12.07.2013

Brasilien und sein Hinterhof

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Brasilien und sein Hinterhof

von Renaud Lambert

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Eigentlich sind sie Gegner: João Paulo Rodrigues kämpft seit frühester Jugend in der brasilianischen Landlosenbewegung (Movimento dos Sem Terra, MST). Rubens Barbosa war von 1994 bis 2004 Botschafter seines Landes in London und Washington und stellt jetzt seine guten Kontakte der Wirtschaft zur Verfügung. Rodrigues empfängt uns in einem kleinen, unscheinbaren Haus in einer Wohngegend von São Paulo. Keine Plakate, keine roten Fahnen, ein einfacher Klingelknopf ohne Namen. Barbosa hat seine Kanzlei auf der ultraschicken Avenida Brigadeiro Faria Lima, wo Hubschrauber eilige Firmenchefs von einem Hochhaus zum anderen fliegen. Als wir eintreffen, beendet der Landlosenführer gerade ein Ausbildungsseminar für Aktivisten. Der ehemalige Diplomat hat es „geschafft, sich für ein paar Augenblicke freizumachen“, zwischen zwei Anrufen von Kunden, die – so scheint es dem indiskreten Beobachter – vielleicht ein wenig früher als die Konkurrenz die Details einer Ausschreibung erfahren möchten.

Kein Zweifel, die beiden Männer haben wenig Gemeinsamkeiten. Dennoch kommt es vor, dass sie ähnliche Sachen sagen. Wenn Rodrigues vom politischen Ziel seiner Organisation spricht, vom „Sturz des Neoliberalismus zugunsten eines solidarischeren Wirtschaftssystems“, sieht er als dringlichstes Anliegen die regionale Integration. Der ehemalige Botschafter Barbosa träumt davon, dass sein Land „seine geografische Lage in eine politische Realität überführt“. Denn Lateinamerika bilde „den Hinterhof Brasiliens, den natürlichen Raum für die Expansion seiner Unternehmen“.1 Während er mit mechanischen Bewegungen eine kleine Schachtel in den Händen dreht, auf der ein Trupp von Schlittenhunden mit dem Spruch „Ist man nicht der Erste, ist der Blick langweilig“ abgebildet ist, sagt der ehemalige Botschafter, was ihm am meisten am Herzen liegt: „Unsere eigenen Interessen zu verteidigen“ und den Prozess der regionalen Integration voranzutreiben.

Seit der Befreier Simón Bolívar (1783–1830) von einem vereinigten Lateinamerika träumte, gab es zahlreiche politische Versuche, die Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Länder zu fördern und sie in einem größeren Projekt zusammenzuführen – auch wenn diese Projekte sehr unterschiedlich waren, von den Unabhängigkeitskämpfen im 19. Jahrhundert über die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Durchsetzung der neoliberalen Agenda in den 1990er Jahren.

Auch wenn Rodrigues und Barbosa heute ein ähnliches Ziel verfolgen, würden sie jede politische Zusammenarbeit verweigern. „Das ist das Eigentümliche an dem Integrationskurs, den Brasilien heute verfolgt“, erläutert Armando Boito Júnior, Professor für Politikwissenschaft an der Universität des Bundesstaates Campinas (Unicamp). „Es geht um ein Projekt, das von antagonistischen politischen Kräften mit einander widersprechenden Interessen ins Werk gesetzt wurde. Im Augenblick sind die Forderungen beider Seiten dennoch miteinander kompatibel – oder sogar identisch.“

Die erste Übereinstimmung ist die Weigerung, sich unter Kuratel der USA zu begeben. In den 1990er Jahren schien die brasilianische Führungsschicht noch vom Gegenteil überzeugt. Präsident Cardoso (1994–2002) hatte keine Mühen gescheut, um den Traum Washingtons Wirklichkeit werden zu lassen: die Schaffung einer gigantischen Freihandelszone in ganz Amerika, von Alaska bis Feuerland (FTAA, in Lateinamerika Alca). Doch sein neoliberaler Eifer schürte Unruhe unter den Industriellen. Denn die Politik der Marktöffnung führte dazu, dass das Land mit Importen überschwemmt wurde, was dem Ruin oder dem Verkauf zahlreicher brasilianischer Unternehmen Vorschub leistete. Der Umfang dieses Entnationalisierungsprozesses rief sogar das neoliberale Magazin Veja2 auf den Plan: „Die Geschichte des Kapitalismus hat selten eine so massive Machtübernahme in so kurzer Zeit gesehen.“3

Während der Finanzsektor florierte, verhärtete sich die Haltung des mächtigen Industrieverbands des Bundesstaats São Paulo (Fiesp). 2002 ließ er eine Studie zu den Auswirkungen des Alca auf die brasilianische Wirtschaft erstellen. Darin wurde bestätigt, was viele Unternehmer fürchteten: Ein Freihandelsabkommen für den gesamten Kontinent würde „mehr Risiken als Vorteile für die brasilianische Wirtschaft“ bringen.4 Bei der Wahl im selben Jahr unterstützten die Unternehmer daraufhin den früheren Gewerkschafter Luiz Inácio da Silva, der sich dann als Bewohner des Präsidentenpalasts, des Palácio do Planalto, alle Mühe gab, die Verhandlungen mit Washington zu torpedieren. Bei den Demonstrationen, die das Scheitern von Alca im Jahre 2005 feierten, hielt sich die Fiesp diskret zurück, obwohl sie großen Anteil daran hatte.

In Brasiliens Nachbarschaft wird allerdings an der Auferstehung der Freihandelsidee gearbeitet: Im Juni 2012 gründeten Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko die Pazifik-Allianz, der mittlerweile auch Costa Rica beigetreten ist. Valter Pomar, Führer des linken Flügels der brasilianischen Arbeiterpartei PT, sieht dahinter „ohne Zweifel“ die Hand Washingtons: Alle beteiligten Länder haben bereits Freihandelsabkommen mit den USA geschlossen.

In den Salons von Brasília und an der Börse von São Paulo hat vor allem die „Krise von 2008“, wie man sie hier nennt, dazu beigetragen, das neoliberale Fieber zu dämpfen. Heutzutage muss man sich an den engsten Freundeskreis des ehemaligen, immer noch sehr einflussreichen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso wenden oder bei einer großen Bank wie der HSBC anklopfen, um einen poetisch veranlagten Marktjünger die Annäherung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten preisen zu hören: „Die USA sind ein wenig wie die Sonne, und Mexiko ist wie ein Planet, der um dieses Zentralgestirn kreist.“ Auf einer Umlaufbahn, auf der die mexikanische Bevölkerung im Jahre 2009 etwa 6,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts einbüßte – das hat man auch bei Cardosos Partei, den brasilianischen Sozialdemokraten (PSDB), registriert.

Wider den imperialistischen Adler

„Es gibt andere Möglichkeiten, die regionale Integration anzugehen“, meint Rodrigues. „Wir Landlosen vertreten die Idee der ALBA.“ Dieser von Venezuela initiierten Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA, was zugleich Morgenröte bedeutetet) ist Brasilien nicht beigetreten. Eine Integration auf der Grundlage von Solidarität anstelle von Konkurrenz, die sich an einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ orientiert – „diese Idee wird in Brasilien nur von wenigen Leuten vertreten“, gibt Rodrigues zu. „Auch wenn eine Handvoll Erleuchteter von der extremen Linken herumjammert, dass ohne den ‚Verrat‘ der PT der Sozialismus schon morgen da sein könnte: In Wirklichkeit hat der Kampf für eine radikale soziale Veränderung hier nur eine ziemlich kleine gesellschaftliche Basis.“

Deshalb muss die Landlosenbewegung MST die politischen Schnittstellen zwischen dem eigenen Programm und dem herrschenden Integrationsmodell suchen und gleichzeitig probieren, die Widersprüche innerhalb des Letzteren auszunutzen. „Davon gibt es reichlich“, lächelt Rodrigues und zählt die Bestandteile dieser uneinheitlichen Front auf: „Die Regierung und ihre Verbündeten, einige Sektoren der Industrie, multinationale Unternehmen, hohe Staatsbeamte und weite Teile der Arbeiterschaft, vor allem die, die in den großen Gewerkschaften verteten sind.“ Kurz, eine moderne Version der Konsenspolitik aus den Zeiten des Fordismus – im Dienste eines regionalen geopolitischen Projekts.

Erste Zutat in dieser Mischung: das Streben nach Autonomie. Samuel Pinheiro Guimarães, früher Erster Staatssekretär im Außenministerium, dann Strategieminister unter Lula da Silva (2003–2010), zählt zu den bekanntesten brasilianischen Intellektuellen. Im Jahr 2009 wurde er beauftragt, den Plan „Brasilien 2022“ zu entwerfen, in dem die strategischen Ziele des Landes bis zum 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit festgesetzt wurden.5

Mit seinen fast 75 Jahren nimmt der Diplomat kein Blatt mehr vor den Mund. „Welches Interesse haben Ihrer Meinung Frankreich oder Deutschland an einer Integration mit einem Land wie Malta?“, fragt er bei unserem Gespräch am 9. April 2013, kurz bevor er in Caracas eine Präsidentschaftswahl überwachen wird, die er für „entscheidend für die regionale Integration“ hält. „Gar keins! Außer dass Malta ein souveräner Staat ist und als solcher eine Stimme in den internationalen Institutionen besitzt.“ Wenn sich auf diese Weise einheitliche Blöcke in der Welt bilden, müsse Brasilien wie die anderen vorgehen und sich „seine“ Region schaffen. Nicht Lateinamerika, weil Mexiko und Mittelamerika „mit Washington stimmen“, sondern den Süden – als „die zentrale Achse unserer Strategie der Ablehnung jeglicher Unterordnung unter die Interessen der USA“.

Der Antiimperialismus der fortschrittlichsten Fraktionen im brasilianischen Beamtenapparat ist ähnlich ausgerichtet wie bei Valter Pomar. Der ist der Meinung, dass eine Bewegung, die sich die antiamerikanische Rhetorik zunutze macht, unabhängig von jeweiligen politischen Überzeugungen grundlegende Veränderungen bewirken könnte: „Alle Versuche zur Bildung eines sozialistischen Lagers in Lateinamerika sind an zwei Hindernissen gescheitert: der Macht der Bourgeoisie im Innern und der Macht des Weißen Hauses. Die Form der Integration, die Brasilien vertritt, kann eine Einmischung von außen nicht verhindern, aber sie kann deren Wirkung verringern und so nationalen Bewegungen gestatten, selbstständig ihren Kurs zu verfolgen.“

Die deutlichen Positionen der 2008 gegründeten Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) zugunsten einer stabilen Region Südamerika hat den Ambitionen der bolivianischen Sezessionisten (2008) und ecuadorianischen Putschisten (2010) einen Dämpfer verpasst.6 Und als die Opposition in Venezuela, unterstützt von Washington, die Rechtmäßigkeit der Wahl Nicolas Maduros anzweifelte, bot die Organisation dem Chávez-Nachfolger ihre Unterstützung an. „Früher wurden solche Fragen in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) geregelt. Mit anderen Worten: im Weißen Haus“, sagt Guimarães. Außenminister John Kerry hat erst vor Kurzem in einer Rede vor dem US-Kongress Lateinamerika tatsächlich als „Hinterhof“ bezeichnet.7

Pomars Strategie zufolge müsste man sich jetzt, zwischen zwei Schnabelhieben des imperialistischen Adlers, dem zweiten Hindernis zuwenden: der Bourgeoisie im Inneren. Aber, so gibt er bereitwillig zu, diese Schlacht muss noch verschoben werden.

Die Länder der Region sind reich an Bodenschätzen und jetzt auch in der Lage, die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen zurückzugewinnen. Doch sie haben Mühe, ihre Wirtschaft zu diversifizieren und die verarbeitende Industrie zu fördern. Während des Präsidentschaftswahlkampf in Venezuela klagte Maduro: „Unser Land besitzt keine echte einheimische Bourgeoisie.“ Man lebe vor allem von den Einnahmen aus Rohstoffexporten, und „die wirtschaftlich aktiven Branchen sind extrem von US-amerikanischem Kapital abhängig“. Maduro rief alle Kräfte im Lande auf, dazu beizutragen, „die Grundlagen für produktive Gewerbe zu schaffen“.8 Sein Appell richtete sich zwar an die „nationale Privatwirtschaft“, aber wahrscheinlich hoffte er, diese ins Ungefähre geworfene Flaschenpost werde an einen brasilianischen Strand gespült: Die dortigen Industriellen gelten als „progressiver“.

Denn das Bündnis zwischen Arbeiterpartei, den großen Gewerkschaften und den Arbeitgebern in der Industrie hat sich während der Präsidentschaft Lula da Silvas (2003–2011) nicht etwa aufgelöst, sondern stabilisiert – durch die Aktualisierung einer auf Entwicklung orientierten Tradition Brasiliens. Während man überall die Unfähigkeit der Regierenden beobachten konnte, andere Antworten auf die Krise des Neoliberalismus zu finden, als dessen Reformen noch zu verschärfen, stellt das brasilianische Programm zur Förderung der Inlandsnachfrage durch Vollbeschäftigung, Anhebung der Löhne, Sozialprogramme und Ankurbelung der Produktion (zum Schaden der Spekulation) vermutlich eine der revolutionärsten politischen Optionen dar, die zurzeit auf der Welt existieren.

Viele linke Aktivisten nahmen das zwar zur Kenntnis, aber, so erklärt uns Artur Henrique, ehemaliger Gewerkschaftsführer bei der Central Única dos Trabalhadores (CUT) und Gründer eines neuen Bündnisses für Entwicklung, er glaube „immer noch, dass man für den Sozialismus kämpfen muss. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die glauben, dass der Sozialismus nächsten Sonntag nach der Abendmesse kommen wird. Ich will Dinge verändern, aber ich kenne das Umfeld, in dem ich arbeite. Wir versuchen in unserer Region vom Neoliberalismus wegzukommen, aber wir bilden uns nicht ein, wir könnten den Kapitalismus vom Sockel stoßen. Eher versuchen wir, eine regionale, nicht eine nationale Variante des Kapitalismus zu fördern. Ein Modell, das die Bedürfnisse der anderen Länder Südamerikas mitberücksichtigt.“

Braucht Caracas eine U-Bahn? Die Stadt könnte die Dienste des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht und günstige Kredite aus Brasília in Anspruch nehmen. Herrscht in Venezuela Nahrungsmittelknappheit? Die brasilianische Industrie würde das Land versorgen, sie liefert dem Nachbarn im Norden bereits fast das gesamte dort konsumierte Hühnerfleisch. Der Handelsaustausch zwischen den beiden Ländern ist seit Chávez’ Amtsantritt 1998 um das Achtfache gewachsen.

„Für uns ist Südamerika der wichtigste Markt von allen“, erklärt Carlos Cavalcanti vom Industrieverband Fiesp und hebt seine Stimme, um den Superlativ zu betonen. „Hier können wir noch mit den chinesischen Produkten konkurrieren, und es ist auch die Region, in die wir den Großteil unserer industriell gefertigten Waren exportieren.“ Diese machen 83 Prozent der Exporte in lateinamerikanische Ländern aus und 5 Prozent der Exporte nach China. Trotz der allgemeinen Wirtschaftsflaute sind die Warenexporte in die Nachbarstaaten von 7,5 Milliarden Dollar im Jahr 2002 auf über 35 Milliarden Dollar im Jahr 2010 gestiegen. Cavalcanti glättet mit einer Hand sein Haar und bemerkt zufrieden: „Die Länder unserer Region verfolgen eine Politik zur Steigerung des Einkommens der Bevölkerung. Für uns sind das wachsende Märkte.“ Noch nie hat jemand behauptet, Antiimperialismus und gute Geschäfte seien ein Widerspruch: In einem Dokument aus dem Jahr 2012 beschrieb die Fiesp die südamerikanische Integration als „Bruch“ mit „fünf Jahrhunderten“ Geschichte, die durch die „Unterordnung unserer nationalen Interessen unter die herrschenden Weltmächte“ gekennzeichnet war.9

Vor allem im Bereich der Infrastruktur gehen die Anforderungen durch die industrielle Entwicklung der Region, die wachsende geopolitische Autonomie und die Expansion brasilianischen Kapitals bestens zusammen. Am 30. Oktober 2012 bezeichnete die Unasur die natürlichen Rohstoffe als „dynamische Grundlage für unsere Strategie der Integration und Vereinigung [unserer] Länder“.10 Mit derselben Argumentation hatte man zuvor die Arbeit der Initiative zur Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas (IIRSA) gewürdigt. Diese sah eine Reihe großer Straßen-, Zug- und Schiffsverbindungen vor, die Südamerika von Osten nach Westen und von Norden nach Süden durchziehen sollten. Sie wurde im Jahr 2000 vom damaligen Präsidenten Cardoso als wichtige Etappe auf dem Weg zum freien Markt für ganz Amerikas ersonnen, vermochte aber nicht alle zu überzeugen: 2006 sprach Chávez auf einem Gipfeltreffen der Staatschefs der Region von „neokolonialer Logik“.

Doch vom IIRSA-Plan bis zu den Verheißungen der Unasur „hat sich einiges geändert“, versichern die meisten unserer Gesprächspartner. Es gehe nicht mehr darum, Südamerika in „eine einzige Wirtschaftszone“ zu verwandeln, sondern die „innere Entwicklung“ und „Nachhaltigkeit“ zu fördern, kurz, die Infrastruktur „als Instrument der sozialen Inklusion“ zu betrachten, erklärte die Kolumbianerin María Emma Mejía, die in den Jahren 2011/2012 Generalsekretärin der Unasur war.11

Der Infrastrukturbedarf der Region ist immens. Um kritische Umweltschützer zu beschwichtigen, versprach etwa der bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera, die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe solle einzig dazu dienen, das eigene Land zu industrialisieren. Auch Peru und ebenso Venezuela brauchen neue Häfen und Straßen. In Brasilien ist die Getreideproduktion zwischen 1992 und 2012 um fast 220 Prozent gestiegen, aber das Schienen- und Straßennetz wurde um keinen Zentimeter erweitert. Ergebnis: Im April gab es auf der BR 364, die zum Güterterminal des Hafens Santos führt, einen Lkw-Stau von über 100 Kilometern Länge, wodurch sich die Ausfuhr um 60 Tage verzögerte. „Unser Agrobusiness könnte aus einem Zugang zur Pazifikküste großen Vorteil ziehen“, meint der ehemalige Botschafter Barbosa. „Schließlich ist China heute unser wichtigster Handelspartner.“ Die brasilianischen Unternehmen gieren ohnehin nach Land jenseits der Staatsgrenzen.

Die IIRSA wurde einst unter dem Einfluss der neoliberalen Doktrin entworfen und sollte über die Finanzmärkte und die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) finanziert werden. Funktioniert hat das nicht. Der argentinische Milliardär Eduardo Eurnekian gibt zu: „Ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass sich die Unternehmer darum kümmern, die Länder miteinander zu vernetzen.“ In diesem Stadium seien „die Staaten, nicht die Privatunternehmer“12 verantwortlich, dass die Arbeiten zu Ende geführt werden.

Die Botschaft ist angekommen. Die infrastrukturelle Vernetzung der Region kann derzeit mit einer Vielfalt nationaler Finanzierungsprogramme rechnen. Brasília verfügt zudem über die reichste Entwicklungsbank der Welt: die Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES). 2010 vergab die BNDES Kredite über mehr als 100 Milliarden Dollar, während die IDB nur 15 Milliarden und die Weltbank 40 Milliarden zur Verfügung stellen konnten. In den Statuten der Bank ist allerdings festgelegt, dass nur brasilianische Firmen gefördert werden – ein Geldsegen für die großen nationalen Bauunternehmen wie Odebrecht, Camargo Corrêa und andere. In deren Büros gab es sicherlich Beifall für die Integration Priority Project Agenda (API), die im November 2011 von der Unasur verabschiedet wurde. Darin sind der Bau von 1 500 Kilometer Gaspipelines, 3 490 Kilometer Wasserwegen, 5 142 Kilometer Straßen und 9 739 Kilometer Schienen vorgesehen. Das bedeutet ein Investitionsvolumen von mehr als 21 Milliarden Dollar für die dringlichsten Projekte und 116 Milliarden für alle 531 Vorhaben zusammen.

Die Nachbarstaaten nahmen diese Ankündigung mit gemischten Gefühlen auf. Beim ersten Treffen der Organisation der „von den Multis benachteiligten Staaten“ am 22. April kritisierten Bolivien, Kuba, Ecuador, Nicaragua, die Dominikanische Republik, Venezuela, sowie St. Vincent und Grenadinen die Wirtschaftsmacht „bestimmter Firmen“, die die Souveränität „bestimmter Staaten“ bedrohe. Trotz der schwammig gehaltenen Formulierung wandten sich alle Köpfe in eine Richtung.

Der uruguayische Intellektuelle Raúl Zibechi kritisiert, die von Brasilien vorangetriebene Integration könne darauf hinauslaufen, dass das Kapital aus dem „Norden“ einfach durch das aus dem „Süden“ abgelöst würde. „Die Engländer haben die ersten Schienenwege gebaut, um Erze zu exportieren, und die USA wollten unbedingt die West-Ost-Verbindung von Cochabamba nach Santa Cruz. Jetzt setzt Brasilien seine eigenen Integrationswege durch.“13

Pinheiro Guimarães stellt die Zusammenhänge anders dar. Seiner Meinung nach handelt es sich vor allem um ein geografisches Problem: In Südamerika besitzt Brasilien die Hälfte der Landmasse, der Bevölkerung und des jährlich produzierten Reichtums. 2011 war das brasilianische BIP fünfmal so groß wie das Argentiniens, des zweitreichsten Landes der Region, und hundertmal so groß wie das Boliviens. „Zudem haben manche Regierungen in Südamerika erst vor Kurzem Steuern auf Einkommen eingeführt. Allein verfügen sie gar nicht über die nötigen Mittel, um ihre Entwicklung anzukurbeln.“ Es sei also angemessen, zu helfen.

„Unter der Regierung Lula ist etwas Außerordentliches zustande gekommen“, schwärmt Guimarães. „Mit brasilianischer Unterstützung wurde der Bau einer Hochspannungsleitung in Paraguay zwischen dem Wasserkraftwerk Itaipu und der Hauptstadt Asunción ermöglicht.“14 Damit konnte man die ständigen Stromausfälle beenden, unter denen Paraguays Hauptstadt bis dahin gelitten hatte.

Beim Industrieverband Fiesp findet man indes auch eine andere mögliche Lesart: „Die nationalen Industrien mit großem Arbeitskräftebedarf, wie etwa die Textil- und Modebranche, würden ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den asiatischen Konkurrenten auf dem brasilianischen Binnenmarkt verbessern, wenn sie einen Teil ihrer Produktion nach Paraguay auslagerten“, wo „die Arbeitskosten um etwa 35 Prozent niedriger liegen“.15

Ausbeutung oder Solidarität? Beides hat lange Zeit nebeneinander existiert, sowohl in der Region als auch innerhalb Brasiliens, wo die Regierung Arbeitnehmer und Arbeitgeber „versöhnen“ wollte. Spätestens seit Mitte Juni scheint es damit vorbei zu sein.

Fußnoten: 1 Aus einem Schriftwechsel mit Präsident Cardoso vom 21. Januar 2000 (Archiv Rubens Barbosa). 2 Siehe Carla Luciana Silva, „Veja, le magazin qui compte au Brésil“, in: Le Monde diplomatique, Dezember 2012. 3 Zitiert von Geisa Maria Rocha, „Neo-dependency in Brazil“, in: New Left Review, Nr. 16, London, Juli/August 2002. 4 „Estudo da Fiesp mostra que Alca é mais risco que oportunidade“, in: Valor Econômico, São Paulo, 26. Juli 2002. 5 Vgl. www.topicos.de/fileadmin/pdf/2010/1/Brasilien-Plan2022.pdf. 6 Vgl. www.ag-friedensforschung.de/regionen/Bolivien/waffen.html und: www.zeit.de/politik/ausland/2010-10/ecuador-correa-polizei. 7 „US protests against Bolivia’s decision to expel USAID“, BBC, 1. Mai 2013: www.bbc.co.uk/news/world-latin-america-22370494. 8 „Maduro no volante“, in: Folha de São Paulo, 7. April 2013. 9 „8 eixos de Integração da Infraestrutura da América do Sul“, Fiesp, São Paulo, 24. April 2013. 10 Arbeitsplan 2012 des Südamerikanischen Rats für Infrastruktur und Planung der Unasur (Cosiplan). 11 „8 eixos de Integração …“, siehe Anmerkung 9. 12 „Integração depende de governos, afirma bilionário“, in: Valor Econômico, 19. April 2013. 13 Raúl Zibechi, „Brasil potencia“, Bogotá (Ediciones desde abajo) 2012. 14 Interview mit Valéria Nader und Gabriel Britto, 1. April 2013: www.correiocidadania.com.br. 15 „Fiesp Mostra vantagens de se levar indústrias ao Paraguai“, in: Valor Econômico, 3. April 2013. Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Renaud Lambert