10.02.2006

Der Glaube im Labor

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Der Glaube im Labor

Der Befreiung der Menschheit kann die Wissenschaft nur dienen, wenn sie sich auf ihre emanzipative Kraft besinnt von Jacques Testart

Stets hat die Kirche wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihren Dogmen widersprachen, abgelehnt. Vor allem der Katholizismus verfügte in der Zeit großer wissenschaftlicher Durchbrüche über eine solche Machtfülle, dass er Galilei mundtot machen und Giordano Bruno verbrennen lassen konnte.1 Glücklicherweise gingen im Zeitalter der Industrialisierung wissenschaftlicher Fortschritt und demokratische Entwicklung Hand in Hand – und Charles Darwin blieb verschont.

Obwohl die Religionen heute nicht mehr die reale Macht wie vor 400 Jahren besitzen, machen sie ihren Glaubensgemeinschaften gern Vorschriften. So verlangt die Kirche in vielen US-Bundesstaaten noch heute, dass die biblische Schöpfungsgeschichte den gleichen Stellenwert im Schulunterricht haben müsse wie die Darwin’sche Evolutionstheorie. In vielen islamischen Ländern bleibt die Urknalltheorie aus dem Physikunterricht verbannt. Und die katholische Kirche agitiert gegen Verhütung oder künstliche Befruchtung. Sowohl im Islam als auch im Judaismus gibt es insbesondere bei der Ernährung Regeln, die jeder rationalen Rechtfertigung entbehren.

Aber die Geschichte des Lysenkoismus2 und Theorien über die angebliche Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften zeigen, dass nicht nur die Religionen Anspruch auf die Kontrolle über die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse erheben.

Wissenschaftler streiten über das Gedächtnis des Wassers

Seit die Trennung von Staat und Kirche das Wissen und die Beherrschung der Welt von der Herrschaft irrationaler Ideologien befreit hat, würdigen die politisch Mächtigen in Europa die Wissenschaft als erste Quelle von Wahrheit und Wohlstand, wenn auch die Wissenschaften damit nicht wie von selbst neutral wurden. Man sieht es an der Unbeweglichkeit des wissenschaftlichen Establishments, an der starren Haltung gegenüber den wenigen revolutionären Ansätzen in der Forschung aus den letzten Jahren. So etwa gegenüber der bis heute unbewiesenen Theorie von Jacques Beneviste über das „Gedächtnis des Wassers“3 , aber auch gegenüber der Entdeckung der Prionen durch Stanley B. Prusiner. Dieser hatte eine neue Klasse von Krankheitserregern entdeckt, seiner Prionentheorie schenkte aber lange Zeit niemand Gehör. 1997 wurde ihm für seine Forschung der Medizinnobelpreis verliehen.

Ist es nicht Ausdruck einer – womöglich sogar religiösen – Ideologie, wenn die Wahrheiten des Augenblicks als unabänderlich institutionalisiert und von unberührbaren Priestern, den Hütern des Großen Buchs der Wissenschaft, verteidigt werden? Wenn jeder neue Gedanke, der zu einer Korrektur alter Denkmuster zwingt, bekämpft wird? Der Wirtschaftswissenschaftler Serge Latouche nennt den Fortschritt eine „selbstevidente“ Vorstellung, die nur als triumphaler Durchbruch einer „leuchtenden ewigen Wahrheit, die schon vorhanden, aber von Finsternis umhüllt und blockiert war“, beschrieben werden kann.4

Bleibt festzuhalten, dass der Stand der Wissenschaft in keinem Augenblick ausreicht, um komplexe Situationen zu erklären und ihre Auflösung vorauszusagen. Die Ungewissheit noch so sicherer Voraussagen zeigt sich an der so genannten wissenschaftlichen Analyse von Risikosituationen, da die Schlussfolgerungen der Experten als „optimistisch“ oder „pessimistisch“ und nicht als „richtig“ oder „falsch“ bewertet werden. Die behauptete Objektivität der wissenschaftlichen Methode mündet somit in die Rückkehr der subjektiven Einschätzung.

Die Optimisten berufen sich auf einen ebenso zutreffenden wie trivialen Gedanken: Der schlimmste Fall kann nicht bewiesen werden, solange er nicht eingetreten ist. Weshalb sich jedoch nicht leugnen lässt, dass beispielsweise menschliches Handeln Einfluss auf Klimaveränderungen hat, sondern allenfalls die Hoffnung aufrechterhalten werden kann, die Durchschnittstemperatur werde im Lauf dieses Jahrhunderts statt um fünf oder sechs nur um zwei Grad steigen – eine Annahme, die jedoch die gleichen Vorsichtsmaßnahmen erforderlich macht wie die „pessimistische“ Option. Ähnliches gilt für die Ausbreitung artfremder Transgene in der Natur oder die radioaktive Verseuchung durch die Atomindustrie: Nicht diese unausweichlichen Phänomene selbst stehen zur Diskussion, sondern nur die Frage, wie lange es dauern wird, bis sie unerträglich werden. Ob man der optimistischen oder der pessimistischen Deutung anhängt, ist somit eine Glaubensfrage. Eines Glaubens, der die Optimisten überzeugt sein lässt, dass man ein Mittel finden wird, den schlimmsten Fall abzuwenden, und dieser nicht eintreten wird.

Den technowissenschaftlichen Glaubenssätzen unterworfen, zieht der Naturwissenschaftler oft die schöne Verheißung der unbequemen Strenge vor. Die höchste französische Instanz in diesem Bereich, die Akademie der Wissenschaften, hat sich vor lauter Optimismus seit 20 Jahren in allen Fragen geirrt, die das Gesundheitsrisiko betreffen, sei es beim Asbest, beim Dioxin oder beim Rinderwahn, ganz zu schweigen von den gentechnisch veränderten Pflanzen. Jedes Mal hat die Akademie die Innovation gepriesen und die Schwarzmalerei unter Hinweis auf den unaufhaltsamen Fortschritt der Wissenschaft verurteilt.

Nun ist der „Fortschritt der Wissenschaft“ nicht unbedingt ein Fortschritt für die Menschheit, es sei denn, wir wollten unser Schicksal den Interessen der Industrie und der Börse unterstellen. Nach einem beunruhigenden Bericht über gentechnisch veränderte Organismen (GVO)5 hatte das globalisierungskritische Netzwerk Attac vergeblich eine parlamentarische Debatte über mögliche Interessenkonflikte innerhalb der Akademie gefordert. Die Beschwörungsformeln der Akademiemitglieder gegen die „Technologiefeindlichkeit“ ohne echte wissenschaftliche Argumente machen deutlich, dass es auch um einen ideologischen Konflikt geht.

Ist es die Vermarktung der Wissenschaft, die ihren missionarischen Dogmatismus hervorgerufen hat, oder umgekehrt? Wenn die Wissenschaft ungestraft zur Quelle potenziell gefährlicher Technoprodukte wird, enthüllt und konsolidiert ihre Verfügungsgewalt die ideologische Dimension der wissenschaftlichen Arbeit: Dann wird Glaube zu exaktem Wissen erklärt. Es scheint mir daher nicht übertrieben, zu behaupten, dass bestimmte Aspekte der Wissenschaft auf einer religiösen Haltung beruhen, die schlecht mit dem Anspruch auf Rationalität zu vereinbaren ist.

Nach dem Credo der offiziellen Wissenschaft – man mag es magisch oder gar mystisch nennen – wird es früher oder später für alles eine umfassende Erklärung geben, alle dunklen Flecken oder Widersprüche werden sich in Wohlgefallen auflösen. Was den Glauben an die allmächtige Wissenschaft angeht, spielen die gottgläubigen Wissenschaftler eine besondere Rolle. Sie gehören zu denen, die dem Szientismus am ehesten verfallen, wie zur Entschuldigung für ihren vertrauten Umgang mit dem Irrationalen. Oder ist es die Beamtenmentalität der Gläubigen, die sie dazu treibt, das Religiöse an der für allmächtig gehaltenen Wissenschaft zu verehren?

Des Kardinals Worte zum genetischen Code

Manchmal kommt der Szientismus auch der Religion zu Hilfe. So etwa, als der damalige Kardinal Ratzinger im Jahr 2000 versuchte, seinen Begriff vom Menschen zu „verwissenschaftlichen“, indem er erklärte, nach seinen Kenntnissen in der Biologie trage ein menschliches Wesen von Anfang an „das gesamte Programm“ des sich entwickelnden Menschen in sich.6 Nun enthält das Genom aber kein Programm, sondern lediglich Informationen, und Kardinal Ratzinger verbürgte sich mit seiner Behauptung für die abstruseste genetische Wissenschaft, ohne dass ihn die Frage nach dem Ort der Freiheit oder auch der Seele beunruhigt hätte.

Während „das Haus brennt“7, wird munter weitergezündelt und die „Fortschrittsfeindlichkeit“ derer gebrandmarkt, die im Namen eines „zögerlichen“ Vorsorgeprinzips die Entwicklungen der Technowissenschaft kontrollieren wollen. Die politische Kontrolle dieses technischen Know-how ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die Technowissenschaft, wie Paul Virilio sagt, eine entscheidende Zweckentfremdung des Wissens darstellt. In der von uns geschaffenen, zunehmend ungewissen Welt stellt der Optimismus keinen positiven Wert dar, eher eine Art kindischen Glaubens, der es erlaubt, die Vogel-Strauß-Politik zu rechtfertigen und selbstmörderisches Verhalten zu verschleiern.

Jeder Hinweis auf die Gefahren, die die Technowissenschaft mit sich bringt, erntet ein kategorisches: „Wir haben keine andere Wahl.“ Als könnte die Menschheit nicht frei über ihr Schicksal entscheiden. Wenn die maßgeblichen Forscher und Wissenschaftler das Prinzip der Vorsorge ablehnen, vermitteln sie den Eindruck, es gebe menschliche Erfindungen, die wichtiger seien als die Menschheit selbst. Denjenigen, die den Internationalen thermonuklearen Versuchsreaktor ITER oder die GVO für den Beweis der „Beherrschung“ der Probleme unserer Zeit halten, sei gesagt, dass derartige Techniken, deren Verheißungen noch in der Zukunft liegen, im Gegenteil einer alten Utopie angehören.8

Die Verherrlichung des Fortschritts und der Glaube an eine „innerweltliche Vorsehung“ erlauben es den Schrittmachern, sich ruhigen Gewissens stur zu stellen, und den Kritikern, sich bei ihrem Widerstand nicht allzu sehr zu verausgaben. Eine solche Bereitschaft zum Glauben gilt offenbar nur noch für die Wissenschaft selbst, eine tragische Verkehrung des angekündigten Triumphs der Strenge dank zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse!

Neben der quasikriminellen Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Forschungslaboren, Regionen und Staaten, erklärt sich die allgemeine Passivität und Apathie aus einem weniger trivialen, aber ebenso jämmerlichen Grund: Wo die Menschheit den technologischen Fortschritt im Griff hat, kann sie nicht der Verlierer sein. Dahinter steht ein magischer Evolutionsbegriff, der glauben macht, unter den Lebewesen sei einzig der Mensch in der Lage, die Welt zu verändern (was tatsächlich stimmt) und die geschaffenen Veränderungen zu beherrschen (was noch zu beweisen ist).

Kann der Mensch all die Probleme lösen, die er sich einhandelt? Diese Frage zu bejahen hieße, einen übermenschlichen schöpferischen Willen anzuerkennen – eine Annahme, die normalerweise wissenschaftlichem Denken zuwiderläuft. Negiert man sie oder äußert man seine Skepsis, so hieße das, sich Möglichkeiten offen zu halten, mit Vorsicht zu handeln und einer gewissen Demut.

Vielleicht tritt dieser Glaube am deutlichsten im Bereich der Genetik hervor. Zwei amerikanische Soziologinnen schreiben in einer Studie über die „Mystik der DNA“: „Genau wie der christliche Begriff der Seele die archetypische Vorstellung geliefert hat, um die Persönlichkeit und die Beständigkeit des Ichs zu erfassen, verkörpert die DNA in der massenkulturellen Wahrnehmung eine seelenähnliche Substanz, ein heiliges und unsterbliches Objekt der Verehrung oder auch einen verbotenen Raum.“9 Daraus folgt, dass die Anwendungsbereiche der Gentechnik selbst Orte der Täuschung sind, sowohl bei der Gentherapie als auch bei den genetisch veränderten Organismen.

So kann die Hilfsorganisation Théléton an einem Tag 100 Millionen Euro an Spenden sammeln, indem sie das Gerücht verbreitet, die Heilung von Muskeldystrophien sei nur eine Frage des Geldes. Und was die GVO-Kulturen betrifft, deren Gefahrenpotenzial für Umwelt, Gesundheit und Wirtschaft noch kaum analysiert ist und die bislang keinen Nutzen für die Verbraucher bringen, so werden sie den menschlichen Gesellschaften unter dem Vorwand aufgezwungen, ihre Vorteile würden sich eines Tages gewiss einstellen.

Man verfährt also nach dem Motto „Die Sache wird schon laufen“ und nimmt das optimistisch geschönte Ergebnis vorweg – eine Haltung, die mit Wissenschaftlichkeit nichts mehr zu tun hat. Im Jahr 2000 erklärte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin zum Thema embryonale Stammzellen: „Dank dieser Zellen […] werden gelähmte Kinder endlich laufen, gebrochene Männer und Frauen sich wieder aufrichten können.“10 Der Glaube an derartige Wunder würde sogar den Verzicht auf Machbarkeits- und Unbedenklichkeitsstudien durch Tierversuche rechtfertigen. Das Fehlen wissenschaftlicher Strenge ließe sich auch für die Atomindustrie oder die Nanotechnologie aufzeigen, und auch hier mangelt es an demokratischer Mitbestimmung.

Wie ist es zu rechtfertigen, dass es in der Bioethik keine „Prinzipien“ gibt (ja nicht einmal visionäre oder normative Anhaltspunkte), wie sie beispielsweise im Bereich der Menschenrechte gelten? Warum ein endgültiges Verbot der Sklaverei und nur halbherzige (oder gar keine) Maßnahmen gegen die künstliche Fertigung des Menschen oder die einvernehmliche Eugenik? Wenn jede bioethische Regel vom technischen Know-how umgestoßen und revidiert wird, ist Ethik nur noch eine zufällig geltende Moral. Weil sie den wunderbaren und grenzenlosen Fortschritt preist, wird sich die utilitaristische Ethik am Ende immer über alle Vorbehalte hinwegsetzen.

Der französische Philosoph Michel Onfray, selbst ernanntes Sprachrohr des Atheismus, will alles unterstützen, „was irgendwie zur Vollendung jener Techniken beiträgt, die für die Aktivierung der postmodernen Medizin unerlässlich sind: ob Ektogenese, Klonen, Geschlechtsselektion oder Transgenetik“11 . Mit dem Argument „die Wissenschaft als solche ist neutral“ wendet er sich gegen die „Technophobie“. Für seine Beweisführung muss er allerdings Unwahrheiten behaupten („Die Atomenergie hat nie ein einziges Todesopfer gefordert …“, außer in Hiroschima und bei anderen Schnitzern, die man nur dem „militärischen Irrsinn“ zuschreiben könne) und seine Leser hinters Licht führen: „Die transgene Revolution stellt neue Behandlungsmöglichkeiten in Aussicht: Mit Hilfe der prädiktiven Medizin werden sie den Ausbruch von Krankheiten verhindern.“ Die technophile Begeisterung liefert häufig den Ersatz für die Mythen, die man zu bekämpfen glaubt. In zunehmendem Maße durchkreuzt eine szientistisch angehauchte Bioethik die Ausarbeitung von Prinzipien, die eine Situation festschreiben und der Wettbewerbsdynamik Grenzen setzen könnten.

Das allmähliche Verschwinden der Bioethik in Raum und Zeit

So verflüchtigt sich die Bioethik in der Zeit, wie sie sich schon im Raum (daher der „medizinische Tourismus“) und per Kasuistik (man gibt Schritt für Schritt nach, von einer begründeten Ausnahmegenehmigung bis zur allgemeinen Zulassung neuartiger Praktiken) verflüchtigt hat. Der Glaube, die Wissenschaft werde uns eine zwangsläufig bessere Welt bescheren, unterwandert das Bestreben, einen laizistischen Humanismus als Grundlage der Bioethik zu definieren. Das geflügelte Wort, die Wissenschaft sei schneller als die Ethik, bedeutet in Wirklichkeit, dass die Technowissenschaft den Entscheidungen der Gesellschaft vorauseilt und sie beherrscht.

Die Wissenschaft ist nicht nur eine rationale Konstruktion, jenes Idealbild, das sie vor kritischen Angriffen schützt. Als ein vom Menschen geschaffenes Werkzeug zeigt die Technowissenschaft, was sie kann und was nicht. Der Befreiung der Menschheit jedenfalls kann sie nur dienen, wenn ihrer Maßlosigkeit Grenzen gesetzt werden.

Auf dem nationalen Forschungskongress im Januar 1982 hatte der damalige Forschungsminister Jean-Pierre Chevènement gefordert, „bestimmte Vorurteile gegen Wissenschaft und Technologie sollten abgebaut, die antiwissenschaftlichen Bewegungen an den Rand verwiesen werden“. Damit meinte er sowohl Kartenlegerinnen als auch Ökologen. Nun haben sich zwanzig Jahre später die Befürchtungen der Letzteren bestätigt und sind Gegenstand alarmierender Berichte der offiziellen Wissenschaft geworden. Trotzdem hält der Szientismus stand: Noch auf dem Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung in Rio (1992) haben zahlreiche Wissenschaftler, darunter viele Nobelpreisträger, im „Heidelberger Appell“ vor dem Aufkommen „einer irrationalen Ideologie“ gewarnt, „die sich dem wissenschaftlichen und industriellen Fortschritt entgegenstellt und der ökonomischen und sozialen Entwicklung schadet“.

Das Interesse der führenden Industrievertreter und zahlreicher Forscher besteht in der Produktion und Verbreitung von Innovationen, die geeignet sind, Marktanteile zu erobern. Diese Wettbewerbsmotivation erklärt einen großen Teil der Umwandlung von Wissenschaft in Technowissenschaft. Aber könnte man nicht den Widerstand der Bürger erwarten, wenn die emanzipative Kraft der Wissenschaft abgelenkt wird auf Technoprodukte, von denen viele wesentlich schlimmere Probleme schaffen, als sie lösen? Wie der französische Soziologe und Technikphilosoph Jacques Ellul (1912–1994) gezeigt hat, werden „die Gesetze der Wissenschaft und Technik über die des Staates gestellt, so dass das Volk und seine Vertreter ihrer Macht weitgehend beraubt sind“12 .

In der Tat haben die Wissenschaftler den Szientismus nicht gepachtet, er ist vielmehr eine in der Gesellschaft weit verbreitete Ideologie, vor allem seit es keine überzeugenden politischen oder religiösen Angebote mehr gibt, die dem Glaubensbedürfnis der Menschen entgegenkommen. Die mystische Verheißung des Paradieses und die militante sozialistische Utopie haben ihren Atem ausgehaucht, während der wissenschaftliche Fortschritt im neuen Gewand der Rationalität schon auf dem Vormarsch war.

Auf der Suche nach einem anderen Gott harren die Bürger von heute nun der Produktionen der Technowissenschaft. Keiner von ihnen käme auf die Idee, selbst entscheiden zu wollen, was die Forscher in seinem Namen entwickeln. Dabei wäre das der erste Schritt: Da es die Technowissenschaft gibt, müssen wir auch den Gedanken wagen, sie wie jede andere menschliche Aktivität in eine demokratische Form zu bringen (das hieße Transparenz verlangen, öffentliche Diskussionen herbeiführen, Gegengutachten einholen, die Rationalität von Entscheidungen überprüfen usw.).13 Wie der Physiker und Erkenntnistheoretiker Jean-Marc Lévy-Leblond sehr richtig sagt, hat „die Kirche Galilei einst verurteilt, während sie heute von seinen Nachfolgern nichts mehr zu befürchten hat, wenn man von einer gewissen Konkurrenz einmal absieht. Einigen wir uns darauf, dass eine neue Laizisierung unseres Verhältnisses zum Wissen erlauben müsste, einen gewissen Abstand von der gesamten heutigen Dogmatik zu gewinnen.“14

Laizismus ist das „Prinzip der Trennung von bürgerlicher und religiöser Gesellschaft, wobei der Staat keinerlei religiöse und die Kirche keinerlei politische Macht ausübt“, heißt es im Wörterbuch Petit Robert (das diese Definition ironischerweise mit einem Zitat von Ernest Renan illustriert, der als angehender Priester ein extremer Szientist geworden war). Wenn man die Wissenschaft gemäß der Definition, die der Petit Robert für das Wort „Religion“ liefert, mit einem „System von Glaubenshaltungen und -praktiken“ gleichsetzt, „die Beziehungen zu einem höheren Prinzip implizieren und eine gesellschaftliche Gruppe verbinden“, versteht man besser, worauf Lévy-Leblond mit der „Laizisierung unserer Beziehung zum Wissen“ hinauswill.

Unlängst hat Bertrand Hervieu, der ehemalige Präsident des Nationalen Instituts für argrarwissenschaftliche Forschung (Inra), erklärt, der „Prozess der Desakralisierung“ und „der Eingliederung der Wissenschaft in eine demokratische und laizistische Gesellschaft“ sei noch nicht abgeschlossen.15 In diesem Sinne sollten wir von den Forschern etwas mehr Bescheidenheit und Sorge um das Allgemeinwohl verlangen. Aber genau wie sich der Laizismus nicht allein durch die Gleichschaltung der Kirchenmänner etablieren konnte, hängt die Desakralisierung der Wissenschaft nicht allein von der Einstellung der Forscher ab. Hier wie überall heißt das Schlüsselwort Demokratie. Jacques Ellul spricht vom Totalitarismus der Technik, der uns in eine „technophage“ Logik treibe, aus der es kein Entrinnen gibt, und er äußert die Befürchtung, am Ende sei womöglich „eine Weltdiktatur das einzige Mittel, um der Technik ihren vollen Aufschwung zu erlauben und die ungeheuren Probleme, die sie anhäuft, zu lösen“. In jüngster Zeit wurden Wege eröffnet, die es den Bürgern ermöglichen, Einfluss auf die wissenschaftliche Auswahl zu nehmen und darüber zu wachen, dass die technologischen Entwicklungen den gesellschaftlichen Bedürfnissen auch tatsächlich entsprechen.16

Doch zuerst muss die Gesellschaft mit dem aus der Aufklärung überkommenen Mythos des Fortschritts brechen. Er hindert sie an dem Gedanken, dass die Menschen auch angesichts der Wissenschaft frei und gleich sein könnten.

Fußnoten: 1 Der italienische Priester, Dichter und Philosoph Giordano Bruno geriet wegen seiner Ansichten zu Dreifaltigkeitsdogma und Marienverehrung in Konflikt mit der Kirchenobrigkeit. 1576 wurde er als Ketzer verdächtigt, nach Verfolgung durch die Inquisition und achtjähriger Kerkerhaft in Rom wurde er am 16. Februar 1600 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. 2 Der Begriff geht zurück auf die Figur des sowjetischen Agronomen Trofim Lyssenko (1898–1976) und steht für die Bevorzugung einer wissenschaftlichen Meinung aus ideologischen Motiven. 3 Vgl. Michael Schiff, „Das Gedächtnis des Wassers“, Frankfurt (Zweitausendeins) 1997. 4 Vgl. Serge Latouche, „La méga machine“, Paris (La Découverte) 2004. 5 Siehe dazu Bernard Cassen, „OGM, des académiciens juges et parties“, in: Le Monde diplomatique, Februar 2003. 6 „Le cardinal et l’athée“, in: Le Monde, 2. Mai 2005 (zitiert nach einem Gespräch mit Paolo Flores d’Arcais). 7 „Das Haus brennt, und wir schauen weg“, Rede von Jacques Chirac auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung, Johannesburg 2002. 8 „Les utopies technologiques: alibi politique, infantilisation du citoyen ou lendemains qui chantent“, in: Global Chance 20, Suresnes, Februar 2005. 9 Dorothy Nelkin und Susan Lindee, „The DNA Mystique“, New York (Freeman Press) 1995. 10 Jahrestagung des Nationalen Ethikrats für die Wissenschaften des Lebens und der Gesundheit in Paris, 29. November 2000. 11 Vgl. Michel Onfray, „Féeries anatomiques“, Paris (Grasset) 2003. 12 Vgl. Jacques Ellul, „Le système technicien“, Paris (Calmann-Levy) 1977. 13 Mitteilung Nr. 2 der Fondation sciences citoyennes (FSC), Paris, Oktober 2004: http://sciencescitoyennes.org. 14 Jean-Marc Lévy-Leblond, „La pierre de touche“, Paris (Gallimard) 1996. 15 Agrobiosciences, Castanet Tolosan (31), September 2004. 16 Mitteilung der Fondation sciences citoyennes (FSC), Paris, Oktober 2004: http://sciencescitoyennes.org. Aus dem Französischen von Grete Osterwald Jacques Testart ist Reproduktionsbiologe und Forschungsdirektor am Nationalinstitut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm). Er ist Koautor von „Au bazar du vivant“, Paris (Seuil) 2001. Dieser Artikel ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Testart im April 2005 bei einem Kolloquium in Valence zum Thema Laizität gehalten hat.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2006, von Jacques Testart