Stützen oder Stürzen
Wie werden sich Boliviens Militärs zum neuen Präsidenten Evo Morales verhalten? von Maurice Lemoine
An die hundertachtzig Staatsstreiche hat Bolivien seit der Unabhängigkeit im Jahre 1825 erlebt. Einmischung in die nationale Politik hat somit bei der bolivianischen Armee Tradition: Am 4. November 1964 setzte General René Barrientos dem 1952 vom Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) begonnenen Reformexperiment ein Ende. Am 21. August 1971 ergriff Hugo Banzer die Macht; sein Putsch wurde von den Diktatoren Argentiniens und Brasiliens und außerdem von den USA unterstützt. Seiner Herrschaft folgte eine Reihe autoritärer und repressiver Regime, die mit dem Sturz des Drogengenerals Luis García Mesa am 4. August 1981 und der Übergabe der Macht an eine Zivilregierung am 10. Oktober 1982 endete.
Danach lebte das Land zwanzig Jahre unter dem schäbigen Anstrich einer Beinahedemokratie, während die Anhänger des Neoliberalismus arrogant und skrupellos das Land plünderten. Doch zur Entwicklung des Marktes brauchte es friedliche und demokratische Verhältnisse. Unter diesen verloren die bolivianischen Generäle an Einfluss. Intakt blieben lediglich die vielfältigen Netzwerke, in denen Militär und Regierungsparteien verbunden waren. Oft genug haben sich dabei in der Vergangenheit Präsidenten das Wohlwollen des Oberkommandos erkauft.
Im Oktober 2003 erhob sich die Bevölkerung gegen die Sparpolitik von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada. Die direkt oberhalb von La Paz gelegene Großstadt El Alto, in der hauptsächlich Arme leben, war in der Hand der Protestbewegung. Bauschutt, Barrikaden und brennende Reifen blockierten die Straßen. Am 12. Oktober gelang es einem Kommandotrupp der Armee, in das Viertel Villa El Ingenio einzudringen. „Die Leute haben Alarm geschlagen“, berichtet Nestor Guillén, Sprecher der Vereinigung der Nachbarschaftskomitees (Fejuve). „Die Soldaten haben angefangen zu schießen. Die Kugeln pfiffen kreuz und quer. Siebzehn Menschen kamen um, lauter unbeteiligte Zuschauer.“
Bei der Niederschlagung des Aufstands wurden insgesamt 67 Menschen getötet und etwa 400 verletzt. Vom „Business“, für das Präsident Lozada jahrelang gearbeitet hatte, blieb nur ein Scherbenhaufen. Lozada setzte sich in die USA ab. Carlos Mesa, sein Stellvertreter, der das Amt übernahm, enttäuschte sehr schnell. Am 6. Juni 2005, nach drei Wochen andauernden Unruhen, musste er schließlich abdanken.1
Da Carlos Mesa keine Toten und Verletzten wollte, verbot er ein gewaltsames Vorgehen gegen die Demonstrationen. Doch als die Krise auf dem Höhepunkt war, kam vonseiten des Gewerkschaftsdachverbandes (COB) und anderen Gruppierungen der Ruf nach einem patriotischen Militärtribun: „Wir brauchen einen bolivianischen Chávez“, verkündete etwa COB-Chef Jaime Solares. Am 25. Mai forderten Julio Herrera und Julio César Galindo, zwei bisher kaum bekannte Oberstleutnants, „als Privatpersonen“ den Rücktritt von Präsident Mesa und boten sich selbst als neue Regierungschefs an.
Das Oberkommando bestritt im Nachhinein, dass jemals ein Putsch erwogen worden sei. Doch ein enger Mitarbeiter des heutigen Präsidenten Evo Morales erzählt, dass es sehr wohl entsprechende Pläne gegeben habe: „Und anstatt bei der Rechten vorzufühlen, haben diese Militärs bei Evo angefragt, ob sie seinen Segen hätten. Sie waren bereit, einen Staatsstreich zu machen, aber sie wollten Unterstützung aus dem Volk. Darum wandten sie sich an Morales, den Vertreter der MAS.“2 Ein Pakt zwischen Militärs und Zivilisten also: Ja zur Verstaatlichung der Gas- und Ölförderung, ja zur verfassunggebenden Versammlung, ja zu allen Forderungen des Volkes! „Morales lehnte ab. Man kann den Demokratisierungsprozess in Zweifel ziehen, aber er hat das Volk viel gekostet: Blut, Tote, Exil. Ihn zu unterbrechen kommt nicht in Frage.“
Nachdem Carlos Mesa das Handtuch geworfen hatte, musste der Kongress entweder Senatspräsident Hormando Vaca Díez oder Parlamentspräsident Mario Cossío zum Nachfolger bestimmen. Beide waren als frühere Parteigänger von Expräsident Sánchez de Lozada bekannt. Aus sicherer Quelle weiß man, dass eine Riege von Generälen zusammenkam, um zu beraten, wer von den beiden zu unterstützen sei. Und man weiß zudem, dass mitten in den Beratungen ein Oberst erschien und salutiernd die Hacken zusammenknallte: „Ich darf Ihnen mitteilen, was eine Reihe von Offizieren denkt: Die nationale Würde wird einzig vom MAS vertreten.“ Am 9. Juni gab der amtierende Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Admiral Luis Aranda, eine Erklärung ab: „Der Kongress muss umsetzen, was das Volk empfindet.“
Nach diesem Wink mit dem Zaunpfahl wurde der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Eduardo Rodríguez, zum Interimspräsidenten ernannt. Der freilich hielt es eher mit den Präsidenten der beiden Kammern und entließ Admiral Luis Aranda.
Militärs gründen eine Bürgergruppierung
Doch dann trat am 12. Mai in Cochabamba eine von Exmilitärs gegründete „Bürgergruppierung“ namens Tradepa, (Transformación Democrática y Patriótica, Demokratischer und Patriotischer Wandel) an die Öffentlichkeit. Sie versteht sich als politischer Arm der bolivianischen Streitkräfte – obwohl Artikel 121 des Gesetzes über die Staatsorgane ihnen eine solche Betätigung verbietet.
Die Initiative soll angeblich von pensionierten Militärs ausgegangen sein. Doch tatsächlich haben mehrere Kommandeure, unter anderen der Befehlshaber der Landstreitkräfte, General Marcelo Antezana, bei der Gründung der Tradepa mitgewirkt. Am 25. August musste die Leitung der Bewegung zugeben, dass auch „einige Angehörige der Streitkräfte“ die Petitionslisten (mit 120 000 Namen) zur Anerkennung der Tradepa als juristische Person „aus freien Stücken“ unterschrieben hätten. Mittlerweile haben sich einige Offiziere beklagt, ihre Unterschrift unter die Petitionslisten zur Anerkennung der Tradepa als juristischer Person sei unter Druck zustande gekommen. Außerdem erklärten sie, dass in Oruro Einrichtungen der 2. Division als Regionalbüro der Tradepa genutzt worden seien.
Als Antwort auf die Korruption innerhalb der politischen Parteien fordert die Tradepa „einen revolutionären, unabhängigen und humanistischen Nationalismus“ und die „Beteiligung der Streitkräfte an der nationalen Entwicklung“. Ein progressiver Geheimbund also? Nun, progressive Gruppen innerhalb des Militärs hat es immer mal gegeben. Die Regierungen von Oberst David Toro (17. Mai 1936 bis 13. Juli 1937) und seinem Nachfolger General Germán Busch (13. Juli 1937 bis 23. August 1939) hatten den „sozialistischen Militärstaat“ zum Programm gemacht; auch sie hatten gesellschaftliche Veränderungen eingeleitet, wenn auch mit unterschiedlicher Fortüne.3
Bis heute unvergessen ist ferner General Juan José Torres. Als sich im Oktober 1970 eine rechtsextreme Junta an die Macht putschte, war es Torres, der eine linke Gegenbewegung in der Armee auslöste: Er installierte eine „nationalistische und revolutionäre Regierung“ und berief im Juni 1971 eine Volksversammlung ein, die das Regime noch mehr radikalisierte – bis er im August von General Banzer gestürzt wurde.
Freilich erinnert die Tradepa auch an die zu trauriger Berühmtheit gelangte Gruppe Mariscal de Zepita, die mehrheitlich aus pensionierten Militärs bestand und bei den Wahlen von 1997 die Acción Democrática Nacional (ADN) des früheren Diktators Hugo Banzer unterstützte. Ihre Mitglieder besetzten danach wichtige Posten in der öffentlichen Verwaltung. Dass Leute wie der frühere Oberst Faustino Rico Toro in der Tradepa mitmischen, gibt zu denken. Der Mann war unter dem Diktator García Mesa Geheimdienstchef, und er war in die Ermordung des Sozialistenführers Marcelo Quiroga in Santa Cruz am 17. Juli 1980 verwickelt.
Am 16. August 2005 wurde Vizeverteidigungsminister Manuel Gemio wegen seiner Verbindung zur Tradepa des Postens enthoben. Der neue Armeechef Justiniano stellte sich hinter Gemio und erklärte am 17. August, die Tradepa könne sich der Unterstützung des Militärs sicher sein. Tags zuvor hatten sich die Streitkräfte in Alarmbereitschaft befunden, nachdem ein Beschluss des Obersten Gerichtshofs bekannt geworden war: Das militärische Dienstgeheimnis sollte aufgehoben werden, damit die Kommandeure der blutigen Repression vom Oktober 2003 vor ein ordentliches Gericht gestellt werden können.
Währenddessen rechtfertigte am 19. August der Kommandant der Landstreitkräfte, Antezana, der zu den Verschwörern gegen Carlos Mesa gehört hatte, die Gründung der Tradepa. Luis Gemio – der Bruder des abgesetzten Vizeministers, der zwischen 1997 und 2002 die Gruppe Mariscal de Zepita leitete – drohte sogar öffentlich, zu „anderen Mitteln“ zu greifen, wenn man der Armee nicht ihren eigenen politischen Arm zugestehen wolle. Man fragt sich im Land besorgt, was die wahren Ziele der Tradepa seien. Evo Morales fand deutliche Worte: „Mit Chávez hat das nichts zu tun. Es ist eine sehr besorgniserregende faschistische Bewegung. Ein Teil des Oberkommandos tendiert zum Staatsstreich gegen die sozialen Bewegungen im Allgemeinen und gegen den MAS im Besonderen.“
Der am 18. Dezember 2005 mit 54 Prozent der Stimmen gewählte Präsident und MAS-Begründer Evo Morales befindet sich in einer heiklen Situation. Die „Oberschicht“, die schon immer sehr auf die Wahrung ihrer privilegierten Situation bedacht war, wird ihm keine Atempause gönnen. Auch Washington nicht, und noch weniger werden es die multinationalen Firmen tun und die „autonomistischen“ – um nicht zu sagen separatistischen – weißen Eliten der reichen Provinzen Santa Cruz und Tarija mit ihren Öl- und Gasvorkommen. Die Frage ist, was die Armee tun wird, wenn es zu Unruhen kommt.
Man weiß, dass es drei Fraktionen innerhalb der Streitkräfte gibt: eine reaktionäre und putschfreundliche, die gewaltsam gegen die soziale Bewegung vorgehen will; die Tradepa gehört wohl dazu.
Eine zweite Fraktion möchte es allen recht machen, der Regierung wie der Opposition. „Früher“, meint der Journalist Walter Chávez, „konnte man 300 Bauern zusammenschießen, ohne dass groß was passierte. Heute lösen 30 Tote eine internationale Protestwelle aus – das gehört auch zur Globalisierung.“
Die Militärs kalkulieren: Im Konfliktfall würde ein Vorgehen gegen eine dermaßen starke Bewegung hunderte von Opfern fordern. Wer müsste dafür geradestehen? Wer käme vor Gericht, nachdem Straffreiheit nicht mehr selbstverständlich ist? Wo heutzutage selbst ein General Pinochet ein Verfahren am Hals hat.
Schließlich gibt es auch einen fortschrittlich gesinnten Teil. So erklärte das ständige Sekretariat des Obersten Verteidigungsrates (Cosdena), die Verstaatlichung und Verarbeitung der Gas- und Ölvorkommen vor Ort seien realistisch. Alvaro García Linera, jetzt Vizepräsident, urteilte im August 2005: „Die Rechte ist zu weit gegangen. Viele Verantwortliche der mittleren Ebene sind sehr gegen die separatistischen Tendenzen in Santa Cruz und Tarija. Normaler- und traditionellerweise sympathisieren diese Leute eher mit den konservativen Kräften, aber das geht ihnen zu weit. Das hat bei ihnen zu einer gewissen Nähe zu den sozialen Kräften geführt.“ Hinzu kommt, dass etliche Offiziere durchaus empfänglich sind für das Beispiel des früheren Oberstleutnants Hugo Chávez, der in Venezuela seine „bolivarianische Revolution“ ins Werk setzt und für eine „soziale“ Einigung Südamerikas wirbt.
Letztlich kann niemand voraussagen, wie sich die Kräfteverhältnisse entwickeln werden. Washington jedenfalls baut vor. Auf Anweisung der Botschaft der Vereinigten Staaten wurden 29 Boden-Luft-Raketen des Typs HN-5A aus den Kasernen abgezogen. Die Aktion wurde am 2. Oktober von einem bolivianischen Antiterrorspezialkommando namens „Chacha Puma“ durchgeführt, das von US-amerikanischen Offizieren beraten wird. Laut General Antezana wurden diese in China gekauften Raketen weggebracht, „weil sie ihre Lebensdauer erreicht“ hätten. Von deren zwanzig Jahren waren freilich erst neun erreicht. Als er später enthüllte, die Zerstörung der Raketen sei im Auftrag Washingtons „vor dem drohenden Wahlsieg des Herrn Morales“ erfolgt, brach ein Sturm der Entrüstung los. Am 18. Januar wurde der General entlassen, Verteidigungsminister Gonzalo Méndez musste zurücktreten.
Jenseits der Grenze, in Paraguay, landeten am 1. Juli 2005 fünfhundert Angehörige von US-amerikanischen Spezialtruppen, die die paraguayische Armee „für den Kampf gegen Terror und Drogen“ ausbilden sollen. Seit August beaufsichtigt die US-Armee im Chaco Manöver und baut auch den 250 Kilometer von der bolivianischen Grenze entfernten Flugplatz von Mariscal Estigarribia aus. Es entsteht eine Piste von 3 800 Meter Länge, geeignet für Großraumtransporter wie B-52, Hercules C-130 oder C-5 Galaxy. Die Basis ist ideal gelegen für eine Intervention in Bolivien, sollte die „Autonomiebewegung von Santa Cruz“ wegen „Unregierbarkeit“ des Landes darum ersuchen.