Bruch im Innern, Druck von außen
Die Ukraine ein Jahr nach der Revolution in Orange von Philipp Ther
In Kiew ist die Revolution in Orange zumindest auf Abruf präsent. Fragt man junge Leute auf der Straße: „Wie war es letzten Winter?“, sind die winterlichen Tiefsttemperaturen und das raue politische Klima der Ukraine für einen Moment vergessen. Dann wärmt man sich an den Erinnerungen und erzählt von der Atmosphäre vor einem Jahr. Von einem intensiven Lebensgefühl, in dem sich die moralische Überlegenheit, die wegen des Wahlbetrugs außer Zweifel stand, und die euphorisierende Solidarität der Massen mit der Angst vor einem Gegner verbanden, der eigentlich geschlagen, aber immer noch bedrohlich war. Denn auf dem Majdanek Niezaleznosti (Platz der Unabhängigkeit) kursierten damals Gerüchte über anrückende russische Spezialtruppen oder Schlägerbanden aus der Ostukraine. Das gab den Menschen das Gefühl, etwas Mutiges zu tun, obwohl die meisten Polizisten in Kiew bereits auf ihrer Seite standen.
Die erhebende Erinnerung an die Revolution ist inzwischen tiefer Ernüchterung gewichen. In politischen Zeitschriften wird jetzt die Frage gestellt, ob man überhaupt von einer Revolution sprechen könne. Vielleicht war das Ganze doch nur eine schale Wende?
Für die zweite Interpretation spricht die erstaunliche politische Kontinuität. Zwar wurde Ende 2004 der rechtmäßige Sieger der gefälschten Wahlen, Wiktor Juschtschenko, zum Präsidenten gewählt, die Regierung bekam mit der schönen Julia Timoschenko ein neues Gesicht, und auch auf der Ebene der Provinzgouverneure wurden viele Köpfe ausgewechselt. Aber an den Gerichten, den Universitäten, den Schulen und in den Behörden, mit denen die Menschen täglich zu tun haben, hat sich kaum etwas geändert.
Diese Kontinuität hat der Ukraine vorerst jenen wirtschaftlichen Schock erspart, den die DDR und die Tschechoslowakei nach 1989 durchmachen mussten. Auch eine Hyperinflation, die Millionen von Polen verarmen ließ, ist in der Ukraine ausgeblieben. Es gab auch noch keine Massenentlassungen, und die Arbeitslosigkeit ist deutlich geringer als in den meisten EU-Ländern, von Polen ganz zu schweigen. Und die Griwna wurde gegenüber dem Dollar und dem Euro nicht etwa ab-, sondern aufgewertet. Auch hat die neue Regierung die Gehälter und Renten deutlich angehoben. Staatsbedienstete verdienen im Durchschnitt über 50 Prozent mehr als vor einem Jahr.
Aber dieser Aufschwung hat zugleich die Inflation auf über 15 Prozent angeheizt. Und zum Teil ist er auf Pump finanziert. Die Staatsquote am gesamten Bruttosozialprodukt erhöhte sich innerhalb des letzten Jahres von knapp 40 auf über 44 Prozent. Das ist im Vergleich zu Westeuropa zwar kein besonders hoher Wert, aber er geht auf Kosten der Privatwirtschaft, die den Aufschwung seit 2001 – mit Wachstumsraten zwischen 5 und 12 Prozent – getragen hat. Zudem stopfte die Regierung Steuerschlupflöcher für kleine und mittlere Unternehmen. Das ist zwar langfristig richtig, weil der Staat stetige Einnahmen braucht und eine hinreichende Besoldung der Beamten die beste Korruptionsbekämpfung ist. Doch die Bankrotte häufen sich.
Der Ökonom Anders Aslund, Experte für die GUS-Länder, kritisiert die ukrainische Finanz- und Wirtschaftspolitik als zu sozialistisch und zu populistisch.1 Damit meint er die hohen Staatsausgaben und die Versuche der Regierung unter Julia Timoschenko, die Preise für Energie und Fleisch administrativ zu regulieren. Im Frühjahr 2005 wollte die Ministerpräsidentin einige russische Ölfirmen und ukrainische Raffinerien zwingen, Öl und Benzin unter Weltmarktpreis zu verkaufen. Als die Firmen einfach die Produktion drosselten, was zu einer kurzen Energiekrise und langen Schlangen an den Tankstellen führte, drohte Timoschenko mit dem Aufbau eines konkurrierenden staatlichen Tankstellennetzes.
Bei der Fleischproduktion gab es ähnliche Probleme. Im April 2005 stiegen die Preise stark an, auch aufgrund drastisch erhöhter Einfuhrzölle. Als Timoschenko die Provinzgouverneure anwies, die direkte Vermarktung von Fleisch zu ermöglichen (was an die Kolchosmärkte der Sowjetunion erinnert) war das Resultat ein dirigistisches Chaos. Am Ende griff Juschtschenko ein und verfügte die Liberalisierung des Energie- wie auch des Fleischsektors.
Der Bruch zwischen den beiden Protagonisten der Revolution in Orange hat sich seitdem als endgültig erwiesen. Nach neuerlichen Querelen entließ Juschtschenko im August 2005 die Heldin der Demonstranten vom Winter zuvor. Damit zerfiel die Reformbewegung in zwei Flügel: Der radikale wettert gegen die Oligarchen und Russland, der zentristische um Juschtschenko will sich mit beiden Kräften eher arrangieren. Die Entlassung Timoschenkos bedeutet allerdings einen fatalen Kompromiss mit den alten Kräften. Juschtschenko berief den Bürokraten Juri Jechanurow zum neuen Regierungschef, wozu er im Parlament die Stimmen seiner einstigen Gegner brauchte. Dafür musste er seinem alten Rivalen Janukowitsch Straffreiheit für die Fälschung der Präsidentschaftswahlen zusichern. Durch seinen Händedruck mit dem Usurpator hat sich Juschtschenko in den Augen vieler Aktivisten der Revolution, vor allem unter den jungen Leuten, unwiderruflich kompromittiert.
Der Geburtsfehler der Reformregierung
Wie lässt sich das Paradox erklären, dass Juschtschenko, der eigentlich immer für liberale Reformen stand und als kurzzeitiger Ministerpräsident 1999/2000 die Grundlagen für den Aufschwung der Ukraine schuf, eine eher dirigistische Wirtschaftspolitik einschlug? Einer der Geburtsfehler der neuen Regierung geht auf einen Kompromiss aus der Zeit der Revolution in Orange zurück. Die alten Kräfte der Ära Kutschma überließen Juschtschenko unter dem Eindruck der Massendemonstrationen zwar das Präsidentenamt, erreichten dafür aber, dass die Parlamentswahlen erst im Frühjahr 2006, über ein Jahr nach der Wende, stattfinden sollten. Bis dahin wollte die neue Regierung schmerzhafte Reformen vermeiden und vor allem die Kaufkraft der Bevölkerung steigern. Dabei schoss die impulsive Regierungschefin Timoschenko populistisch über das Ziel hinaus. Erfolgreiche Revolutionäre sind nur selten gute Verwalter.
Aber die lange Frist bis zu den Parlamentswahlen schuf auch Raum für alle möglichen Störmanöver von außen. Moskau hat es bis heute nicht verwunden, dass sein Kandidat in Kiew gestürzt wurde. Wladimir Putin hatte direkt in den Präsidentschaftswahlkampf eingegriffen und Janukowitsch zum illegitimen Wahlsieg gratuliert. Die orange Revolution bedeutete für Moskau nicht nur einen enormen Prestigeverlust im postsowjetischen Raum, sondern zugleich das Ende der Pläne, zusammen mit Belarus und der Ukraine einen neuen Wirtschaftsraum, als Ersatz für die Sowjetunion, zu gründen. Putin betrachtet die Ukraine nach wie vor nicht wirklich als Ausland. Und die Sicherheitsdoktrin des Kreml definiert neuerdings die Energieressourcen als ein wichtiges außenpolitisches Instrument.
Der Stopp der Lieferung von verbilligtem Erdgas an die Ukraine im Dezember 2005 war ein klarer Versuch, Juschtschenko vor den ukrainischen Wahlen im März zu schwächen und die prorussischen Kräfte zu stärken. Der Gazprom-Konzern, der unter indirekter Kontrolle des Kreml steht, verlangte statt gut 50 Dollar für 1 000 Kubikmeter Gas plötzlich den Weltmarktpreis von 230 Dollar. Die Ukraine forderte Übergangsfristen und verwies auf die äußerst günstigen Durchleitungstarife für das russische Erdgas in Richtung Westeuropa. Als kein Kompromiss zustande kam, drehte Gazprom der Ukraine den Gashahn ab. Die Ukraine reagierte wie bei ähnlichen Krisen Anfang der 1990er-Jahre. Sie reduzierte einfach die Lieferungen nach Westeuropa. Russland musste nachgeben, da sein Ruf als verlässlicher Gaslieferant auf dem Spiel stand. Schließlich einigte man sich auf einen Preis von 95 Dollar für 1 000 Kubikmeter Gas, der jedoch auf einer Beimischung von turkmenischem Erdgas beruht, das Russland nach wie vor zu Sonderkonditionen bezieht.
Die Gaskrise wirft ein Schlaglicht auf die gesamte Außenpolitik Putins. Wer sich Russlands Willen fügt, wie der weißrussische Diktator Lukaschenko, kann weiterhin Gas zu einem Preis von gut 50 Dollar beziehen. Wer sich gegen Russland stellt, muss den Weltmarktpreis bezahlen. Ähnlich wie in der alten Sowjetunion, die nach den beiden Ölkrisen von 1974 und 1979 ihre Satellitenstaaten in Ostmitteleuropa mit verbilligter Energie belieferte, bezahlt die Zeche letztlich wieder das russische Volk, dem Einnahmen aus den Rohstoffen des Landes verloren gehen.
Das System politischer Gaspreise ist nur deshalb möglich, weil Putin die Energieunternehmen des Landes de facto wieder verstaatlicht hat. Damit erklärt sich auch die Kampagne gegen den ehemaligen Yukos-Chef Chodorkowski, der einen marktwirtschaftlichen und von der Börse kontrollierten Energiesektor schaffen wollte, dessen Gewinne zum Teil allerdings an die Wall Street gepumpt worden wären. Putin verbannte seinen innenpolitischen Gegner ganz nach sowjetischer Tradition in die sibirische Lagerhaft und machte Gazprom zu einer tragenden Säule neoimperialer Außenpolitik.
Im Westen wurde der Fall Chodorkowski als eine innere Angelegenheit Russlands betrachtet. Aber der innere und der äußere Kurs der Regierung Putin sind eine Einheit. Das zeigt sich auch an den Restriktionen gegen NGOs, mit denen der Kreml den westlichen Einfluss auf die innere Entwicklung Russlands entscheidend beschränken will.
Umso mehr müsste der EU daran gelegen sein, die demokratische Entwicklung und die Unabhängigkeit der Ukraine zu unterstützen. Denn das Land spielte in der Geschichte Osteuropas stets eine strategische Schlüsselrolle.2 Erst seit Russland Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Teilung Polens einen Großteil der Ukraine übernahm, konnte es als osteuropäische Hegemonialmacht auftreten. Entsprechend war mit der Unabhängigkeit der Ukraine, 1991 durch ein Plebiszit beschlossen, das Ende der Sowjetunion besiegelt.
Wenn sich nach der Wahl im März in Kiew eine einseitig prorussische Politik durchsetzt, könnte Russland erneut Großmachtambitionen entwickeln. Zu den geopolitischen Projekten – die in Moskau seit einigen Jahren in Mode sind – gehört auch die geplante Ostseepipeline von Russland nach Deutschland. Sie sichert der Bundesrepublik russisches Gas, liefert aber die Ukraine und auch Polen, da sie dann nicht mehr mit der Durchleitung von russischem Gas pokern können, künftigen russischen Erpressungsversuchen aus.3
Die Ukraine wurde in der Gaskrise vom Dezember vom Westen zumindest moralisch unterstützt. Doch die gewünschte Annäherung an den Westen ist seit Dezember 2004 kaum vorangekommen. Dies liegt zum einen an den innenpolitischen Verwerfungen. Der neue Regierungschef Jechanurow ist seit der Gaskrise angeschlagen. Die Opposition warf ihm Anfang Januar im Parlament Verrat an den nationalen Interessen vor, weil er dem fast verdoppelten Gaspreis zugestimmt hatte. Mit Hilfe von Julia Timoschenko wurde Jechanurow durch ein Misstrauensvotum des Parlaments abgewählt, von Juschtschenko jedoch im Amt gehalten.
Der Ausgang der Parlamentswahlen Ende März ist noch völlig offen, aber die gespaltenen Reformer müssen mit Stimmeinbußen rechnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Ostmitteleuropa die Revolutionäre von 1989 und die Reformparteien einige Jahre nach der Wende massiv an Popularität einbüßten. In der Ukraine sieht es jetzt wieder so aus, als könnte die von Janukowitsch geführte prorussische „Partei der Regionen“ zur stärksten Partei werden.
Für eine Annäherung an den Westen sind mittlerweile mehrere Hindernisse entstanden. Zum Ersten sind die erwarteten Reformen unterblieben. Eine Aufnahme in die WTO ist zum Beispiel nicht möglich, solange die Korruption nicht entschiedener bekämpft wird und solange Politiker und Unternehmer weiterhin eine undurchsichtige Ämterhäufung betreiben.
Kein Licht aus dem Westen
Eine Annäherung wird aber auch durch die Haltung des Westens erschwert. Zum Beispiel hatte die Ukraine als Geste des guten Willens die visumfreie Einreise von EU-Bürgern ermöglicht. Der im Februar 2005 beschlossene Aktionsplan der EU verspricht dagegen nur unverbindlich einen „konstruktiven Dialog“ über künftige Visa-Erleichterungen seitens der Europäischen Union.4 Wenn die Reformer in der Ukraine der Bevölkerung bis zu den Wahlen einen konkreten außenpolitischen Erfolg vorweisen wollen, müssen sobald wie möglich konkrete Vereinbarungen geschlossen werden. Die aber sind etwa in Deutschland seit der künstlich aufgebauschten Visa-Affäre politisch kaum durchsetzbar. Und Frankreich stoppt seit dem verpatzten Referendum zur EU-Verfassung jegliche weitere Öffnung der EU nach Osten.
Auch wenn die Revolution in Orange primär innenpolitische Ursachen hatte, demonstrierten Millionen für eine Westorientierung ihres Landes, und zwar nach außen wie im Innern. Würde man den Ukrainern jetzt den Rücken zukehren oder ein positives Signal verweigern, würden sie sich wahrscheinlich wieder stärker an Russland orientieren. Die Stimmung in Kiew ist – aufgrund des innenpolitischen Chaos und der wirtschaftlichen Probleme – ohnehin am Kippen. Noch lebt der Mythos und das Erlebnis der Revolution in den Köpfen fort, doch spätestens mit den Wahlen Ende März beginnt eine neue Zeit – auch für die EU.