10.02.2006

Gemeinsamer Markt des Südens

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Gemeinsamer Markt des Südens

von Mario Rapoport und Andrés Musacchio

Der Prozess der Annäherung zwischen Argentinien und Brasilien, der ursprünglich die Kooperation im Produktionssektor verstärken sollte, reduzierte sich in den 1990er-Jahren fast ausschließlich auf Handelsvereinbarungen. Diese regionale Handelspolitik war, zusammen mit der eher lustlos betriebenen Integration in den Globalisierungsprozess, die ideologische Antwort auf den so genannten Washington-Konsens und seine Postulate. Zwar expandierte das regionale Handelsnetzwerk, dem sich auch Paraguay und Uruguay sofort anschlossen, schneller als der Austausch mit dem Rest der Welt, doch das allein reichte nicht, um einen autarken Entwicklungsraum entstehen zu lassen. Darüber hinaus waren die Protagonisten der regionalen Integration häufig multinationale Unternehmen, die eine Deregulierung der Märkte anstrebten.

Mit der Abwertung der brasilianischen Währung 1999 verlor die südamerikanische Integration viel von ihrer Dynamik. Die Widersprüche des neoliberalen Modells, das sich seit Beginn der 1990er-Jahre zunehmend durchsetzte, traten in den Vordergrund. Argentinien, das am System konvertibler Währungen festhielt, spürte die massiven Folgen besonders. Die argentinische Krise, die im Dezember 2001 einsetzte, schwächte die ohnehin fragilen Handelsbeziehungen weiter und verlangsamte die Integration der Länder der Region in die Weltwirtschaft.

Mit der Währungskrise und der Rezession in den betroffenen Volkswirtschaften schrumpfte der regionale Handel relativ und absolut: 2002 machte der Absatz argentinischer Waren in Brasilien weniger als 20 Prozent des Gesamtexportvolumens aus; einige Jahre zuvor hatte dieser Anteil noch bei 30 Prozent gelegen. Auf brasilianischer Seite war der Einbruch noch drastischer: 2003 sank der Anteil brasilianischer Importwaren in Argentinien von 11 Prozent auf unter 5 Prozent.

Seit 2002 sind dagegen verstärkte argentinische Exporte in andere Regionen und Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den Nafta-Staaten (Kanada, USA und Mexiko) und der EU zu erkennen. Innerhalb des Mercosur dagegen verzeichnete Argentinien, nach zehn Jahren kontinuierlicher Überschüsse, 2004 ein erhebliches Handelsbilanzdefizit, das sich im Jahr 2005 noch vergrößert hat. Analysten und Vertreter der Wirtschaft sprachen von einer Invasion brasilianischer Produkte mit negativen Folgen für die Wirtschaft und forderten angesichts dieses angeblich illoyalen Verhaltens gewisse Importrestriktionen gegenüber dem wichtigsten Mercosur-Partner.

Altruismus ist schön, reicht aber nicht aus

Die Krise des Mercosur kam nicht überraschend. Integrationsprozesse sind kein Selbstzweck, sie können nur Instrumente der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sein. Die konkreten Ziele und Methoden müssen dem entsprechen. Mit dem Scheitern des neoliberalen Modells liefen die Anstrengungen des Mercosur ins Leere. Denn letztlich war weder seine Funktion klar noch die Rolle, die er spielen könnte.

Das Bild schien sich erst zu ändern, als in Brasilien Luiz Inácio „Lula“ da Silva und in Argentinien Néstor Kirchner die Regierung übernahmen. Samuel Pinheiro Guimarães, einer der wichtigsten Männer hinter den Kulissen der brasilianischen Außenpolitik, erklärte die „Bildung eines nicht hegemonialen Pols in Südamerika, im engen Bündnis mit Argentinien“1, zu einer Priorität seiner Regierung. Ähnlich äußerte sich Präsident Néstor Kirchner in seiner ersten Regierungserklärung. Die damit verbundenen Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht so schnell wie erwartet.

Derart privilegierte Beziehungen entspringen nicht reinem Altruismus oder „nachbarschaftlicher Solidarität“. Integration ist undenkbar ohne Wachstumsimpulse, ohne Diversifizierung der beteiligten Volkswirtschaften, ohne soziale Gerechtigkeit in der Region und in den Partnerländern. Sie ist Teil eines Prozesses, der die Entwicklung neuer und gemeinsamer Formen, Instrumente und Institutionen ermöglicht. Mit Verweis auf die massiven Handelsungleichgewichte sagt der Argentinier Eduardo Sigal: „Was die gemeinsamen Außenzölle angeht, waren wir großzügig, aber ein gemeinsames Zollgesetz existiert immer noch nicht. Wir haben uns daher für die Jahre 2004 bis 2006 ein Umbauprogramm vorgenommen.“2

Ein neues Modell für die Integration ist also noch nicht in Sicht. Dennoch ist in jüngster Zeit eine Annäherung zwischen verschiedenen Ländern der Region in Gang gekommen. Damit ist ein Aufschwung des Mercosur denkbar geworden. Zwei Faktoren spielen hier eine besondere Rolle. Zum einen ist die politische Nähe ein wichtiges Element, das zu einer inhaltlichen Neuorientierung der regionalen Integration beiträgt. Zwischen Argentinien und Brasilien ist ein neues Streben nach Harmonisierung zu beobachten. Das zeigt sich v. a. in der Abstimmung der Positionen auf internationalen Foren, etwa in Bezug auf das Projekt der FTAA3 beim Gipfel der Staatspräsidenten in Mar del Plata oder bei der Entwicklung gemeinsamer Strategien und Perspektiven, zum Beispiel im Hinblick auf die vorzeitige Tilgung der Schulden beim IWF.

Die politische Annäherung innerhalb der Region manifestiert sich auch in der geografischen Erweiterung. Zwar ist man sich nicht in allem einig, doch die Wahl des uruguayischen Präsidenten Tabaré Vázquez, der Sieg von Evo Morales in Bolivien – hier wird logischerweise eine Annäherung an den Mercosur erwartet – sowie die Aufnahme von Venezuela unter Hugo Chávez zeigen, dass der Mercosur Schritt für Schritt wächst. Hier baut sich ein Gegendruck gegen die FTAA auf, gegen den heftigen Wind, der den lateinamerikanischen Ländern aus dem Norden entgegenbläst.

Zur politischen Initiative kommt die vorsichtige, aber effektive Neuausrichtung der Wirtschaft. Trotz nach wie vor bestehender Probleme bestimmen heute neue Prioritäten die regionale Agenda. Ein zentraler Aspekt ist die Energiefrage: Venezuela hat mit Argentinien ein Abkommen über den Bau einer Gasleitung unterzeichnet und mit Brasilien die Errichtung einer neuen Erdölraffinerie vereinbart.

Dieser Umbruch kann die Grundlage für die Lösung von Problemen schaffen, die alle Länder der Region, wenn auch in unterschiedlichem Maße, betreffen. Die Grafik (Tabelle 1) illustriert die Situation in den Mitgliedsländern und bei den Beitrittskandidaten. Die Unterschiede sind klar zu sehen, auch in den Daten für 2005 (Tabelle 2). Erkennbar werden auch die in allen Staaten vorhandenen Defizite. Und damit die Notwendigkeit, die produktive Basis zu erweitern, die Einkommensverteilung grundlegend zu verbessern, Arbeitsplätze zu schaffen, nationale und regionale Ungleichgewichte zu überwinden und Infrastrukturlücken zu schließen. Unvermeidlich ist auch die Regulierung der Kapitalströme aus den Ländern außerhalb der Region, d. h. die Förderung ausländischer Investitionen.

Aus ökonomischer Sicht beruhen der Umbau der nationalen und die mögliche Entwicklung einer regionalen Produktion auf einem zentralen Projekt: der Aufwertung des industriellen Sektors. Denn vor allem hier können sich neue Produktionstechniken entwickeln und neue Arbeitsplätze entstehen, lassen sich Überschüsse aus dem Akkumulationsprozess erwirtschaften.

Eine Förderung der Reindustrialisierung ist ohne gemeinsame politische Anstrengungen nicht möglich. Ein Beispiel wäre die Koordination von Forschung und Technologien, ein zweites die Realisierung der Idee regionaler Produktionsketten. Das eine Projekt könnte die Entwicklungsparameter qualitativ verändern, das andere könnte dazu beitragen, die Industriekonzerne der einzelnen Ländern mit ins Boot zu bringen.

Hilfreich wäre auch eine regionale Handelspolitik mit eigenen nationalen Komponenten oder eine Anhebung der Außenzölle bis zum von der WTO erlaubten Limit. Integration kann es nur geben, wenn die physischen Barrieren fallen. Damit stehen die Themen Verkehr und Kommunikation auf der Prioritätenliste ebenfalls ganz weit oben. Die Energiekrise Argentiniens und Brasiliens macht eine bessere Ausnutzung traditioneller Energiequellen nötig (weshalb die Aufnahme Venezuelas und Boliviens von größter Bedeutung ist), ohne dass man darüber die Nutzung neuer Energiequellen vernachlässigt. Dieser Prozess muss makroökonomisch koordiniert werden und klare Richtlinien für regionale Aktionsstrategien beinhalten. Der Aufbau einer regionalen Entwicklungsbank und höhere Steuereinnahmen sollten Infrastrukturmaßnahmen möglichen machen, die unabhängig von den Gutachten der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) und der Weltbank realisiert werden könnten.

Schließlich erfordert eine engere ökonomische Integration einen umfassenden Binnenkonsens über weitreichende Fragen. Der aber ist nur dann denkbar, wenn die soziale Ungleichheit schnell und entschlossen beseitigt wird und eine politische Partizipation der Zivilgesellschaft gewährleistet ist. Von größter Bedeutung sind daher die Koordination der Sozialpolitik und die Schaffung repräsentativer Institutionen, beispielsweise eines gemeinsamen Parlaments.

Der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler Helio Jaguaribe fasst die Lage treffend zusammen, wenn er sagt: „Ich bin überzeugt, dass sich die Länder Südamerikas […] nicht länger isoliert voneinander entwickeln können. Wenn wir isoliert agieren, werden wir in kurzer Zeit zu gleichförmigen Segmenten des internationalen Marktes und letztlich zu Provinzen des US-amerikanischen Imperiums.“4

Fußnoten: 1 Samuel Pinheiro Guimarães, „Reflexiones sudamericanas“, Vorwort zu Luiz. A. Moniz Bandeira, „Argentina, Brasil y Estados Unidos. De la Triple Alianza al Mercosur“, Buenos Aires (Ed. Norma) 2004, S. 28. Pinheiro Guimarães ist Generalsekretär des brasilianischen Außenministeriums. Der Text wurde vor längerer Zeit in Brasilien veröffentlicht. 2 Eduardo Sigal in Onda Digital, N° 263, 22. bis 28. November 2005. 3 FTAA (Free Trade Area of the Americas), auf Spanisch: ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas), gesamtamerikanische Freihandelszone. 4 Helio Jaguaribe, „Diario Hoy“, La Plata, 21. 10. 05 © Le Monde diplomatique, Ed. Cono Sur (Buenos Aires) Aus dem Spanischen von Lilian-Astrid Geese Mario Rapoport ist Leiter des Forschungsinstituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Buenos Aires (UBA) und Mitarbeiter beim Nationalen Rat für Wissenschafts- und Technikforschung Conicet. Andrés Musacchio leitet das Zentrum für Internationale und Lateinamerikastudien der UBA.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2006, von Mario Rapoport und Andrés Musacchio