Vereinigten Staaten, er kannte sich aus mit der modernen Technik, und er hat es verstanden, die Leute hereinzulegen. Er hat sich 70 der 120 Hektar des Landes unter den Nagel gerissen, das nach den Urkunden uns gehört, und ist ein Feudalherr geworden.“
Mehr als die Hälfte der Ländereien war nun eingezäunt, und für die Familien blieben nicht mehr als jeweils drei bis fünf Hektar – zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. „Ich hatte nur zwei Ochsen, ein Schwein und ein paar Schafe. Die Familien sind gewachsen, und das Land, das wir uns teilen mussten, war noch kleiner als das, was uns auf dem Papier zustand.“
Mit der Rückkehr der Demokratie kam neue Hoffnung auf; aber bald schon fühlten sie sich abermals verraten. Ein neues Gesetz zum Schutz indigenen Landeigentums wurde im Oktober 1993 verabschiedet – von Parlamentariern, die zum Teil ihre eigenen Interessen in Sachen Landbesitz hatten. Die Umsetzung des Gesetzes durch die parallel gegründete Nationale Kommission für indigene Entwicklung (Conadi) ging nur schleppend voran. „Uns fehlte es vor allem an Geld“, versichert ein Mitglied des neuen Vorstands der Conadi, der nach verschiedenen Skandalen die Leitung übernommen hat. „Den Mapuche sind nur 375 000 Hektar zurückerstattet worden. Und oft sind es schlechte Böden.“
Der Anthropologe Fabien Le Bonniec von der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris kommt in einem Forschungsbericht zu dem Schluss: „Die Conadi erwies sich als bürokratische Instanz zur Beherrschung und manchmal sogar Negation der Mapuche-Kultur.“
Unterdessen macht die Aktivität der Forstwirtschaft riesige Fortschritte; dieser Industriezweig befindet sich zu 60 Prozent in den Händen der Familien Matte und Angelini, die zwei der mächtigsten Sippen im ganzen Land sind. Die Mattes besitzen doppelt so viel Grund und Boden wie alle Mapuche-Gemeinschaften zusammen. Über die üppigen Wälder Araukaniens hat der Dichter Pablo Neruda, der aus dieser Gegend stammte, viel geschrieben.
Die Holzfirmen sind als Nachbarn nicht beliebt
Heute weicht der einstige Reichtum des Waldes in zunehmendem Maße der monotonen Landschaft von Kiefer- und Eukalyptuspflanzungen für die Herstellung von Zellulose, die hauptsächlich nach Japan exportiert wird. Kiefern und Eukalyptus nehmen bereits 2,1 Millionen Hektar ein, und für 2006 liegen die Voraussagen bei 2,6 Millionen. „Es gibt keine schlimmeren Nachbarn als die Holzfirmen“, meint Aniceto Lorin, ein lonko, der in Traiguén im Gefängnis sitzt. „Die Brunnen trocknen aus, die Luft wird verpestet, die Tiere werden krank.“
Viele wandern in die Elendsgürtel um die großen Städte ab, nach Temuco, Concepción, aber vor allem nach Santiago. Heute lebt die Mehrheit der Mapuche im urbanen Raum. Die Frauen können dort bestenfalls von einer Dienstbotenstelle träumen und die Männer, sofern sie bereit sind, ihren Namen zu „chilenisieren“, von einem Hilfsarbeiterjob. „Die Diskriminierung ist institutionalisiert“, sagt Ariane Chenard, eine kanadische Soziologin in Santiago. „Die Generation der Großeltern musste ihre Identität verbergen, um sich zu integrieren. Aber die Jungen scheinen sich als Antwort auf die alltägliche Ausgrenzung wieder auf ihre Wurzeln zu besinnen.“
Der fünfundzwanzigjährige Simon ist Mitglied der Nichtregierungsorganisation Meli Wixan Mapu und lebt im Viertel Cerro Navia in Santiago. „Seit zehn Jahren bin ich wieder ein Mapuche“, erzählt er. „Ich liebe die Stadt und habe nicht vor, aufs Land zu ziehen. Das ist vielleicht etwas widersprüchlich, aber indem ich mich für die Kultur meiner Ahnen einsetze und die Öffentlichkeit auf die Situation in den Gemeinschaften hinweise, fühle ich mich als Mapuche.“
Die Rückeroberung der ethnischen Zugehörigkeit begann Anfang der 1990er-Jahre. Am Ufer des Lleu-Lleu-Sees lebt der 35-jährige José. Der Vater von zwei kleinen Töchtern ist untergetaucht und hält sich im Umkreis einiger Dorfgemeinschaften, die ihn schützen, versteckt. „Ich habe mich vor zehn Jahren dem Kampf angeschlossen und bin ein werken geworden, ein Bote bei der Coordinadora Arauco-Malleco. Die Obrigkeit war taub für unsere Forderungen, da haben wir angefangen zu handeln und haben uns die Böden, auf die wir Rechtstitel besitzen, zurückgeholt.“
Für José und seine Gefährten interessiert sich die Justiz. Die CAM galt zunächst als „unerlaubte“ Organisation und dann, nach den Attentaten vom 11. September 2001, als „terroristische Vereinigung“.
Das Ufer des Lleu-Lleu-Sees ist nur wenige Kilometer von den Stränden des Pazifiks entfernt und weckt vielerlei Begehrlichkeiten. Ein Investor will dort eine Ferienanlage bauen, außerdem ist dort kürzlich ein seltenes Mineral entdeckt worden, aus dem das wertvolle Element Skandium gewonnen werden kann. Weitere Prospektionsarbeiten sind im Gange. Zu allem Überfluss dehnt sich der Holzkonzern Mininco S.A. immer weiter aus. Das Unternehmen stützt sich auf eine einflussreiche Vetternwirtschaft und bestimmt Wohl und Wehe der ganzen Region. Es bedient sich ohne Einwilligung der indigenen Eigentümer und ohne Entschädigungsleistung des Lands der Mapuche.
In einer ähnlich unangenehmen Situation befindet sich die Gemeinde Temulemu, zwischen der Mininco und den Ländereien des Exministers Juan A. Figueroa, der jetzt Mitglied des Verfassungsgerichts ist. 1994 gab es einen Streit um 50 Hektar Boden, der zwei lonkos, Pascual Pichun und Aniceto Lorin, über ein Jahr Untersuchungshaft einbrachte. Ihre Einstufung als „Terroristen“ erlaubte es der Staatsanwaltschaft, anonyme Zeugen vorzuladen, was die Verteidigung der Angeklagten sehr erschwerte. Dennoch wurden sie mangels Beweisen freigesprochen.
Das Urteil schmeckte Herrn Figueroa nicht, der nun kraft seines Amtes die Wiederaufnahme des Verfahrens erwirkte. Die lonkos landeten wegen eines Drohbriefs, dessen Urheberschaft sie immer bestritten hatten, für fünf Jahre und einen Tag im Gefängnis. „Die Repression läuft gezielt. Wir bezahlen dafür, dass wir die lonkos rebellischer Gemeinschaften sind“, sagt Pascual Pichun. Sein Sohn Rafael sitzt an seiner Seite – er ist ebenfalls in Haft.
Seit 1997 wurden 400 Personen strafrechtlich verfolgt. „Mein Mann versteckt sich schon zwei Jahre“, weint Rosa, die mit zwei kleinen Kindern in ihrer aus Brettern zusammengezimmerten Hütte lebt. „Die Hüter der chilenischen Gerechtig…“ – sie verbessert sich –, „der chilenischen Ungerechtigkeit werfen ihm Terrorismus vor. Ich dachte, für so eine Anklage müsste man Bomben gelegt und Menschen getötet haben.“ Für solche von den Ordnungskräften schikanierten Familien bedeutet die Inhaftierung oder das Untertauchen eines Angehörigen einen Mann weniger bei der schweren Landarbeit und damit noch mehr Elend. Eine Gemeinschaft, die ihre machi oder ihren lonko verliert, steht ebenfalls hilflos da.
Die lonkos aus Traiguén, beide Anfang fünfzig, sind empört über die Einstufung als „Terroristen“; wesentlich radikaler äußern sich die Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis von Angol, wo Patricia Troncoso, Jaime und Patricio Marileo und Juan-Carlos Huenlao wegen „terroristischer Brandstiftung“ eine Strafe von zehn Jahren und einem Tag absitzen. Eine Generationsfrage, meint Patricia, genannt „La Chepa“, 36 Jahre alt und ehemalige Theologiestudentin, deren Großeltern nach Santiago gegangen waren. Ende der 1990er-Jahre ist sie ins Land der Mapuche zurückgekehrt: „Es ist ein politischer Kampf. Es geht um das Überleben oder das Verschwinden des Mapuche-Volks.“ Wie ihre Gefährten fordert sie die Anerkennung als politische Gefangene.
„In Chile gibt es keine politischen Gefangenen mehr“, wettert Ernesto Barros in seinem Büro im Präsidentenpalast La Moneda. „Das 1984 [von Pinochet] erlassene Antiterrorgesetz ist zweimal, 1991 und 1997, von einem demokratisch gewählten Parlament revidiert worden. Es ist vollkommen legitim, dass es auf Leute, die Terror ausüben, auch angewandt wird.“
Rechtsanwalt Pablo Ortega teilt diese Meinung nicht. „Ihnen geht es um die Anerkennung territorialer und kultureller Rechte. Sie leisten friedlichen Widerstand gegen einen Prozess der Marginalisierung und gegen einen Staat, der keinen Hehl aus seinem Willen zur Zwangsassimilierung macht. Das ist durchaus ein politisches Ziel.“ Diese Einstellung kommt den Anwalt teuer zu stehen: Er ist Ziel einer verleumderischen Pressekampagne, und sein Telefon wird abgehört. Und er ist kein Einzelfall. Auch Myriam Reyes García, die La Chepa und ihre Gefährten vor Gericht verteidigt hat, ist in Schwierigkeiten: Ihr wird vorgeworfen, sie habe der Presse ein vertrauliches Dokument zugespielt. Für die ODPI handelt es sich um „einen Akt der Repression gegen eine Anwältin, die die Rechte der Mapuche-Gemeinschaft vertritt“.
„Wir haben ein Gesetz zum Schutz der indigenen Rechte erlassen“, hält Barros dagegen. „Wenn die Mapuche Forderungen haben, sollen sie ihre Interessen auf politischer Ebene vertreten.“ Doch auf diesem Terrain haben sie vergeblich Fuß zu fassen versucht. Man sieht es an der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur des Mapuche-Sprechers Aucán Huilcamán. Der Vierzigjährige, Mitglied einer der wichtigsten Mapuche-Organisationen, des Consejo de Todas las Tierras, wollte den jüngsten Präsidentschaftswahlkampf nutzen, um den Forderungen der Indígenas öffentliches Gehör zu verschaffen. Die Medien zeigten sich anfangs höchst interessiert, jedoch nur am folkloristischen Aspekt seiner Kandidatur – sein Einzug in Santiago auf einem weißen Pferd war die Sensation des Tages. Um die Gründe seines Ausschlusses kümmerten sie sich wenig.
„Als unabhängiger Kandidat musste Huilcamán 36 000 Unterschriften vorweisen“, erklärt Lautaro Loncon, der an der Kampagne mitgewirkt hat, deren Scheitern. „Und jede einzelne musste notariell beglaubigt sein.“ Die Kosten dieser Beglaubigung: schätzungsweise 180 000 Millionen Peso (285 000 Euro), eine Summe, die der Consejo unmöglich aufbringen konnte. Außerdem „haben sich die meisten Notare geweigert, überhaupt mitzuspielen. Manche wollten im Voraus bezahlt werden, andere haben die Öffnungszeiten beschränkt. In Santiago waren auf Anfrage nur zwei von sechzehn Notaren zur Mitwirkung bereit, und von den 39 000 Stimmen, die wir gesammelt hatten, konnten nur 3 600 beglaubigt werden.“
Ein Erfolg im Parlament – und dann die große Enttäuschung
Nachdem die erste Schlacht verloren war, ging Huilcamán zum Gegenangriff über. „1992 gab es einen Präzedenzfall“, fährt Loncon fort. „Aufgrund eines Irrtums waren die christdemokratischen Kandidaten ausgeschieden. Im Namen der Demokratie wurde in einem parlamentarischen Eilverfahren entschieden, deren Kandidaturen für gültig zu erklären. Wir haben die politischen Parteien aufgefordert, eine ähnliche Abstimmung durchzuführen.“ Im Vorfeld der Wahl fand diese Idee durchaus Zustimmung. Aber am Ende wurde „über einen Antrag abgestimmt, der uns nur weitere 15 Tage für die Beschaffung der Beglaubigungen einräumte. Das hatte nichts mit unserer Bitte zu tun, Huilcamán als Kandidaten zuzulassen, ohne eine anachronistische Bedingung zu erfüllen. Schließlich gibt es andere Möglichkeiten, Unterschriften zu beglaubigen, als durch einen Notar.“ Das völlige Schweigen der Medien, als Huilcamáns Kandidatur vereitelt wurde, sagte viel.
„In Chile sitzt kein einziger Indígena im Parlament oder im Senat“, schimpft Alfredo Millabur. „Es gibt gerade mal sieben Mapuche, die Bürgermeister sind, und an die hundert Gemeinderäte.“ Er selbst ist einer dieser Bürgermeister, seit 1996 zum wiederholten Mal an die Spitze des Küstendorfs Tirua gewählt. Millabur ist Lafkenche, eine Bezeichnung für Mapuche, die am Meer leben. Die Hälfte seiner Zeit widmet er der Gemeinde, die andere Hälfte der Lafkenche-Identitätsbewegung. Er kämpft gegen die untergeordnete Stellung seines Volkes und hat sich zum Ziel gesetzt, „die politische und ökonomische Kontrolle über unser Gebiet“ zu erlangen. „Ein Mapuche-Bürgermeister“, sagt er, „ist es sich schuldig, seine Gemeinde zu verwalten, ohne den Kampf seines Volkes zu vergessen.“
Und: „Die beiden letzten Regierungen haben versucht, unsere Bewegung durch eine Mischung aus repressiver Politik und Hilfe in einigen Gemeinschaften zu ersticken. Sie haben den Dialog mit örtlichen Vertretern nach ihren eigenen Regeln gesucht und sich geweigert, mit den Organen der Mapuche zu verhandeln.“ Millaburs ganzer Zorn gilt der fortschreitenden Privatisierung von Meeresgebieten durch Fischerei- und Lachszuchtunternehmen. „Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, um unseren Zugang zum Meer zu sichern. Es ist die erste Initiative dieser Art, die von den Mapuche ausgeht. Wir wollen Gespräche führen und überzeugen.“
Die Lafkenche haben vier Jahre gebraucht, um ihre Forderungen mit Hilfe von Anwälten zu Papier zu bringen. Intensiver Lobbyismus, viel Elan, die Solidarität der Gemeinschaften und die günstige Ausgangssituation vor der Präsidentschaftswahl haben es ermöglicht, dass der Gesetzentwurf am 17. November 2005 dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wurde. 200 Mitglieder der Lafkenche-Bewegung hatten 1 000 Kilometer zurückgelegt, um an ihrem großen Tag in Valparaíso anwesend zu sein. Das Gesetz wurde angenommen. Jubel brach aus.
Minuten später folgte die bittere Enttäuschung. Zwei angefügte Abänderungen nahmen dem Gesetzesvorhaben seine ursprüngliche Absicht.
Die Verachtung politischer Kreise für die Mapuche zeigt sich auch daran, dass die Indigenen im letzten Wahlkampf gar kein Thema waren. Die ODPI hat jeden Kandidaten nach seinen Plänen hinsichtlich der indigenen Bevölkerung gefragt. Nur Joaquín Lavin (der im ersten Wahlgang ausschied) war zu einer kurzen Antwort bereit. Weder Michelle Bachelet vom Mitte-links-Bündnis Concertación noch Sebastian Piñera von der liberalen Rechten hat sich die Mühe gemacht.
Für La Chepa ist es eine ausgemachte Sache: „Die Mapuche können tausendmal demonstrieren, es ändert nichts. Keine Worte mehr, wir brauchen Taten!“ Die Ergebnisse der gewaltsamen Rückeroberung durch Landbesetzungen geben ihr Recht. In Pascual Coña weidet das Vieh auf Weideflächen inmitten der Ruinen zweier verlassener Haziendas. Mit acht Schweinen, acht Kühen, zehn Hühnern und zwanzig Schafen geht es Elvira heute besser als früher. „Wenn ich sehe, wie die Lage unserer Brüder sich verbessert, bereue ich nichts“, sagt der untergetauchte José und versichert, 320 Hektar insgesamt seien wieder in der Hand der Mapuche.
„Die Mapuche-Bewegung hat sich als eine der wenigen politischen Stimmen hervorgetan, die öffentlich auf die im heutigen Chile immer noch bestehenden Probleme der Demokratie und der Bürgerrechte hinweisen“, schreibt Fabien Le Bonniec. Warum also werden ihre Forderungen von Demokraten wie Ricardo Lagos kriminalisiert? Weil, so die Antwort zahlreicher Gesprächspartner, in Chile „das politische Leben in einem ökonomischen System gefangen ist, das unter der Diktatur errichtet wurde“. Auf die Gefahr hin, die indigenen Rechte mit Füßen zu treten, will die Regierung, stolze Vertreterin eines „pragmatischen Sozialismus“, der sich einer beispielhaften Entwicklung rühmt, die viel versprechenden Anzeichen des Wachstums nicht gefährden.
Holzexporte stellen nach dem Kupfer die zweitwichtigste Einnahmequelle des Landes dar. Mit ihren Forderungen nach eigenen Rechten sind die Mapuche ein Bremsklotz für Investitionen in großem Stil. Sie bedrohen eine Wirtschaft, die auf der ungebremsten Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht, ob Holz, Mineralien oder Fischereiwirtschaft (Chile ist im Begriff, der weltweit größte Zuchtlachsproduzent zu werden). Oligarchen wie die Familie Angelini mischen in all diesen Wirtschaftsbereichen mit.
Während die Mapuche-„Terroristen“ noch niemandes Tod verursacht haben, trifft das umgekehrt nicht zu. Aber „der Polizist, der meinen Sohn getötet hat, ist vom Militärgericht freigesprochen worden. Er ist immer noch Carabinero“, sagt die Mutter des jungen Alex Lemun, nachdem das guillatún beendet ist. Straffreiheit? Nicht nur das. Als das Drama geschah, war General José Bernales Polizeichef der IX. Region. Anfang November 2005 hat Präsident Lagos ihn an die Spitze der chilenischen Polizei gesetzt.
Das steht in krassem Gegensatz zur Situation der Mapuche-Gefangenen, die vom Justizapparat keine Gnade zu erwarten haben. In Traiguén könnten die lonkos nach Verbüßen der halben Strafe theoretisch in den Genuss vorzeitiger Entlassungen oder Hafterleichterungen wie Freigang an Sonntagen kommen. „Alle unsere Anträge wurden abgelehnt“, klagt Pascual Pichun. Die anderen, im Hochsicherheitstrakt von Angol, versuchen trotz allem, in die Zukunft zu blicken. „Zehn Jahre Gefängnis, das macht mir Angst“, gesteht La Chepa. „Die Hoffnung auf ein Kind muss ich wohl aufgeben. Was mir hilft und was mir Kraft gibt, ist das Wissen, dass ich für die Achtung der Menschenrechte kämpfe.“
Unter dem Druck der internationalen Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte hat die chilenische Führung den Kurs geändert. „Der Ausdruck ‚Terrorist‘ wurde durch den des Kriminellen ersetzt“, heißt es bei Fabien Le Bonniec. „Unter Verleugnung des politischen Aspekts betrachtet die Justiz sie nun als Kriminelle, die sich am Privateigentum vergreifen.“ Es wird schwieriger, die internationale Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Wenn es nach José geht, muss „der Kampf wieder aufgenommen“ werden“.