10.02.2006

Heiliger Scharon

zurück

Heiliger Scharon

Frankreich verneigt sich vor dem israelischen Unilateralismus von Dominique Vidal

Ariel Scharon hätte es gewiss als Krönung seiner Politik angesehen, dass die Hamas die palästinensischen Wahlen gewonnen hat. Denn der Ausgang der Wahlen vom 25. Januar gibt seiner Taktik der letzten Jahre Recht: Mit der ständigen Klage, dass es auf der anderen Seite „keinen Verhandlungspartner“ gebe, hatte Ministerpräsident Scharon jede Verhandlung über einen endgültigen Status der besetzten Gebiete abgelehnt und sein „unilaterales Vorgehen“ legitimiert.

Die jüngste Entwicklung, die in dieser Deutlichkeit niemand erwartet hatte, bestätigt nur, wie absurd die mediale Verherrlichung Scharons war. Vergleicht man die Reaktion in den französischen wie insgesamt in den europäischen Medien auf den Schlaganfall des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon mit den Kommentaren zum Tod von Expräsident Jassir Arafat im November 2004, kommt man zu dem Befund: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Scharons Abgang von der politischen Bühne wird als „Bedrohung für den Frieden“ dargestellt, beim Tod von Arafat hieß es dagegen, nunmehr sei ein „Hindernis für den Frieden“ beseitigt.

Welch merkwürdige Verkehrung. Dabei war es kein anderer als Abu Amar, der die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) vom bewaffneten (teils terroristischen) Kampf – mit dem Ziel der Vernichtung Israels – zum politisch-diplomatischen Kampf – mit dem Ziel eines unabhängigen palästinensischen Staates an der Seite Israels – geführt hatte. General Scharon hingegen war an allen israelischen Kriegen beteiligt. Und in dem anderen Krieg, der gemeinhin als Siedlungspolitik bezeichnet wird, war er sogar einer der führenden Köpfe. Seine Person wird mit einer Reihe von Massakern in Verbindung gebracht,1 von denen die Medien meist nur das Massaker von Sabra und Schatila nennen, das von phalangistischen Milizen verübt wurde – mit stillschweigender Duldung von Scharons Soldaten. Seltener erwähnt werden die Massaker, für die Scharon und seine Soldaten die unmittelbare Verantwortung tragen, die Massaker von Kibya (1953) und Mitla (1956), die im Gaza-Streifen (1971) und, nicht zu vergessen, die blutige Rückeroberung des Westjordanlands im Jahr 2002.

Das sei zwar alles korrekt, wird nach solchen Hinweisen zugegeben. Doch urplötzlich, Ende Sommer vorigen Jahres, habe sich der „Bulldozer“ mit dem einseitigen Rückzug aus Gaza zum Pazifisten gemausert. „Eine optische Täuschung“, meint der israelische Historiker Tom Segev: „Den ‚neuen Scharon‘, der am Ende seines Lebens seine Friedensliebe entdeckt, diesen Scharon gibt es nicht. Ariel Scharon ist noch immer derselbe, ein General, der die Palästinenser durch das Zielfernrohr seines Gewehrs fixiert und sie als Feinde, nicht als Verhandlungspartner betrachtet.“2 Und für Elie Barnavi, ehemals israelischer Botschafter in Paris, sagt „die ziemlich spektakuläre Kehrtwendung“ in den Kommentaren der Medien „mehr über die Seriosität eines gewissen Journalismus als über die objektive Entwicklung des ehemaligen Ministerpräsidenten“3 .

Nach Clausewitz ist der Krieg „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Scharon, ein würdiger Nachfolger Ben Gurions und Jabotinskys4 , hat diese Maxime umgedreht. Auch nach seiner Wahl Anfang 2001 erklärte er: „Der Unabhängigkeitskrieg von 1948 ist noch immer nicht zu Ende.“5 Nachdem er dieses Programm binnen zwei Jahren durchgezogen und das Westjordanland wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte, stand er vor zwei entscheidenden Problemen: einem strukturellen, nämlich dem wachsenden arabischen Bevölkerungsanteil, und einem konjunkturellen, nämlich dem sinkenden Ansehen Israels nach der Niederschlagung der zweiten Intifada im Jahr 2004.

Nach übereinstimmenden Vorhersagen der Demografen wird die Bevölkerung innerhalb „Großisraels“ schon bald mehrheitlich arabisch sein. Für einen Staat, der sich laut seiner Verfassung als „jüdisch und demokratisch“ versteht, ist das ein schreckliches Dilemma. Wenn er auf seinen demokratischen Charakter setzt, verliert er seine jüdische Identität; will er diese bewahren, kann er nicht mehr demokratisch sein. Als Ausweg aus dieser Zwickmühle gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder er findet sich mit einem eigenständigen palästinensischen Staat an seiner Seite ab, oder aber er muss die Palästinenser massenhaft ausweisen. Die erste Option scheidet für Scharon aus; von der zweiten weiß er, dass sie derzeit undurchführbar ist. Deshalb dachte er sich schon 1998 eine dritte Lösung aus: die Schaffung von vier palästinensischen Enklaven, die eine im Gaza-Streifen, die anderen drei inmitten des Westjordanlands – hinter Mauern. Nach diesem Plan könnte Israel neben Ostjerusalem die drei großen Siedlungsblocks annektieren, in denen 80 Prozent der Siedler leben, und dazu das Jordantal.

Dies ist der Ursprung der Idee von einem unilateralen Rückzug aus dem Gaza-Streifen: eine beispiellose Geste, gewiss, doch letztlich nur eine Etappe auf Israels Weg zu einer neuen Hegemonie. Das strategische Manöver hat jedoch auch eine taktische Seite. Als Scharon 2004 die Initiative ergriff, fühlte er sich isoliert. Und zwar im eigenen Land, wo die Öffentlichkeit den Konflikt beenden wollte, wie auch auf der internationalen Bühne. Am 9. Juli 2004 erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) die Schutzmauer für rechtswidrig und ordnete ihre Zerstörung an. Und diese Entscheidung machte sich die UN-Vollversammlung drei Wochen später zu Eigen, mit 150 Ja- und 6 Neinstimmen bei 10 Enthaltungen. Dass sämtliche EU-Länder für die Entschließung votierten, wundert nicht, wenn man bedenkt, dass 59 Prozent der EU-Bürger der Meinung sind, dass Israel der Staat ist, der „den Weltfrieden am stärksten bedroht“6 .

Auch aus Washington musste Israel mehr Pressionen befürchten. Das so genannte Quartett (UN, USA, EU und Russland) forderte Israel auf, die Roadmap einzuhalten und dementsprechend den Siedlungsprozess einzufrieren.

Der Rückzug aus Gaza – nur eine Dosis Formalin

Dagegen hat Scharons engster Berater Dov Weissglas ganz offen erklärt: „Der eigentliche Sinn des Rückzugs [aus Gaza] ist das Einfrieren des Friedensprozesses. Wenn das gelingt, gibt es keinen palästinensischen Staat und keine Gespräche über Flüchtlinge, Grenzen und den Status von Jerusalem. […] Der Rückzug […] ist die Dosis Formalin, die man braucht, um zu verhindern, dass es zu einem politischen Dialog mit den Palästinensern kommt.“7 Sechzehn Monate später hat sich gezeigt, wie sehr Weissglas mit seiner Analyse Recht hatte: Das Quartett schweigt, und die EU unterschlägt sogar ihren eigenen Bericht über die israelische Annexion von Ostjerusalem. Mit anderen Worten: Israel wird von keiner Seite mehr mit der Roadmap behelligt.

Der Trick hat funktioniert. Der spektakulär inszenierte Rückzug von 8 000 Siedlern aus dem Gaza-Streifen hat die Weltöffentlichkeit hypnotisiert und für das Los der Palästinenser blind, taub und stumm gemacht. Dabei schätzt „Peace Now“, dass die Zahl der Siedler gegenüber dem Vorjahr um 6 100 zugenommen hat und im Westjordanland nunmehr bei insgesamt 250 000 liegt.8 Das Westjordanland wird durch den Ausbau der Siedlung Maale Adumin buchstäblich zweigeteilt. Der Bau der Schutzmauer schreitet voran, auf knapp halber Länge ist sie bereits hochgezogen oder steht kurz vor der Fertigstellung. Der Ring um Ostjerusalem9 ist demnächst komplett. Die israelischen Streitkräfte verstärken ihre Bombenangriffe und Attentate, die demütigende Behandlung an den 750 Kontrollpunkten geht weiter. Doch warum sollte man sich empören? Der Frieden schreitet voran, was zählen da das internationale Recht oder die UN-Resolutionen? Wozu soll man sich da noch groß für einen wirklichen, also: regierungsfähigen palästinensischen Staat einsetzen, der das gesamten Westjordanland und den Gaza-Streifen umfassen würde und Jerusalem zur Hauptstadt hätte?

Die französische Nahostpolitik hat die Politik Israels lange gestützt. Der Hintergrund war die Erinnerung an die eigene Mitschuld am Völkermord der Nazis, aber dann auch der eigene Kampf gegen den arabischen Nationalismus in Algerien und gegen den Nasserismus im Suezkrieg von 1956. Doch nach dem Krieg im Juni 1967 vollzog de Gaulle eine radikale Wende. In seiner berühmten Pressekonferenz vom 27. November 1967 formulierte er hellsichtig, die Besetzung der eroberten Gebiete durch Israel werde „von Unterdrückung, Repression und Vertreibung begleitet“ sein; das werde dann zwangsläufig Widerstand auslösen, „den man dann als Terrorismus bezeichnen wird“. Nach de Gaulle hielten sich Georges Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und auch François Mitterrand an diese neue „Arabienpolitik“. Sie waren überzeugt, dass sich der gordische Knoten in der Region nur durch das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser lösen lasse.

So hielt es zunächst auch der heutige französische Staatspräsident Jacques Chirac, ehe er im letzten Jahr seine Haltung änderte. Das erste Anzeichen war der rote Teppich, den man im Juli vorigen Jahres für den bis dato ungeliebten Ministerpräsidenten Ariel Scharon ausrollte. Dabei muss man wissen, dass dieser Staatsbesuch seit 2004 mehrmals verschoben worden war, weil Scharon den „wilden Antisemitismus“ in Frankreich angeprangert und die Juden im Lande zur Auswanderung nach Israel aufgefordert hatte.

Ein Jahr danach ist ein frappierender Kontrast zu beobachten: Die Repression in Palästina wird in Paris mit ohrenbetäubendem Stillschweigen übergangen, während man mit der israelischen Regierung immer enger zusammenarbeitet.

Ausgesprochen schizophren ist in diesem Zusammenhang die Beteiligung der beiden französischen Großunternehmen Alstom und Connex am Bau der Straßenbahnverbindung zwischen Jerusalem und den Siedlungen Pisgat Zeev und French Hill, die Frankreich stets als rechtswidrig erachtet hat. Und geradezu sprachlos macht, dass Innenminister Nicolas Sarkozy im Dezember den israelischen Minister für öffentliche Sicherheit, Gideon Ezra, und den israelischen Polizeichef Mosche Karadi nach Paris einlud, wo sie, wie die Zeitung Ha’aretz berichtete, „ihren französischen Amtskollegen die Lehren darlegen sollten, die sie aus der Aufstandsbekämpfung in ihrem Lande gezogen haben“10 . Die Franzosen, schrieb das israelische Blatt schelmisch, „zeigten lebhaftes Interesse am israelischen Können auf diesem Gebiet“.

Chiracs Kehrtwendung beschränkt sich nicht auf die Nahostpolitik. Seit letztem Jahr macht er auch in anderen Bereichen die Politik Washingtons mit oder nimmt sie – wie im Fall des Libanon oder Syriens – sogar vorweg.

Vermutlich ist diese Wende in der geopolitischen Orientierung auch durch ein parteipolitisches Kalkül bestimmt. Ganz deutlich wird zum Beispiel, dass die stets auf Wahltermine schielenden französischen Politiker auf die erpresserische Argumentation reagieren, die jedwede Kritik an der Politik Israels als antisemitisch denunziert.11 In der Öffentlichkeit zeigen diese Kampagnen zwar wenig Wirkung, wohl aber bei den Politikern und in den Medien. Doch deshalb muss man einen Kriegsverbrecher nicht gleich zum Heiligen stilisieren.

Fußnoten: 1 Dazu: „Le Général Sharon. Eléments pour une biographie“, Paris (Editions de la Revue d’Etudes palestiniennes) 2001. 2 Le Monde, 12. Januar 2006. 3 Le Figaro, 13. Januar 2006. 4 Ha’aretz, Tel Aviv, 12. April 2001. 5 Ha’aretz, Tel Aviv, 12. April 2001. 6 Siehe Le Monde, 5. November 2003. 7 Interview mit Ha’aretz, 6. Oktober 2004. 8 www.peacenow.org.il. 9 Nach Angaben von Betselem sind von der Gesamtlänge von 681 Kilometern 31 Prozent fertig gestellt, 16,5 Prozent im Bau und 43 Prozent geplant. Bei den übrigen 9,5 Prozent steht der Verlauf noch nicht fest. 10 Ha’aretz, 12. Dezember 2005. 11 Dazu Dominique Vidal, „Frankreich: Debatte über Antisemitismus. Die Feuerwehr als Brandstifter“, Le Monde diplomatique, Mai 2004. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Dominique Vidal ist Redakteur von Le Monde diplomatique, Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.02.2006, von Dominique Vidal