12.07.2013

Krankheit und Entwicklung

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Krankheit und Entwicklung

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die herrschende Meinung, dass Entwicklung ein zwangsläufiges Resultat von Wirtschaftswachstum sei. Als Afrika in den 1980er Jahren in eine tiefe Wirtschaftskrise sank, schwenkten Weltbank und IWF mit ihren „Armutsbekämpfungsstrategien“ auf reine Nothilfeprogramme um. Das ging auf Kosten der entwicklungspolitischen Ambitionen. 1978 stellte die Weltbank ihren ersten Weltentwicklungsbericht unter das Motto „Wachstum ankurbeln, Armut bekämpfen“. In den folgenden 30 Jahren veränderte sich die gesamte Entwicklungshilfelandschaft, weil das Problem der Hygiene immer dringlicher wurde. Damit traten neben den klassischen Akteuren der bilateralen Hilfe und den Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuarbeiteten, weitere neue Akteure auf den Plan.

Angesichts der harten Kritik an den sozialen Auswirkungen ihrer Strukturanpassungspolitik beschloss die Weltbank „Investitionen in die Gesundheit“. So der Titel ihres Weltentwicklungsberichts 1993, in dem es hieß: „Weil ein gesunder Mensch wirtschaftlich produktiver ist, was dem Wirtschaftswachstum des Landes zugutekommt, sind Investitionen im Gesundheitsbereich eines von mehreren Mitteln, um die Entwicklung voranzutreiben.“ Damit musste die WHO ihren Aufgabenbereich erstmals mit anderen Institutionen teilen.

Auch die Europäische Kommission investierte in die Entwicklung der Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifikraums. Ab 1950 drängte vor allem Frankreich auf die Bildung eines Europäischen Entwicklungsfonds (EEF). Damit könne Europa, meinte damals Robert Schumann, mehr Geld „für eine seiner wichtigsten Aufgaben einsetzen: für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents“.1

Dieser EEF engagierte sich ab 1994 – auf Drängen der am stärksten von Aids betroffenen Staaten – vor allem im Bereich des Gesundheitswesens. Damals verabschiedete der Europäische Rat eine erste Entschließung über die „Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern im Gesundheitsbereich“, dessen Beitrag zur„Entwicklung“ hervorgehoben wurde.

In den 1990er Jahren breitete sich die Aidspandemie im südlichen Afrika explosionsartig aus. Auf UN-Ebene wurde die „Global Governance“ als wichtiges Instrument im Kampf gegen die Krankheit ausgerufen. Die Zuständigkeit für das weltweite Programm zur Aidsbekämpfung ging von der WHO auf UN-Aids, das 1996 begründete HIV/Aids-Programm der UN, über, das die Arbeit der Weltbank und mehrerer UN-Unterorganisationen koordiniert (einschließlich der WHO, der Unicef und des Bevölkerungsfonds UNFPA). Darüber hinaus entstanden weltweite Partnerschaften zur Bekämpfung von Malaria (Roll Back Malaria) und Tuberkulose (Stop TB Partnership).

In den Nullerjahren erlebte die Institutionenlandschaft der Weltgesundheitspolitik weitere Veränderungen, zu denen insbesondere die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) beitrugen (siehe nebenstehenden Artikel).

Parallel dazu entstanden unter Einbeziehung des privaten Sektors – etwa von Impfstoff- und Arzneimittelherstellern – weltweite Initiativen wie die internationale Impfallianz Gavi (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) und der Globale Fonds für die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria. Ihr Ziel besteht darin, Gelder zu mobilisieren, sie bestimmten Länder zuzuführen und die Wirksamkeit des Mitteleinsatzes zu messen. „Raise it, spend it, prove it“, lautet die Devise des Globalen Fonds.

Seit 2006 ist der Gesundheitssektor zu einem „Labor für innovative Entwicklungshilfefinanzierung“ geworden: So finanziert Unitaid über einen Solidaritätszuschlag auf Flugtickets den Kauf von Aids-, Tuberkulose- und Malariamedikamenten, während die „internationale Gemeinschaft“ Impfstoffe erwirbt. Bereits mehrfach wurden Konferenzen zur Effektivierung der Entwicklungshilfe abgehalten, auf denen man insbesondere bemüht war, die Finanzierungsinstrumente der Geldgeber zu harmonisieren (so 2005 in Paris, 2008 in Accra und 2011 in Busan).

Trotz all dieser Aktivitäten fallen die Ergebnisse in Subsahara-Afrika unterschiedlich aus. Während sich die Zustände im Osten und Süden des Kontinents verbessert haben, ist die Bilanz im französischsprachigen West- und Zentralafrika weniger günstig.

Laut einem gemeinsamen Bericht von UN-Aids und der Internationalen Organisation der Frankofonie OIF (Organisation internationale de la Francophonie) vom Oktober 2012 verfügen in der OIF-Region nur 36 Prozent der HIV-positiven Schwangeren über antiretrovirale Medikamente, um die Übertragung des Aidsvirus auf ihr Baby zu verhindern. In anderen Regionen Afrikas beträgt diese Quote 62 Prozent. In den französischsprachigen Ländern erhalten 43 Prozent der für eine antiretrovirale Therapie infrage kommenden HIV-Patienten die erforderlichen Medikamente, in anderen Regionen sind es 60 Prozent.

2011 schätzte die WHO den Anteil der für die Behandlung mit antiretroviralen Arzneimitteln infrage kommen Kranken, die diese Mittel auch erhalten, für West- und Zentralafrika sogar auf nur 25 Prozent. Das ist 17 Jahre nach der Konferenz von Vancouver, bei der diese Medikamente offiziell als wirksam bestätigt wurden, ein geradezu niederschmetterndes Ergebnis.

Aus dem Bericht über die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele geht hervor, dass die Sterblichkeitsquote bei Tuberkulose zwar allgemein gesunken ist – allerdings nicht in Westafrika, wo sie zwischen 2007 und 2008 angestiegen ist. Bei Malaria überstieg die Quote in 16 Ländern die Zahl von 100 Todesfällen pro 100 000 Einwohner. Diese Länder lagen „fast alle in Westafrika“.

Das 5. MDG, die Sterblichkeit schwangerer und gebärender Frauen zu reduzieren, fand lange Zeit politisch und finanziell wenig Beachtung. Einen Wandel brachte der G-8-Gipfel von Muskoka 2010, wo UN-Generalsekretär Ban Ki Moon eine „weltweite Strategie für die Mütter- und Kindergesundheit“ vorstellte. Dass dieses MDG verfehlt wurde, rührt zum Teil von Komplikationen bei Schwangerschaften im Mädchenalter, denn am Ende sind häufig sowohl die Mutter als auch ihr Baby tot.

Komplikationen bei der Schwangerschaft sind übrigens die häufigste Todesursache bei jungen Frauen. Laut einer Studie des Londoner Overseas Development Institute werden weltweit jährlich 18 Millionen junge Frauen unter 20 Jahren schwanger, wobei 2 Millionen nicht einmal 15 Jahre alt sind. Der MDG-Fortschrittsbericht 2012 räumt ein, dass „auf diesem Gebiet in den letzten 20 Jahren (von 1990 bis 2010) keinerlei Fortschritte verzeichnet wurden“. 90 Prozent der schwangeren Teenager sind allerdings verheiratete Mädchen. Deshalb ändern erweiterte Betreuungsangebote an der Zahl der frühen Schwangerschaften nur relativ wenig.

Mehr Einfluss hat in dieser Hinsicht der Faktor Schulbesuch: Laut Statistik heiraten junge Mädchen umso später, je länger sie zur Schule gehen. So gesehen schiebt ein zehnjähriger Schulbesuch die Hochzeit um rund sechs Jahre hinaus. D. K.

Fußnote: 1 „Une Europe pour la paix“, Erklärung des Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950. Aus dem Französischen von Markus Greiß

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von D. K.