Kein Wunder in Brasilien
von Gerhard Dilger
Brasília, 15. Juni 2013, vor dem Fußballspiel Brasilien gegen Japan: Joseph Blatter und Dilma Rousseff möchten zum Auftakt des Confederations Cup – einer Art Generalprobe für die WM im kommenden Jahr – ein Grußwort sprechen. Als der skandalumwitterte Fifa-Vorsitzende zu reden anhebt, bricht in der prächtigen Mané-Garrincha-Arena ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert los. Als Blatter die Staatschefin Rousseff namentlich erwähnt, werden die Pfiffe und Buhrufe noch einmal deutlich lauter. Schließlich erklärt die genervte Präsidentin das Turnier mit einem einzigen Satz für eröffnet.
Auch wenn den Millionen Brasilianern, die diese Szene über TV Globo mitverfolgten, der akustische Pegel des Unmuts auf den Rängen verborgen blieb – Mimik und Gestik der Präsidentin sprachen Bände. Tage zuvor waren in mehreren Großstädten Zehntausende gegen Fahrpreiserhöhungen und Polizeigewalt auf die Straßen gegangen. Dass auch das Fifa-Spektakel zur Zielscheibe des Volkszorns wurde, ist dabei kein Zufall. Die weitgehend aus Steuergeldern finanzierte WM soll nach jüngsten Zahlen rund 10 Milliarden Euro kosten, fast viermal so viel wie die letzte WM 2010 in Südafrika. Mit den 500 Millionen Euro, die allein das Stadion in Brasília verschlang, hätten 150 000 Sozialwohnungen gebaut werden können, rechnete der Abgeordnete, Fifa-Kritiker und Exfußballstar Romário vor.
Eine ähnlich breite gesellschaftliche Aufbruchsstimmung wie in diesen Tagen hat Brasilien zuletzt vor knapp 30 Jahren erlebt. Gegen Ende der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 dauerte, verlangte die Bevölkerung ein Jahr lang einen klaren Bruch und direkte Präsidentenwahlen. Damals behielten Militärs und konservative Politiker die Oberhand; realisiert wurde die Forderung erst eine Legislaturperiode später.
Heute sind die Proteste heterogener, die Forderungen vielfältiger. Und die linke Arbeiterpartei PT, die damals noch Sprachrohr der sozialen Bewegungen war, ist nach einem langen Marsch durch die Institutionen und zehn Jahren an der Regierung selbst zum Establishment geworden. Dafür hat sie einen hohen Preis bezahlt.
Die Basis macht sich selbständig
Angestoßen wurde die Protestwelle dieses Jahres von der Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre, MPL), die sich seit dem Weltsozialforum 2005 für ein kostenloses öffentliches Nahverkehrssystem einsetzt. Ihre wichtigsten Prinzipien lauten ganz zeitgemäß: keine Hierarchien und Unabhängigkeit von politischen Parteien. Von der brasilianischen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, war in Porto Alegre bereits im März, nach Demonstrationen unter Führung des MPL, die Fahrpreiserhöhung für städtische Busse zurückgenommen worden. Das beflügelte die Proteste auch in anderen Großstädten.
In Brasilien ist der Nahverkehr in der Hand privater Unternehmen und, gemessen an den Realeinkommen, einer der teuersten der Welt. In der Regel müssen die Fahrgäste in jedem Bus eine neue Fahrkarte lösen. Das belastet insbesondere die Ärmeren, die kein eigenes Auto haben. Zudem müssen Nutzer, die in weit entfernten Außenbezirken leben, jeden Tag Fahrzeiten von mehreren Stunden in Kauf nehmen. Deshalb werden die Forderungen der MPL, die vorwiegend aus Studierenden der Mittelschicht besteht, von einer breiten Mehrheit mitgetragen.
In den tonangebenden Medien wurden die Demonstrierenden lange Zeit pauschal als „anarchistische Randalierer“ denunziert. Nach einem brutalen Polizeieinsatz in São Paulo, bei dem am 13. Juni auch mehrere Journalisten verletzt oder festgenommen wurden, begann sich die öffentliche Stimmung zu drehen. Jetzt wurde die vielfach dokumentierte Polizeigewalt auch in den Massenmedien thematisiert, was die Protestbewegung stärkte.
Eine gute Woche lang gingen im ganzen Land Millionen Menschen auf die Straße.1 Das Spektrum der Forderungen reichte von „Schulen und Krankenhäusern mit Fifa-Standard“ über die Respektierung der Rechte von Frauen, Homosexuellen oder Leuten, denen Zwangsumsiedlung drohte, bis hin bis zur Bestrafung korrupter Politiker.2 Besonders medienwirksam waren die Demonstrationen an den Austragungsorten des Confederations Cup, also in Fortaleza, Salvador, Brasília, Belo Horizonte und Rio. Mit der Zeit beteiligen sich auch auch immer mehr Bewohner der ärmeren Stadtviertel an den Protesten. In São Paulo und anderen Städten wurden die Fahrpreiserhöhungen von 20 Centavos (circa 7 Eurocent) wieder zurückgenommen.
Die Rechnung des PT-Vorsitzenden Rui Falcão, durch die Mobilisierung von Parteimitgliedern noch den Anschluss an die Bewegung zu finden, ging nicht auf. In mehreren Städten prügelten rechte Schläger rabiat auf bekennende Anhänger linker Parteien und Bewegungen ein, rissen ihnen die roten Fahnen und Spruchbänder aus den Händen und weckten damit Befürchtungen vor einer gezielt geschürten Destabilisierung der Regierung oder gar vor einem Staatsstreich.3 Auffällig war, wie der mediale Mainstream versucht hat, die Proteste in seinem Sinne zu instrumentalisieren. Sowohl TV Globo als auch die großen Qualitätszeitungen O Estado de São Paulo, Folha de São Paulo und O Globo und natürlich auch das reaktionäre Wochenmagazin Veja hatten die Demonstranten lange ignoriert und nur über die Gewalt militanter Gruppen berichtet. Jetzt auf einmal machten sie die Korruption zu ihrem Hauptthema.
Die Standardgeschichte in diesen Medien lautet im Wesentlichen so: Spätestens seit der Korruptionsaffäre Mensalão4 im Jahr 2005, die unter PT-Staatschefs Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff lief, sei „die Politik“ verkommener als je zuvor. 2012 verurteilte das oberste Bundesgericht nach einem monatelangen Prozess mehrere führende PT-Politiker wegen ihrer Beteiligung am Mensalão zu hohen Haftstrafen. Unabhängige Untersuchungen zeigen allerdings, dass der Anteil korrupter Parlamentarier in den Reihen der großen Oppositionsparteien oder der amorphen Zentrumspartei PMDB (Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens), die den Vizepräsidenten stellt, um ein Vielfaches größer ist als in der PT.5
Unbestreitbar ist jedoch, dass sich die Arbeiterpartei, nachdem sie sich gut 20 Jahre lang als „ethische“ Opposition aufgespielt hatte, unter Lula höchst pragmatisch in das politische System einfügte. Da die PT selbst nur etwa 20 Prozent der Sitze im Bundesparlament hat, ist sie auf Koalitionen angewiesen, die weit ins konservative Spektrum hineinreichen. Das macht die Mitte-links-Regierung erpressbar, wofür die Affäre Mensalão nur das spektakulärste Beispiel war. Auch die alte PT-Forderung nach einer grundlegenden politischen Reform scheiterte an den Mehrheitsverhältnissen und wurde von Rousseff erst jetzt wieder aufgegriffen.
Die Justiz steht der Legislative in Sachen Korruption und Vetternwirtschaft kaum nach, und das gilt noch stärker für die auf bundesstaatlicher Ebene organisierte Polizei. Viele Verstöße werden nicht geahndet. So wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres in den 93 Polizeibezirken der Megalopole São Paulo 55 300 Gewaltverbrechen registriert. Doch zu Festnahmen kam es lediglich in 1 700 Fällen, das sind weniger als 3 Prozent.6
In anderen Regionen Brasiliens sind die Verhältnisse eher noch dramatischer. Hinter Schloss und Riegel landen gewöhnlich nur Leute, die über keine gewieften Anwälte verfügen. Kein Wunder, dass die Forderung nach mehr Sicherheit auf der Wunschliste der Brasilianer ebenfalls ganz oben steht.
Die oben beschriebenen gewaltsamen Attacken vom 20. Juni markierten einen Wendepunkt: Viele progressive Demonstranten zogen sich vorläufig zurück. Doch die Politisierung der brasilianischen Jugend ist nicht aufzuhalten. Vielerorts wurde nun auf Volksversammlungen unter freiem Himmel über das weitere Vorgehen beraten. Der „Frühling“ ist noch längst nicht vorbei.
Zugleich ging Dilma Rousseff in die Offensive: In ihrer Fernsehrede vom 21. Juni lobte sie die Demonstranten und erklärte, der „Impuls dieser neuen politischen Energie“ könne dazu beitragen, „vieles in Brasilien besser und schneller zu ändern, als es früher aufgrund politischer und ökonomischer Hemmnisse möglich war“. Doch diese Rede kam wohl zu spät: Umfragen zeigen, dass die Zustimmungswerte der Staatschefin seit den Demonstrationen dramatisch eingebrochen sind.
Ende Juni ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Datafolha, dass nur noch 30 Prozent der Befragten die Amtsführung Rousseffs als gut oder sehr gut bewerten; drei Wochen zuvor waren es noch 57 Prozent gewesen.7 Auch die Chancen auf ihre bis vor Kurzem als sicher geltende Wiederwahl im Oktober 2014 sanken deutlich: In einer Stichwahl würde sie derzeit ihrer früheren Kabinettskollegin, Lulas Umweltministerin Marina Silva, unterliegen. Doch das sind Momentaufnahmen – auch die Wiederwahl Lulas schien 2005 keineswegs sicher.
Drei Tage nach ihrer Rede an die Nation signalisierte die Präsidentin Tatendrang: Sie regte die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung an, machte aber schon einen Tag später angesichts des geballten Widerstands der Opposition, der Justiz und der Medien einen Rückzieher. Nun sollen die Wähler in den kommenden Monaten in einer Volksabstimmung über einige konkrete Veränderungen des Wahlrechts befinden. Allerdings stellte sich Anfang Juli der wichtigste Koalitionspartner PMDB quer.
Die soziale Bewegung erlebt ihre Midlife-Crisis
Parallel dazu suchte Rousseff mit einem zuvor nie erlebten Eifer das direkte Gespräch mit den sozialen Bewegungen und vorrangig mit der MPL. Solche Kontakte hatte bis dahin ihr Präsidentschaftsminister Gilberto Carvalho wahrgenommen. Der hatte dabei versucht, umstrittene Positionen, etwa in der Agrarpolitik oder im Hinblick auf den Bau des Riesenstaudamms Belo Monte in Amazonien, auch bei regierungskritischen Gruppen innerhalb der eigenen Wählerbasis durchzudrücken – zum Beispiel bei der Landlosenbewegung MST oder den Vertretern der Indigenen. Anders als zu Lulas Zeiten war es also kaum mehr zu einem echten Dialog mit der Präsidentin gekommen. Ob diese nun aber auch inhaltlich auf die sozialen Bewegungen zugehen wird, muss sich noch zeigen.
Rousseffs wirtschaftsfreundlicher Kurs, der Wachstum um jeden Preis favorisierte und vor allem auf den Export von mineralischen und agrarischen Rohstoffen setzte, lag zwar zwar durchaus auf der Linie, die Lula in seiner zweiten Amtszeit verfolgt hatte. Doch im Gegensatz zu dem charismatischen Exgewerkschafter verstand es die bis weit ins bürgerliche Lager hinein respektierte Technokratin Rousseff nicht mehr, ihre linke Basis zu begeistern.
Der Großteil der „organisierten Zivilgesellschaft“ – die großen NGOs, die Gewerkschaften und die „klassischen“ sozialen Bewegungen wie die der Landlosen, der Frauen, Homosexuellen oder Obdachlosen, deren Blütezeit parallel zur langen Aufbruchsphase Lulas und der Arbeiterpartei in den 1980ern und 1990ern lag – hatte sich dennoch mit den Verhältnissen abgefunden. Sie sind nun angesichts der Proteste der Jungen fast ebenso ratlos wie die PT selbst.
Man könnte also fast von einer Midlife-Crisis dieser Szene sprechen, die großenteils von dem PT-geführten Regierungslager kooptiert worden war.8 Allerdings verschafft der „brasilianische Frühling“ diesen Gruppen ganz neue Chancen, ihre langjährigen Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit tatsächlich nahezubringen. Dazu gehört etwa die These, eine echte politische Reform müsse auch Elemente direkter Demokratie beinhalten.9 Diese regierungsnahe Linke hat den 11. Juli zu einem großen Protesttag ausgerufen.
Auch innerhalb der Arbeiterpartei sind die Hoffnungen auf einen Linksschwenk der Präsidentin gestiegen. Das PT-Vorstandsmitglied Valter Pomar kritisiert die „konservative Haltung gegenüber den indigenen Völkern“ im eigenen Lager und die Nachgiebigkeit gegenüber der Rechten. Auch habe die PT die Fußball-Weltmeisterschaft oder auch den Bau von Wasserkraftwerken mit „falschen Argumenten“ verteidigt. Pomar verlangt von seiner Partei, sowohl auf der Straße als auch im Parlament aktiv zu werden: „Wir müssen die Strategie und das allgemeine Verhalten der PT und der Linken ändern.“ Mit der Rechten solle man sich nicht nur in den sozialen Netzwerken auseinandersetzen; vielmehr müsse die Regierung endlich dem konservativen Medienoligopol entgegentreten.10
Als hätten sie auf solche Mahnungen nur gewartet, beeilten sich Parlamentarier, Bürgermeister und Gouverneure, auch mit Blick auf die Wahlen 2014, einige Forderungen der Demonstrierenden in die Realität umzusetzen. So wurde ein Gesetzesentwurf gekippt, der die Ermittlungsbefugnisse der Volksanwaltschaft11 gegenüber korrupten Politikern beschnitten hätte. Künftig wird es weniger geheime Parlamentsabstimmungen geben, und auch ein schwulenfeindlicher Gesetzentwurf, der „Heilung“ durch psychologische Berater vorsah, verschwand in der Schublade. Und vielerorts wurden die Busfahrpreise weiter gesenkt.
Dennoch ist klar, dass die überwältigende Mehrheit des Kongresses alles dafür tun wird, eine politische Reform im Sinne der Präsidentin zu verhindern. Die PT, die sich in den 1980er Jahren als eine neuartige pluralistische Linkspartei jenseits von Sozialdemokratie, Kommunismus oder Sektierertum formierte, hat sich in ihren Regierungsjahren – ähnlich wie die Sozialdemokratie Europas – um die soziale Abfederung des kapitalistischen Systems bemüht. Dabei hat sie zugleich auf jede systemimmanente Strukturreform verzichtet. Sozialökologische Ansätze, die etwa noch in Lulas Wahlprogramm von 2002 zu finden waren, sind im Wachstumsrausch der letzten Jahre völlig untergegangen.
Die Arbeiterpartei steht heute vor der wohl größten Herausforderung ihrer 33-jährigen Geschichte: Entweder findet sie zurück zu ihrem radikaldemokratischen Impetus, der einmal den Bürgerhaushalt12 und das Weltsozialforum hervorgebracht hat, oder sie bleibt im Labyrinth der Realpolitik gefangen. Diese Gefahr könnte durch die heraufziehende Wirtschaftskrise verstärkt werden. Dann allerdings droht – das haben die Proteste klargemacht – im kommenden Jahr die Wahlniederlage.