12.07.2013

Telenovela oder Das wahre Leben

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Telenovela oder Das wahre Leben

von Lamia Oualalou

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Es wird niemand kommen!“ Einhelliger Protest im Wahlkampfteam von Fernando Haddad, dem Anwärter auf das Amt des Bürgermeisters von São Paulo: Präsidentin Dilma Rousseff wollte doch wohl nicht ernsthaft die Veranstaltung für den Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) ausgerechnet an diesem Freitag, den 19. Oktober, abhalten? An dem Freitag, an dem die letzte Folge der Telenovela „Avenida Brasil“ gesendet werden sollte? An dem Freitag, an dem Millionen Brasilianer dem letzten Duell der Heldinnen Nina und Carminha beiwohnen würden, um endlich zu erfahren, wer Max umgebracht hat? Die Präsidentin ließ sich überzeugen und verschob ihren Auftritt um einen Tag.

Angefangen hatte das Ganze mit den US-amerikanischen Soap-Operas, die in den 1960er Jahren von Miami aus Kuba eroberten. Die lateinamerikanischen Sender, allen voran der 1950 gegründete brasilianische Pionierkanal TV Tupi, wandten sich deshalb zunächst an die von der Revolution etwas eingeschüchterten Drehbuchautoren der Insel. „El derecho de nacer“ (Das Recht, geboren zu werden), 1964 ausgestrahlt, war eine Adaption der gleichnamigen Hörspielserie, die 1946 auf allen kubanischen Radiosendern gelaufen war. Die Serie hatte einen richtigen Schluss, während sich die US-amerikanischen Seifenopern über Jahrzehnte hinziehen konnten.

Zum ersten Mal kam das Leben zwischen Rio und São Paulo mehrmals in der Woche eine halbe Stunde lang fast völlig zum Erliegen – aber nicht überall zum gleichen Zeitpunkt. Die Telenovela, oder „Novela“, wie man sie hier abkürzt, wurde noch nicht täglich gesendet, und es gab kein funktionierendes Sendernetz: Sobald eine Folge in São Paulo ausgestrahlt worden war, brachte man den Film per Flugzeug oder Auto nach Rio.

Zunächst bevorzugte man exotische Geschichten, die im Ausland spielten, wie „Der Zigeunerkönig“, „Der Scheich von Agadir“ oder „Die Seufzerbrücke“. Der Wendepunkt kam 1968 mit „Beto Rockefeller“, einem Helden, der aus São Paulo kam. Beto arbeitete in einem Schuhgeschäft an einer der großen Avenidas und verkehrte zugleich als angeblicher Millionär in der High Society. Zum ersten Mal wurde in einer Fernsehserie Alltagssprache benutzt und Freud und Leid eines typischen brasilianischen Stadtbewohners in Szene gesetzt – was um so authentischer wirkte, als zum Teil an Originalschauplätzen gedreht wurde. Die typisch brasilianische Novela war geboren: „Während man in Mexiko und Argentinien bei Familiendramen blieb, handelte die Novela von aktuellen sozialen und politischen Fragen in Brasilien“, erklärt Maria Immacolata Vassallo de Lopes, Filmwissenschaftlerin an der Universität São Paulo (USP).

1965 wurde TV Globo gegründet und übernahm praktisch das ganze Genre. „Wer von der brasilianischen Novela redet, meint eine Novela von Globo“, sagt der ehemalige Drehbuchautor Bosco Brasil. Der Sender entstand ein Jahr nach dem Militärputsch, und sein Erfolg verdankt sich vor allem dem politischen Gespür Roberto Marinhos, der die bedeutende, aber nicht in ganz Brasilien verbreitete Zeitung O Globo von seinem Vater geerbt hatte. Er begriff, wie wichtig es für die Militärjunta war, im ganzen Land präsent zu sein. Während Präsident Juscelino Kubitschek (1956–1961) mit dem Ausbau des Straßennetzes punkten konnte, nutzten die Militärs, die von 1964 bis 1985 an der Macht waren, die Medien.

Globo war der Schlussstein ihrer Medienarchitektur: „Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, spielte Globo eine zentrale Rolle bei der Vereinigung eines Landes, das eher die Größe eines Kontinents besitzt; denn der Sender erreichte einen großen Absatzmarkt. Politisch betrachtet, verbreitete das Programm eine optimistische Botschaft an die Nation, die auf Fortschritt und Entwicklung setzte und entscheidend dazu beitrug, das autoritäre Regime zu stützen und zu legitimieren“, erklärt Venício de Lima, Kommunikationsforscher an der Nationalen Universität von Brasília.1

Ein Land setzt sich in Szene

Mit der Zeit schuf der Sender „ein gemeinsames Repertoire, eine imaginäre nationale Gemeinschaft“, meint Maria Vassallo de Lopes. Im Jahr 2011 besaßen 96,9 Prozent aller brasilianischen Haushalte einen Fernseher; jeder Brasilianer schaut sich im Durchschnitt 700 Stunden Globo-Sendungen pro Jahr an. Obwohl der Gaucho im äußersten Süden vielleicht den Argentiniern nähersteht als seinen Landsleuten und der Fischer in Amazonien nicht viel mit der Bäuerin im Nordosten gemein hat, träumen sie doch alle davon, eines Tages Rio kennenzulernen, wo die meisten Globo-Novelas spielen.

Die Identifikation mit den Serienhelden gelingt umso leichter, als die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. Wenn die Brasilianer Weihnachten feiern, tun es die Figuren auf der Mattscheibe auch. Der reale Einsturz eines Gebäudes in Rio de Janeiro im Januar 2012 wurde in den folgenden Tagen von den Protagonisten der Novela „Gute Figur“ kommentiert. Und als in einer Folge ein fiktiver Abgeordneter zu Grabe getragen wurde, spielten in der Beerdigungsszene echte Politiker mit.

Junge und Alte, Reiche und Arme, Analphabeten und Intellektuelle: Alle können sich in den Telenovelas wiedererkennen. Die Psychoanalytikerin Ma-ria Rita Kehl bemerkt dazu: „Dass in einem derart geteilten und vielfältigen Land wie Brasilien überall dieselben Bilder laufen, trägt dazu bei, dass das Land zur Parodie einer Nation wird, wo die Bevölkerung sich nicht als Volk, sondern als Fernsehpublikum in derselben Sprache vereint weiß.“2

Das seinerzeit offenkundige Wohlwollen der Militärjunta allein vermag nicht zu erklären, wie Globo diese Sprache im ganzen Land durchsetzen konnte. Zur Primetime werden immer Eigenproduktionen gesendet. „Der Erfolg beruht auf wirklichen Talenten, künstlerischen wie technischen, die vor allem für die Novelas gearbeitet haben“, erklärt Mauro Alencar, Professor für TV-Dramaturgie an der Universität von São Paulo. Als Marinho beschloss, die Novela zum Kerngeschäft seines Senders zu machen, stellte er massenhaft Personal ein. Ironischerweise machte es ihm die Diktatur leichter, da die Zensur den guten, häufig politisch linken Dramatikern die Aufführung ihrer Theaterstücke untersagte. So kamen Schriftsteller wie Dias Gomes, Bráulio Pedroso oder Jorge Andrade dazu, für „Doktor Marinho“ und das Fernsehen zu arbeiten, das sie zuvor verachtet hatten.

Wider alle Erwartungen gab die Leitung des Senders den berühmten Autoren echte Schreibfreiheit und war bereit, den Zensoren die Stirn zu bieten. Globo hatte bereits 36 Folgen der Novela „Roque Santeiro“ von Dias Gomes gedreht, als die Ausstrahlung der Serie verboten wurde. Zehn Jahre später wurde sie erneut erfolgreich – mit einem Remake, das nach der Einführung der Demokratie produziert wurde. Die Novela „O Rei do Gado“ (Der König der Truppe) von Benedito Ruy Barbosa aus dem Jahr 1996 ist ein trauriger Abgesang auf die Agrarreform, mit der die Bewegung der Landlosen (MST) ungeahnte Bildschirmpräsenz gewann.

„Ich arbeite jetzt seit 35 Jahren für Globo, ich habe 17 Novelas geschrieben, und keiner hat mir je gesagt, was ich zu tun habe. Ich war immer völlig frei“, erzählt Silvio de Abreu, einer der wichtigsten Drehbuchautoren des Senders. Für Maria Carmem Jacob de Souza Romano, Kommunikationswissenschaftlerin an der Bundesuniversität von Bahia, besitzen „die großen Autoren natürlich Verhandlungsmacht. Sie wissen, dass sie in der Novela keine Brandreden halten können, aber sie können Themen anreißen, die ihnen am Herzen liegen, sofern sie damit Erfolg haben.“

Vom Zentrum Rios aus braucht man bei flüssigem Verkehr eine gute Autostunde bis zur Traumfabrik Projac, die TV Globo in Jacarepaguá im Osten der Stadt errichtet hat. Auf dem mehr als 150 Hektar großen Terrain, davon 70 Prozent Wald, kann der Sender alle Produktionsstufen einer Telenovela abwickeln. „Vorher waren die Dreharbeiten auf mehrere Studios in der ganzen Stadt verteilt. Wenn man alles an einem Ort zusammenbringt, spart man enorm viel Zeit und Geld“, erläutert die Pressesprecherin, Frau Paternostro vor einem Modell der Anlage.

Für die Besichtigung braucht man unbedingt ein Auto. In dem einen Gebäude sitzen Rechercheteams, die Material zusammenstellen und Marktstudien betreiben. Ein Stück weiter werden Kostüme entworfen, genäht und sorgfältig aufgehoben, damit man sie auch in Zukunft verwenden kann. Dann kommt man in eine gigantische Tischlerwerkstatt, wo Möbel und Kulissen gebaut werden, die ein paar Meter entfernt entworfen wurden: ein Salon aus dem 19. Jahrhundert, ein U-Bahn-Waggon – alles in Einzelteilen, die innerhalb weniger Stunden in einem der vier 1 000-Quadratmeter-Studios zusammengesetzt werden können, wo an jedem Tag des Jahres gedreht wird. Die Teile werden danach wieder abgebaut und für künftige Dreharbeiten eingelagert – oder demontiert und recycelt.

Im Osten des Geländes stehen die Dauerkulissen der Filmstadt, wie etwa die Kirche mit den drei verschiedenen Fassaden: einer barocken, einer italienischen und einer portugiesischen. „Eine Kirche braucht man immer“, lächelt Frau Paternostro, denn in der letzten Folge wird unausweichlich geheiratet. Dahinter stehen ganze Stadtteile, errichtet für neun Monate, die durchschnittliche Drehzeit für eine Novela.

Da die Hälfte der Handlung der Anfang 2013 ausgestrahlten Serie „Salve Jorge“ in der Türkei spielt, hat die künstlerische Leitung ein kleines Istanbul erschaffen, mit viel Liebe zum Detail: abgerissene Anschlagzettel, ein aus einem Regal gefallenes Buch, eine traditionelle Teekanne.

Für das Dekor hatte man Tausende Fotos vor Ort geschossen und eine Ladung landestypischer Requisiten nach Rio geschafft. Filmteams drehten tagelang das Alltagsleben in Istanbul, die Straßenverkäufer, den Verkehr. Am Ende wurden diese Bilder, immer Totalen, zwischen die Szenen geschnitten, die man in der Kulissenstadt gedreht hatte. Die Illusion funktioniert perfekt. Auf diese Weise werden nicht nur entfernte Drehorte herangeholt: Neben Klein-Istanbul hat man auf 1 800 Quadratmetern das Gassengewirr von Alemão, einer der größten Favelas von Rio de Janeiro, nachgebaut. Auch hier ist man verblüfft, wie authentisch das wirkt. Globo hat sogar eine echte Empanadaverkäuferin engagiert: In den Pappmachékulissen verkauft Adriana Souza wie daheim in ihrer Favela ihre mit Fleisch oder Krabben gefüllten Teigtaschen.

Das Erfolgsgeheimnis von TV Globo besteht darin, alle Etappen einer Produktion industrialisieren zu können. Auf diese Weise können täglich mindestens drei Novelas gesendet werden; die Serien laufen mit 140 bis 180 Folgen zu je 45 Minuten über sechs bis neun Monate. Jede Sendezeit bedient ein eigenes Genre, gemäß einem Modell, das seit 1968 unverändert geblieben ist: Die 18-Uhr-Novela ist eher leichte Kost, um 19 Uhr laufen Komödien, und die beste Sendezeit um 21 Uhr bekommen Sozialdramen. Die Geschichte folgt meist den typischen Strukturen des Melodrams und dreht sich gern um Fragen der Herkunft, um unbekannte oder falsche Identität, was zur Suche nach dem Vater oder der Mutter führt, inklusive Rachezügen.

Die Produktion einer Novela ist teuer, eine Folge verschlingt etwa 200 000 Dollar. „Eine starke Tendenz der letzten Jahre ist das Remake großer Erfolgsserien der Vergangenheit“, erklärt Nilson Xavier, Verfasser eines „Almanachs der brasilianischen Telenovela“. Gilberto Braga, einer der beliebtesten Drehbuchautoren von Globo, hält das für keine gute Idee: „Es gibt kein Rezept, das jedes Mal funktioniert.“ Wenn ein Vorschlag angenommen ist, nimmt sich der Autor eine Handvoll Assistenten, die in atemberaubendem Tempo einen Teil der Dialoge und Szenen für ihn schreiben.

Von den ersten Ausstrahlungen an wird die Reaktion des Publikums über Umfragen und soziale Netzwerke genau beobachtet. „Die Novela ist ein offenes Kunstwerk“, sagt Flavio Rocha, einer der Globo-Direktoren. „Wenn etwa ein Paar in den Augen der Zuschauer nicht überzeugend wirkt, wird es schlimmstenfalls aus der Serie verschwinden, während eine Nebenfigur zur Hauptfigur aufsteigen kann, wenn sie großen Erfolg hat. Der Autor passt sich an.“

Die Behauptung vom „offenen Kunstwerk“ ist ein von Globo sorgsam kultivierter Mythos. Bevor die Drehbuchautoren ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen, werden sie ermahnt, zuerst an die Produktionskosten zu denken. Idealerweise sollen alle Szenen, die in einem Zimmer spielen, auch in einem Stück gedreht werden können. Anschließend wird die Kulisse abgebaut und eine neue im selben Studio errichtet. Die Schauspieler drehen dann an einem Nachmittag Szenen aus den Folgen 8, 22, 24 und 42. Das ist nur etwas für Profis, die sich mit dieser Art des Drehens auskennen.

Wenn man einen Star einsetzen möchte, stellt das die Autoren vor weitere Herausforderungen: Manche Schauspieler lassen vertraglich festlegen, dass sie nur dienstags und donnerstags in Projac erscheinen, oder sie verlangen hohe Gagen, wenn sie ihren Terminkalender ändern sollen. Und sie wollen möglichst alle Szenen, an denen sie beteiligt sind, an einem Tag abarbeiten. „Deshalb lassen sich zum Beispiel die Hauptfiguren niemals scheiden: Dann müssten sie ja ihr Haus verlassen, also die Hauptkulisse, und an einer Reihe anderer Schauplätze drehen“, spottet ein Autor, der anonym bleiben möchte. Der Erzählfluss muss möglichst einfach aufgebaut sein, damit der Zuschauer auch noch mitkommt, wenn er ein paar Folgen verpasst hat. Dennoch sind die Figuren sehr komplex angelegt und die Handlung, die häufig auf einen reichen literarischen Fundus zurückgreift, so ausgetüftelt, dass sie das Publikum noch Jahre nach der Ausstrahlung beschäftigen.

Auf jeden Fall müssen alle sozialen Schichten vorkommen. „Das ist bei den Novelas zwingend vorgegeben, genau wie bei den Nachrichten von Globo. Aber etwas für alle zu schreiben ist ein Widerspruch in sich, das können nur sehr wenige“, meint Bosco Brasil. Und Maria Carmem Jacob de Souza Romano bestätigt das: „Zwischen 1989 und 2004 wurden zur Primetime 25 Novelas ausgestrahlt, die von nur zehn Autoren geschrieben waren.“ Die Gehälter in diesem exklusiven Club sind entsprechend hoch – bis zu über 100 000 Euro im Monat. Das mag für viele ein Haufen Geld sein, doch im Verhältnis zu den Einnahmen, die man mit dem Produkt erzielt, sind es nur Peanuts. Nach Schätzungen kostet ein 30-Sekunden-Spot in einer Novela zur Hauptsendezeit um die 350 000 Reais (umgerechnet circa 120 000 Euro), in der letzten Folge von „Avenida Brasil“ sogar das Doppelte.3 Diese Abschlussfolge dauerte eigentlich 66 Minuten, zusammen mit der Werbung aber fast zwei Stunden. 500 Werbeplätze wurden an landesweite und regionale Inserenten vergeben.

Die Novela als Spiegel der modernen Gesellschaft funktioniert auch deshalb so gut, weil der Sender wichtige Themen gezielt didaktisch aufbereitet – er hat dafür sogar eine eigene Abteilung. Studien der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB)4 gelangten zu dem Ergebnis, dass die Novelas beim Rückgang der Geburtenrate um 60 Prozent seit den 1970er Jahren eine Rolle gespielt haben, ebenso wie bei der inzwischen fünfmal so hohen Scheidungsrate.5 Die Leukämieerkrankung von Camila, einer Figur der im Jahr 2000 ausgestrahlten Serie „Familienbande“, führte beispielsweise dazu, dass die Bereitschaft zur Organspende schlagartig zunahm. „Manche Novelas haben auch viel zur Akzeptanz von Homosexualität beigetragen“, fügt Silvio de Abreu hinzu.

Das politisch korrekte „soziale Merchandising“ ist ein Markenzeichen der brasilianischen Novela und trägt zweifellos dazu bei, Diskussionen innerhalb der Gesellschaft voranzutreiben. Für TV Globo, das Herzstück der Globo Mediengruppe, der wichtigsten Lateinamerikas, ist es „auch eine Möglichkeit, sich als Privatsender, der sich für gesellschaftliche Belange engagiert, Prestige zu verschaffen“, meint Maria Carmem Jacob de Souza Romano. Dagegen glaubt Mauro Alencar, dass der alte Slogan von Globo „A gente se vê por aqui“ (Hier sieht man sich) und der neue „A gente se liga em você“ (Mit Ihnen verbunden) „nicht einfach nur Werbung sind: Sie stehen für die starke Identifikation des Publikums mit dem Sender und dessen Interesse an den großen Themen des Landes.“

Es ist nicht leicht, diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Auch wenn TV Glo-bo nach wie vor der unangefochtene König der Novela ist und die anderen Sender lediglich ihr Produktionsmodell kopieren, ohne die Mittel für ein eigenes in die Hand zu nehmen, leidet der Sender heute unter der Konkurrenz durch das Internet und dem Desinteresse eines Teils der Jugend.

Bis in die 1970er Jahre lagen die Quoten der Novelas oft über 60 Prozent, manchmal sogar bei 80 Prozent. Heute ist schon eine Quote von 40 Prozent ein Erfolg. 2012 sank die Zuschauerzahl bei TV Globo um 10 Prozent6 auf den niedrigsten Stand aller Zeiten – das betraf allerdings alle brasilianischen Sender. „Das Problem ist, dass man die Novela heute auf dem Computer oder Mobiltelefon anschaut, und für diese Anwendungen haben wir noch kein Verfahren zur Quotenmessung“, wendet Mauro Alencar ein.

In der Tat bedeutete der Einbruch der messbaren Zuschauerzahlen keinen Rückgang der Profite, wie man vielleicht meinen könnte: Die Novelas spielen mehr ein als je zuvor. In den Werbeagenturen führt man das zum Teil auf eine gewisse Unbeweglichkeit zurück. Wie bei den Anzeigen für Printmedien ist es einfacher, die Werbekunden zu wenigen festen Sendeplätzen zu überreden, ohne deren geringere Reichweite zu beachten. Illusionen werden weiterhin dadurch genährt, dass die Serien omnipräsent sind: Dutzende Zeitschriften widmen sich einzig den Novelas, in den sozialen Netzwerken wird die Spannung noch weiter gesteigert, Experten aller Art werden in anderen Globo-Sendungen über aktuelle Novelas befragt, aber auch in der Zeitung O Globo, in den Radios und den anderen Sendern der Mediengruppe Globo. Dieser Synergieeffekt ist wissenschaftlich noch wenig untersucht. „Man spricht und hört immer mehr von der Novela, ohne dass man sie sehen muss“, stellt Bosco Brasil fest.

Hinzu kommt, dass sich die brasilianische Gesellschaft im Verlauf der letzten zehn Jahre stark verändert hat. Fast 50 Millionen Menschen sind der Armut entronnen und als Verbraucher auf dem Markt für Massenprodukte angekommen. „Das sind Haushalte, deren Kaufkraft beträchtlich gestiegen ist. Damit wird es interessanter, in Werbung oder in Merchandising-Aktionen zu investieren“, erklärt Mauro Alencar.

Die Heldin ist auf einer Müllhalde groß geworden

Das ist auch einer der Gründe für den unglaublichen Erfolg von „Avenida Brasil“, benannt nach der Schnellstraße, die die Vorstädte im Norden mit dem reichen, touristischen Süden von Rio de Janeiro verbindet. Nicht die Handlung – eine junge Frau, aufgewachsen auf einer städtischen Müllhalde, will sich rächen, weil ihre reich gewordene Stiefmutter sie einst im Stich ließ – war bei diesem neuen Typ von Serienheldin entscheidend. Statt der üblichen Szenen an den Stränden von Ipanema oder Copacabana und in den hippsten Vierteln von Rio war der Drehort hier das fiktive Stadtviertel Divino, typisch für die untere Mittelschicht im Norden der Stadt.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Helden arme Leute sind; doch bislang bestand ihr Traum darin, zu den Reichen und Berühmten Rios zu gehören, was ihnen beim Happy End dann auch gelang. In „Avenida Brasil“ ist das anders: Der Held Tufão, der als Fußballer zum Millionär aufgestiegen ist, bleibt in dem Viertel, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Hier spricht man laut und derb und hat keine richtigen Tischmanieren, aber ihm gefällt es dort. Das ist ein Riesenerfolg bei denen, die von der Regierung gern als „aufstrebende Mittelschicht“ beschrieben werden, aber eigentlich zur „armen Randgruppe“ der Erwerbsbevölkerung gehören.7 Zum ersten Mal können sie sich mit den Figuren auf dem Bildschirm identifizieren. Und bei den Bessergestellten kommt die Serie wegen ihrer sozialen Exotik gut an.

Der gleiche Cocktail – Stolz bei den einen, Neugier bei den anderen – erklärt auch den Erfolg der Serie „Voller Anmut“ (2012), deren Heldinnen drei Putzfrauen sind: Das hatte es noch nie gegeben. „Bis dahin war das eine Nebenfigur, meistens eher eine Karikatur: die Putzfrau, die sich dauernd in das Leben ihrer Chefin einmischt, weil sie kein eigenes hat“, erklärt Xavier, der Autor des Novela-Almanachs. Mit der Anhebung des Mindestlohns, der zwischen 2002 und 2013 von 70 auf 240 Euro stieg, und dem verbesserten Bildungsniveau – der Anteil der 19-Jährigen, die mindestens elf Jahre zur Schule gegangen sind, stieg von 25,7 Prozent im Jahr 2001 auf 45 Prozent im Jahr 2011 – veränderten sich auch die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. So kamen die Autoren Filipe Miguez und Izabel de Oliveira auf die Idee, dieses Szenario zu entwickeln.

„Früher kam die Putzfrau nur als Funktion vor. Wir wollten sie in ihrem Leben begleiten, in ihrem Haus, auf der Straße, in ihren Träumen“, erzählt Filipe Miguez. Auch hier gelang das Kunststück, die Reichen nicht zu verschrecken, die nämlich mehrheitlich reaktionäre Ansichten vertreten, wie der Drehbuchautor feststellen musste: „Wir haben eine Umfrage gemacht mit Fragen wie: ‚Ist es angemessen, wenn eine Hausangestellte in denselben Aufzug steigt wie Sie?‘, und die meisten haben mit ‚Nein‘ geantwortet. Es ist schizophren: Sie soll nicht denselben Aufzug oder dieselben Toiletten benutzen, weil sie eine Putzfrau ist, aber sie darf sich um den Sohn der Familie kümmern!“

Während in den Projac-Büros zahlreiche Mitarbeiter den wirtschaftlichen und technologischen Wandel der Gesellschaft beobachten, philosophiert de Abreu: „Ich habe keine Kristallkugel, um die Zukunft der Novela vorherzusagen, aber eine gut geschriebene Geschichte wird das Publikum immer überzeugen. Ob man sie nun in der Flimmerkiste oder auf dem Smartphone anschaut, ändert daran nichts: Ich muss immer noch um sieben Uhr morgens aufstehen und bis Mitternacht schreiben, um jeden Tag ein Kapitel zu schaffen.“

Fußnoten: 1 Venício de Lima, „Mídia. Teoria e política“, São Paulo (Fundação Perseu Abramo) 2001. 2 Alcir Henrique da Costa, Maria Rita Kehl und Inimá Ferreira Simões, „Um país no ar“, São Paulo (Brasiliense) 1986 . 3 „Brazilian Telenovela Makes Billions“, Forbes, 19. Oktober 2012: www.forbes.com/sites/andersonantunes/2012/10/19/brazilian-telenovela-makes-billions-by-mirroring-its-viewers-lives/. 4 Eliana La Ferrara, Alberto Chong und Suzanne Duryea, „Soap Operas and Fertility: Evidence from Brazil“, Inter-American Development Bank, Washington 2008. 5 Alberto Chong, Eliana La Ferrara, „Television and Divorce: Evidence from Brazilian Novelas“, Inter-American Development Bank, Washington 2009. 6 Midianews, 3. Januar 2013: www.midianews.com.br. 7 Marcio Pochmann, „Nova classe média? O trabalho na base da pirâmide social brasileira“, São Paulo (Boitempo) 2012. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Lamia Oualalou ist Journalistin in Rio de Janeiro. blogs.mediapart.fr/blog/lamia-oualalou

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Lamia Oualalou