Peruaner zuletzt
Es regnete und schon war die Katastrophe da von Luciana Rabinovich
Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen: Katastrophen, über die weltweit in den Massenmedien berichtet wird – ob nun gewöhnliche Naturphänomene oder Folgen des Klimawandels –, sind nahezu alltäglich geworden. Die Mittel, die Infrastruktur und die Technologie, um auf solche Fälle vorbereitet zu sein, sie vorauszusagen oder womöglich zu verhindern, sind ungleich verteilt. Unwetter richten in armen Ländern sehr viel schlimmere Schäden an als in reichen.
Peru zählt zu Ersteren. Im Januar dieses Jahres sorgten dort Regenfälle, die die Flüsse über die Ufer treten ließen und Überschwemmungen und Erdrutsche auslösten, für internationale Schlagzeilen: Eine Gruppe von etwa 2 500 Menschen, mehrheitlich Touristen aus dem Ausland, war in dem Dörfchen Aguas Calientes am Fuße der Inka-Stadt Machu Picchu eingeschlossen. Ich war eine von ihnen. Als die Reisenden nach fünf Tagen schließlich evakuiert waren, verlor die Presse das Interesse. Betroffen waren aber mehr als 40 000 Menschen1 , und der Regen hielt an. Wir Gestrandeten konnten in Aguas Calientes aus nächster Nähe beobachten, wie desorganisiert und korrupt die Lokalbehörden sind, die peruanische Zentralregierung nicht anders. Es gab keinerlei Hilfsmittel oder Vorsorgemaßnahmen, obwohl solche Unwetter in bestimmten Jahreszeiten alles andere als außergewöhnlich sind.2
Es war Sonntagnachmittag, am 24. Januar, als wir vom Heiligtum der Inkas, der Felsenstadt Machu Picchu, nach Aguas Calientes hinunterstiegen und erfuhren, dass die Eisenbahn, die einzige Verkehrsverbindung zur Außenwelt, nicht mehr fahren würde. Der Río Urubamba war infolge eines schweren Unwetters über seine Ufer getreten und hatte Teile der Straße und der Schienen weggespült. Der letzte Zug war gerade noch im Bahnhof eingelaufen, obwohl die Bahnverwaltung über den Zustand der Strecke unterrichtet und vor weiteren Fahrten gewarnt worden war.
In der ersten Nacht versuchten wir Touristen je nach Ausrüstung und Möglichkeiten mit der Lage zurechtzukommen. Am nächsten Morgen erklärten Perú Rail und Inca Rail, die beiden Bahnunternehmen, die nach Aguas Calientes fahren, dass der Verkehr bis auf weiteres eingestellt bleibe, an der Strecke werde gearbeitet, doch das könne einige Tage oder Wochen, vielleicht auch Monate dauern. Später hieß es, dass eine Evakuierung auf dem Luftweg geplant sei. Die durch weitere Neuankömmlinge aus Machu Picchu noch weiter angewachsene Touristengruppe wurde dann in den Eisenbahnwaggons untergebracht, während die „Lokalen“, also die peruanischen Staatsbürger, bis auf weiteres hinter einem Zaun eingesperrt wurden, ohne Rücksicht auf alte Leute oder Kinder.
In den Waggons begannen Bahnangestellte die Prioritäten festzulegen: Kranke, Schwangere, Personen über 60 und Kinder unter 15 Jahren mit ihren Müttern sollten zuerst evakuiert werden. Die Peruaner warteten weiter hinter dem Zaun. Am Mittag wurden wir mit großer Eile ins Fußballstadion im höher gelegenen Teil der Stadt gebracht, denn Erdrutsche und weitere Überschwemmungen drohten. Édgar Miranda Quiñónez, der Gemeindevorsteher von Machu Picchu, teilte uns mit, die Helikopter seien unterwegs, wir sollten uns gedulden, die Evakuierung würde langsam vor sich gehen.
Am Nachmittag, als abzusehen war, dass sich die Sache weiter in die Länge ziehen würde, beschlossen die Touristen, sich Unterkünfte zu suchen. Die Hotels waren allesamt überbelegt, und die Ladenbesitzer freuten sich: Normalerweise ist der Ort nur eine Durchgangsstation. Die Zimmerpreise schossen in die Höhe, und selbst für einfache Nahrungsmittel wie Brot, Milch oder Mineralwasser wurde doppelt oder gar viermal so viel verlangt wie sonst.
Die Gemeindeverwaltung, das Kulturinstitut und später auch das neue Rathaus öffneten ihre Pforten für die, die anderswo nicht mehr unterkamen. Erst am Dienstag wurden erste Essensrationen verteilt und mehrere Stände im Ort aufgebaut, an denen einheimische Freiwillige mit Hilfe von Touristen Mahlzeiten anboten.
Da die lokalen Behörden auf eine solche Situation überhaupt nicht vorbereitet war, fingen die Touristen selbst an, sich zu organisieren: Sie nahmen mit den Botschaften ihrer Heimatländer Kontakt auf, vervollständigten die Evakuierungslisten, errichteten ein Feldlazarett mit freiwilligen Sanitätern und ein Informationszentrum.
Am Dienstag, es war der 26., kamen die ersten Hubschrauber und evakuierten etwa 400 Personen. Offizielle Information gab es keine, aber gerüchteweise hieß es, dass die US-Staatsangehörigen in Helikoptern der US-Drogenbehörde DEA ausgeflogen wurden. Hubschrauber aus Argentinien, Chile und Brasilien hatten keine Landeerlaubnis erhalten, weil kein nationaler Notstand erklärt worden war. Es sickerte auch durch, dass einige Touristen sich gegen Zahlung von 300 bis 500 US-Dollar einen Platz im Helikopter sichern konnten.
Die Gemeindeverwaltung ließ überall im Ort Plakate ankleben, auf denen die Prioritäten für die Evakuierung nachzulesen waren. Aber auf dem Bahnhof wurden nur Ausländer, besonders die aus Europa und den USA, ausgewählt, während Müttern mit Kleinkindern, wenn sie Peruaner waren, der Zugang verwehrt wurde.
An den Bahnhofseingängen und vor dem Luxushotel Inka am Fuß des Berges, wo die Helikopter erwartet wurden, bezogen Gruppen von Leuten Position, die forderten – und auch erreichten –, dass die internationalen Regeln für Evakuierungen eingehalten wurden. Am Nachmittag wurde bekannt, dass auf dem Inca Trail zwei Menschen bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen waren: die junge Argentinierin Lucía Ramallo Sarlo und der peruanische Fremdenführer Washington Huaraya Cusihuamán. Ihre Gruppe war am 23. Januar von Cusco aus aufgebrochen, als bereits Alarmstufe Orange galt, ohne dass die Reiseveranstalter irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätten.
Am Mittwoch, dem 27. Januar, trafen Soldaten der peruanischen Armee ein und die Evakuierung beschleunigte sich. Am Freitag, dem letzten Tag der Evakuierung – jedenfalls für die Touristen –, waren es schon deutlich mehr Helikopter, die auch häufiger flogen. Das Dorf war nahezu leergefegt: Die Läden hatten kaum mehr etwas zu verkaufen, und viele Pensionen, Geschäfte und Restaurants waren geschlossen.
Jedes Jahr kommen etwa 800 000 Touristen nach Machu Picchu und geben dort rund 400 Millionen US-Dollar aus.3 Das mag erklären, warum die Behörden so lange gezögert haben, den Zugverkehr zu stoppen und den Inca Trail wie die Ruinenstadt selbst zu schließen. Eine Rechtfertigung ist das nicht. Die Reiseveranstalter, die die Touren auf dem Inca Trail organisieren, kassieren zwischen 260 und 330 Dollar, der Eisenbahntarif variiert je nach Komfort zwischen 30 und 300 Dollar, und der Eintritt zur heiligen Stadt kostet weitere 20 bis 50 Dollar pro Person. Wenn es regnet, verliert die Tourismusindustrie der Region Cusco zwischen 750 000 und einer Million Dollar pro Tag.
Insofern kann man kaum noch von einer Naturkatastrophe sprechen. Seit Jahren fordert die Unesco, dass die Stadtplanung in Aguas Calientes sowohl die Überbevölkerung als auch den Bedarf an Hotels und Geschäften stärker berücksichtigen müsse. In ihrem jüngsten Bericht rät sie zu einer Umweltverträglichkeitsstudie, einem Stadtentwicklungsplan für Aguas Calientes und einem Krisenplan für den Fall von Naturkatastrophen.4 Doch der Ort, der fast 90 Prozent der peruanischen Tourismuseinnahmen generiert, verfügt nur über einen einzigen Zugangsweg und kennt weder Präventionsmaßnahmen noch Einsatzpläne für sogenannte Naturkatastrophen.
Nach einem solchen Erlebnis kann man sich leicht ausmalen, wie es in noch unzugänglicheren Regionen Perus aussieht: Dort wohnt die Mehrheit der Bevölkerung in Lehmhütten, deren Fundamente vom Regen ausgewaschen werden; irgendwann werden sie einstürzen. Wir Touristen sind mehr oder weniger gut davongekommen und können sogar von einem kleinen Abenteuer berichten, aber die Regenfälle und Erdrutsche hören in unserer Abwesenheit nicht auf, und die Peruaner müssen weiter dort leben.
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard
Luciana Rabinovich ist Mitglied der Redaktion der argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique. © Le Monde diplomatique, edición Cono Sur, Buenos Aires