12.07.2013

Lagos im Fieber

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Lagos im Fieber

In den Slums der nigerianischen Metropole breitet sich die Malaria dramatisch aus von Matthew Gandy

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Vor 58 Jahren herrschte noch Optimismus in Lagos. Als 1955 die zweite panafrikanische Malaria-Konferenz in der westafrikanischen Metropole stattfand, hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gerade ihre weltweite Anti-Malaria-Kampagne gestartet, die der Epidemie mithilfe des Insektizids DDT den Garaus machen sollte.

Damals hoffte man tatsächlich, ganz Afrika ein für alle Mal von dieser verheerenden Krankheit befreien zu können. Lagos, bis 1991 Hauptstadt Nigerias, war schon früh zum Zentrum der Malariabekämpfung geworden. Seit Beginn der 1940er Jahre hatte sich die britische Kolonialregierung bemüht, durch die systematische Trockenlegung von Sumpfgebieten die Brutstätten der Anopheles-Mücke zu beseitigen, die diese tödliche und auszehrende Krankheit auf den Menschen überträgt.

Die Unabhängigkeit im Jahr 1960 verlieh dem medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt in Nigeria – dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Land Afrikas – zunächst neuen Schwung. Die zentrale Frage lautete nun, wie die Errungenschaften des öffentlichen Gesundheitswesens, das unter der britischen Kolonialherrschaft entstanden war, der gesamten Bevölkerung des jungen Staates zugutekommen könnten.

Zunächst ist jedoch ein Rückblick auf die 1940er Jahre angebracht. Die erwähnte erste Anti-Malaria-Kampagne war tatsächlich nicht ganz so mildtätig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Sie entsprang nämlich keineswegs der obrigkeitlichen Fürsorge des Kolonialregimes für die Bevölkerung einer Stadt, die seit Jahrhunderten von Epidemien heimgesucht wurde. Der eigentliche Grund war die Sorge um die Gesundheit der britischen Kolonialtruppen, denn Lagos war während des Zweiten Weltkriegs der wichtigste Militärstützpunkt der Alliierten in Nordafrika.

Festzuhalten ist außerdem die bürokratische Kontinuität zwischen den Verwaltungsapparaten der europäischen Kolonialreiche und den nach 1945 gegründeten internationalen Organisationen, in diesem Fall der WHO. An die Stelle des medizinisch-wissenschaftlichen „Rassismus“, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Gesundheitspolitik beeinflusst und in den Städten für eine Art „Rassentrennung“ gesorgt hatte, trat nun die Annahme, dass durch Medikamente, Insektizide und andere technisch-pharmazeutische Maßnahmen Abhilfe zu schaffen sei. Dabei lagen die Lebensbedingungen vor Ort, die zu Armut geführt, die Gesundheit gefährdet und die geopolitische Stabilität untergraben hatten, außerhalb des Blickfelds dieser neuen Formen globaler „Gouvernementalität“.1

Ende der 1960er Jahre traten bei der Anti-Malaria-Kampagne der WHO etliche Probleme zutage, und zwar nicht nur in Nigeria: Es häuften sich die Anzeichen für eine Resistenz der Moskitos gegenüber DDT und anderen Insektiziden (die Schädlichkeit von DDT für Mensch und Umwelt sollte sich erst Jahre später herausstellen). Noch beunruhigender war allerdings, dass die Wirksamkeit von Anti-Malaria-Medikamenten wie Chlorochin und Pyrimethamin nachließ. Dies führte bei vielen Verantwortlichen zu der Einsicht, dass für langfristige Lösungen eine solide medizinische Grundversorgung, sauberes Trinkwasser (bis heute haben weniger als die Hälfte der Menschen in Nigeria Zugang zu sauberem Trinkwasser) und ausreichend finanzielle Mittel unerlässlich sind.2

Selbst in Regionen, in denen die Krankheit eine Zeit lang nicht mehr aufgetreten war, ist sie immer wieder neu eingeschleppt worden, so auch in Lagos, der ökonomisch vitalsten Metropole Westafrikas, die ein rasantes Bevölkerungswachstum erlebte. Die meisten Zuwanderer kamen aus ärmeren ländlichen Regionen, wo die Malaria noch endemisch war. Nach dem nigerianischen Bürgerkrieg und der Sezession Biafras (1967 bis 1970) strömten noch mehr Menschen in die Millionenstadt – und wurden zu einer zunehmenden Belastung für deren Gesundheitswesen.

Die letzten Hoffnungen, die Malaria in Lagos besiegen zu können, schwanden in den 1990er Jahren, als in allen Stadtteilen ein deutlicher Anstieg der Erkrankungen verzeichnet wurde.3 Inzwischen war Lagos zu einer der größten Städte der Welt angewachsen, was eine Reihe sich gegenseitig verstärkender Probleme mit sich brachte: angefangen von der Entstehung riesiger Slums wie Ajegunle und Amukoko bis zu den dramatischen Folgen der Sparmaßnahmen, die Nigeria in den 1980er Jahren mit den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Weltbank auferlegt wurden und breite Bevölkerungsschichten in die Armut trieben.

In Subsahara-Afrika galt Malaria nach 1945 als eine Krankheit, die vorwiegend in ländlichen Regionen auftritt. Das ist heute anders, weil das Risiko für die städtische Bevölkerung deutlich gestiegen ist. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen ist die „städtische Landwirtschaft“ – ihrerseits ein Resultat der Armut – auf Bewässerung angewiesen, weshalb überall in den Slums kleine Tümpel entstanden sind. Zweitens bietet eine verrottete Infrastruktur mit offenen Abwasserkanälen oder Kloaken den Moskitos geradezu ideale Brutstätten. Drittens sind Moskitonetze oder Fliegengitter angesichts der ärmlichen und überbelegten Behausungen nicht mehr so verbreitet. Und viertens ist die medizinische Versorgung in den Slums extrem schlecht.4

Angst vor Ansteckung, Abscheu vor den Armen

Aus dem unübersehbaren Zusammenhang zwischen der Malaria und einer unzureichenden städtischen Infrastruktur wird erkennbar, dass die Modernisierung selbst – in ihren kolonialen wie neokolonialen Formen – nicht unwesentlich zur Ausbreitung der Epidemie beiträgt.5 Während Nigeria nach der Unabhängigkeit allmählich zu einem dysfunktionalen Petrostaat wurde, verkümmerten Infrastruktur und zivilgesellschaftliche Strukturen.6 In den 1990er Jahren brach dann die Wirtschaft in Lagos zusammen. Es kam zu einer dramatischen Kapitalflucht und beschleunigten Verarmung – und die Malaria breitete sich weiter aus, während Kriminalität und Korruption explodierten.

Die Malaria ist also eng verknüpft mit den Zuständen in den modernen afrikanischen Großstädten: Barackensiedlungen, offene Abwässerkanäle, halbfertige Bauten und ganz allgemein die „mikroökologischen Strukturen“ der urbanen Umwelt, und sie spielt eine wichtige Rolle in der komplexen Wechselwirkung zwischen Stadt und Land.

Wir haben es hier mit einem Paradox zu tun: Auf der einen Seite konnten im 20. Jahrhundert dank enormer medizinischer und hygienischer Fortschritte viele ansteckende Krankheiten besiegt werden. Auf der anderen Seite hat die Moderne erst den großen sozioökonomischen Wandel hervorgebracht, der inzwischen für viele Privathaushalte und ganze Volkswirtschaften zum Problem geworden ist.

Erschwert wurde die Bekämpfung der Malaria auch dadurch, dass ihre Erreger und die Mücken, die sie verbreiten, sich genetisch verändert und den neuen Umweltbedingungen angepasst haben. Deshalb stellt Malaria heute eine viel hartnäckigere Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar, als man sich das in der nachkolonialen Ära der 1960er Jahre – im Vertrauen auf die scheinbar unbegrenzten medizinischen Möglichkeiten – vorstellen konnte.

Im Ballungsraum Lagos zeigt sich, ebenso wie in vielen anderen Großstädten des globalen Südens, ein grundsätzlicher Widerspruch: Die städtische Ökonomie braucht die Armen als billige Arbeitskräfte, aber der Staat ist nicht bereit oder in der Lage, sich um sie zu kümmern – und die Mittelklasse will sie lieber nicht in ihrer Nachbarschaft haben. Damit setzt sich die in der Kolonialzeit entstandene Segregation in gute und schlechte Wohnviertel in Gestalt einer postkolonialen Intoleranz fort. In die Abscheu vor den Armen mischt sich die Angst vor Ansteckung. Deshalb wird die „urbane Erneuerung“ ausgerufen, eine „Aufwertung der Wohngebiete“ versprochen und profitables Bauland erschlossen, vergleichbar mit dem radikalen Umbau von Paris durch Baron Haussmann Mitte des 19. Jahrhunderts.

Nachdem Lagos im Zuge der 1999 eingeleiteten Demokratisierung – nach zwei Jahrzehnten Militärdiktatur – eine unternehmerfreundliche und technokratische Stadtverwaltung bekommen hat, bleibt abzuwarten, wie sich die strukturellen Widersprüche in einer derart schnell wachsenden Metropole entwickeln werden.

Bislang hat es in Lagos jedenfalls noch keine Versuche gegeben, ein solide finanziertes Programm zum Ausbau der städtischen Infrastruktur und des öffentlichen Gesundheitswesens auf die Beine zu stellen. Dass es im 20. Jahrhundert in Kuba, Italien und anderswo gelungen ist, die Malaria auszurotten, ist nicht irgendwelchen Ad-hoc-Maßnahmen zu verdanken, sondern langfristig angelegten Kampagnen, in die neben der medizinischen Versorgung auch das Bildungswesen, der Wohnungsbau und die Ernährungspolitik einbezogen wurden. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Epidemie neuerdings wieder in Südeuropa auftritt: 2011 wurden im krisengeschüttelten Griechenland erstmals seit 1974 wieder Malariafälle registriert.

Fußnoten: 1 Der von Foucault geprägte Begriff der Gouvernementalität beschreibt die Art und Weise des Regierens und Regiertwerdens. 2 Leonard J. Bruce-Chwatt, „Lessons learned from applied field research activities in Africa during the malaria eradication era“, Bulletin of the World Health Organization, Band 62 (1984), S. 19–26. 3 Aderonmu A. Omotayo, „The incidence of malaria in Lagos“ (unveröffentlichte Doktorarbeit am College of Medicine, University of Lagos, 2002). Die Analyse der Daten von mehr als 6 500 Blutproben aus dem parasitologischen Labor des Lagos University Teaching Hospital ergab für den Zeitraum 1992 bis 1999 eine von 27,8 auf 68,9 Prozent gestiegene Infektionsrate. 4 Siehe dazu: J. E. Ahiamba, K. O. Dimuna und G. R. A. Okogun, „Built environment decay and urban health in Nigeria,“ Journal of Human Ecology, Band 23, Nr. 3 (2008), S. 259–265; und „Malaria and urbanization in sub-Saharan Africa“, Malaria Journal 4 (12), 18. Februar 2005. 5 Siehe beispielsweise Pete Kolsky, „Engineers and urban malaria: Part of the solution, or part of the problem?“, Environment and Urbanization 11, S. 159–164. 6 Zum „Petrostaat“ Nigeria siehe Andrew Apter, „The Pan-African Nation: Oil and the Spectacle of Culture in Nigeria“, Chicago (University of Chicago Press) 2005. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Matthew Gandy ist Professor für Geografie am University College London und unter anderem Autor von „Concrete and Clay: Reworking Nature in New York City“, Cambridge, Massachusettes (MIT Press) 2002; siehe auch: www.matthewgandy.org/. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Matthew Gandy