Für eine Handvoll Tomaten
In der Wüste von Almería, einst Filmkulisse für Spaghetti-Western, wächst Discount-Gemüse für Europa von Pierre Daum
Es ist jedes Jahr dasselbe. Ab Oktober verschwinden allmählich die heimischen Landtomaten von den Marktständen und aus den Supermarktregalen Westeuropas, und eine einzige Sorte bleibt übrig: die spanische Tomate.1 Hart, knackig oder mehlig, ohne Eigengeschmack, reift sie im Gemüsekorb nicht etwa nach, sondern bleibt blass und fault schnell. „Die Leute wollen das ganze Jahr hindurch Tomaten essen, selbst im tiefsten Winter“, sagt Robert2 , der für einen Supermarkt im Süden Frankreichs Obst und Gemüse ordert. „Also besorgen wir sie!“
Kaum jemand will mehr als zwei Euro für ein Kilo Tomaten zahlen, auch nicht außerhalb der Saison. Aber wie kann man mitten im Winter billig Tomaten züchten, so dass die Herstellungskosten bei einem Ladenpreis von zwei Euro unter 50 Cent pro Kilo liegen? Die Lösung für das Anbauproblem fand man in der kleinen andalusischen Region Almería, einem Küstenstreifen zwischen dem Mittelmeer und der beeindruckenden Sierra de Gádor. In dieser Region gibt es die höchste Sonneneinstrahlung Europas – und die am schlechtesten bezahlten Arbeiter.
Wer heute durch diese ehemalige Wüste reist, die als Kulisse für einige der berühmtesten Spaghetti-Western dien-te3 , wird nahezu erschlagen vom Anblick tausender Gewächshäuser aus Plastik, manche stabil wie Festungen, andere vom Wind halb zerrissen. Insgesamt sind es etwa 30 000, die auf 30 000 bis 40 000 Hektar eng beieinanderstehen. Dort arbeiten zehntausende Immigranten, ein Gutteil davon ohne Papiere, damit die europäischen Verbraucher zu jeder Jahreszeit frisches Gemüse bekommen.4
Juan Carlos Checa vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Universität Almería schätzt die Zahl der Landarbeiter auf 110 000. „Davon sind 80 000 bis 90 000 Ausländer und von denen wiederum 20 000 bis 40 000 illegal: Sie kommen zu 50 Prozent aus Marokko, dann aus Subsahara-Afrika, Lateinamerika und Rumänien.“
Für einen Achtstundentag erhält ein Landarbeiter in Frankreich 55,40 Euro netto. Mit Steuern und Sozialabgaben kostet er seinen Arbeitgeber 104 Euro. In Almería verdienen die Tagelöhner nur zwischen 32 und 37 Euro, auch wenn der offizielle Mindestlohn bei 44,40 Euro netto liegt.5 Da sie nur selten gemeldet sind, kosten sie ihren Arbeitgeber auch keinen Cent mehr.
Die Immigranten, die es noch am besten getroffen haben, wohnen mit 15 Leuten in einer kleinen Sozialwohnung. Die weniger Glücklichen leben in cortijos, kleinen Schuppen aus Stein, ohne fließend Wasser und Strom, in denen die Landbesitzer normalerweise Düngemittel und Pestizide lagern. Die Elendsten versuchen in chabolas zu überleben, aus Latten und Plastikteilen errichteten Hütten, die entlegen und versteckt mitten zwischen den Treibhäusern liegen.
Die Arbeiter schlafen neben dem Dünger
„Ich habe Glück gehabt“, erzählt der 23-jährige El Mehdi aus dem marokkanischen Tétouan in schlechtem Spanisch. „Der Chef ist nett, er hat nicht gefragt, ob ich Papiere habe.“ Sein Wohnraum ist finster, es gibt kein Fenster, kein Trinkwasser, keinen Strom, keine Heizung. Im Nachbarraum stapeln sich Flaschen mit Sulfatdünger. „Den versprühe ich, mit Maske.“ El Mehdi hat nur einen Arbeitgeber, den Besitzer der beiden angrenzenden Gewächshäuser. „Wenn es Arbeit gibt“, verdient er an einem Acht- bis Zehnstundentag 33 Euro. Er ist zufrieden, „denn im Sommer, wenn es zwei Monate lang keine Arbeit gibt, lässt mich der Chef weiter hier wohnen.“
Im Februar 2000 war auf einmal viel die Rede von den sin papeles (Papierlosen). Nachdem ein psychisch kranker Marokkaner eine junge Spanierin ermordet hatte, brachen rassistische Ausschreitungen in El Ejido aus, die drei Tage andauerten. Tausende mit Eisenstangen bewaffnete Spanier griffen jeden moro (Mauren bzw. Marokkaner) an, dem sie auf der Straße, in Bars oder Geschäften begegneten. Am Ende gab es 54 Verletzte, davon etwa die eine Hälfte Polizisten, die andere Immigranten.
Und seitdem? „Die Lage ist sogar schlimmer geworden“, meint Spitou Mendy, Vertreter der Landarbeitergewerkschaft SOC in Almería. Jedes Jahr findet man an den Wegen zwischen den Treibhäusern ermordete Migranten. Die Polizei ermittelt kaum, die Täter werden nie gefunden.
Isidoro Martínez, Ingenieur bei Casur, der größten Landwirtschaftskooperative von Almería, ist stolz auf seine Fabrik. Er beliefert Carrefour in Frankreich, Netto in Deutschland und Lidl in ganz Europa. Jede geerntete Tomate kommt sofort in eine automatische Waschanlage, wo sie mit Wasserstrahlen, Spülmittel und Drehbürsten gereinigt und anschließend mit Heißluft getrocknet wird, „damit alle äußerlich sichtbaren Spuren von Kupfer oder Schwefel abgewaschen werden, die den Verbraucher abstoßen könnten“, erklärt Martínez. Mit einem Lächeln fügt er hinzu: „Aber die gefährlichsten Stoffe, die unter der Schale, bleiben natürlich unsichtbar.“
Die nach Qualität und Größe auf Paletten sortierten Tomaten kommen ein oder zwei Tage in eine Kühlkammer, bis ihre Temperatur auf zehn Grad gesunken ist, anschließend werden sie auf Sattelzüge verladen, die durch ganz Europa fahren. Zur Hauptsaison zwischen Dezember und Februar starten von hier aus bis zu 500 Laster pro Tag. 1 900 Kilometer liegen zwischen Almería und Paris – das sind zweieinhalb Tage auf der Straße, einschließlich der vorgeschriebenen Pausen. Nach Berlin sind es 2 700 Kilometer oder viereinhalb Tage, nach Warschau 3 300 Kilometer oder fünf Tage. „Weil zwischen der Ernte und der Ankunft im Supermarkt etwa fünf bis acht Tage liegen, packen wir nur grüne Tomaten ein“, erklärt Martínez und zeigt uns einen Farbfächer von grün bis tiefrot, der von eins bis zehn durchnummeriert ist. „Wenn ein Kunde in London acht will, dann lasse ich ihm vier einpacken.“ Aber es ändert sich nur die Farbe. Denn im Gegensatz zur Banane, Avocado oder Kiwi reift die geerntete Tomate nicht mehr nach.
Am folgenden Abend gehen 26 Paletten, das sind insgesamt 15 Tonnen, in einem Sattelzug auf die Reise. Ziel ist Béziers, unweit von Montpellier, genauer gesagt: das dortige Umschlaglager der Supermarktkette Carrefour. Die riesigen Hangars liegen gewöhnlich weitab von neugierigen Blicken. Dort werden die Tomaten entladen und ein paar Stunden später auf andere Lkws verfrachtet, die die Supermärkte in der Umgebung beliefern.
Der Fahrer heißt Antonio Pacheco Sánchez. Er ist 47 Jahre alt und seit 34 Jahren auf der Straße. „Ich habe mit 13 angefangen, saß neben meinem Vater und habe für ihn die Straßenkarte gelesen. Mit 16 habe ich ihn nachts abgelöst, weil seine Augen immer schlechter wurden.“ Der Sattelzug, ein schicker Volvo, scheint ein fabrikneues Modell zu sein. „Für so einen Wagen muss man schon 150 000 Euro löhnen“, sagt Sánchez stolz.
Vor der Abfahrt rechnet uns sein Vorgesetzter Andrés Valverde, kaufmännischer Leiter bei Carrion, der größten Spedition Almerías, den Dieselverbrauch vor: 45 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen die beiden Motoren – der Motor des Lkws und der im Kühlaggregat. Damit mache der Treibstoffverbrauch „etwa ein Drittel der gesamten Transportkosten aus“. Bei einer Lieferung nach Paris sind das fünf Cent pro Kilo Tomaten, insgesamt verlangt die Spedition 15 Cent. „Die Handelsketten setzen uns enorm unter Druck. Sie wollen immer günstigere Preise. Viele Speditionen aus Almería mussten deshalb schon dichtmachen.“
Vielleicht werden die Sattelschlepper künftig durch Schiffe ersetzt, vor allem seit der Eröffnung des neuen Großhafens in Tanger (Marokko), der die andalusische Landwirtschaft gefährden könnte. Die Einrichtung einer neuen Schifffahrtslinie Almería–Dünkirchen wird gerade geprüft. „Die Verlagerung von der Straße aufs Wasser ist in vollem Gange“, erzählt der Logistikexperte Jean-Claude Montigaud aus Montpellier. „In den nächsten Jahren werden die Karten im Mittelmeerraum ganz neu gemischt. Gegenden, die bislang auf ihre gute Lage setzen konnten, werden nach und nach von der Landkarte verschwinden.“
Noch brausen die Lastwagen über Europas Autobahnen. Unter dem zunehmenden Druck ihrer Kunden haben manche Speditionen eine Lösung gefunden: In Europa gibt es keine einheitlichen Ländergesetze zum Transportwesen, das per definitionem transnational ist. Die Speditionen stellen daher vermehrt Fahrer aus den Nicht-EU-Ländern Osteuropas ein, denen sie maximal halb so hohe Löhne zahlen. Das Monatsgehalt eines spanischen Fernfahrers liegt zwischen 2 500 und 3 000 Euro, ein Ukrainer verdient dagegen oft nur 1 200 Euro.
Durch die Pleite der luxemburgisch-österreichischen Spedition Kra-lowetz6 im Jahre 2002 kamen diese Praktiken ans Licht. Damals bestand der Trick darin, in Sofia oder Kiew ein Büro einzurichten, das die Fernfahrer zu den dort herrschenden Bedingungen einstellte, auch wenn sie de facto nur auf den Autobahnen Westeuropas unterwegs waren. Der österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB erklärte damals, 80 Prozent der österreichischen Spediteure würden „nicht korrekt entlohnen“.7
Wie verhält es sich heute? „Auf der Straße trifft man immer mehr bulgarische oder ukrainische Fahrer“, erzählt Antonio Pacheco Sánchez bei einem „Abendessen“ um drei Uhr morgens in einer Raststätte irgendwo zwischen Valéncia und Castelló. Am Tisch sitzt auch Antonios alter Freund Francisco Paco, ebenfalls Fernfahrer. Paco erzählt: „Viele Firmen entlassen ihre alten Fahrer und stellen Ukrainer ein. Ich kenne ein paar von ihnen. Sie müssen doch irgendwie zurechtkommen, also schmuggeln sie. Zum Beispiel verkaufen sie ihre neuen Reifen und ersetzen sie durch alte, die sie komplett abfahren. Auf den großen Fernfahrer-Parkplätzen kann es im Extremfall passieren, dass sie deinen Tank abzapfen oder dir einen Reifen klauen, während du schläfst.“
Manche Fahrer, die nach Kilometern bezahlt werden, sind fast ununterbrochen auf der Straße und halten auch die obligatorischen Pausen nicht ein. Abgefahrene Reifen, müde Fahrer – so steigen die Gefahren im Straßenverkehr um ein Vielfaches.
Wir verlassen Antonio kurz vor der französischen Grenze. Eigentlich wollten wir ihn bis nach Béziers begleiten. „Das geht auf gar keinen Fall!“, hatte Thierry Galzin, Leiter des Carrefour-Lagers, gleich abgewunken. „Ich darf nicht mal mit der Presse reden. Meine Anweisungen sind da ganz klar. Das müssen Sie schon verstehen. Ich bin ja auch nur Angestellter.“ Die Pressestelle von Carrefour France beschied uns: „Bedauerlicherweise können wir Ihrer Bitte um Auskunft nicht entsprechen.“ Dürfen wir wenigstens Anzahl und Standorte der Umschlaglager in Frankreich erfahren? „Nein, das ist vertraulich!“
Die langen Transportwege hinterlassen natürlich Spuren. Da muss hier und da nachgeholfen werden: Denn der Erfolg der spanischen Tomate hängt wesentlich von ihrer Festigkeit ab. „Wenn Tomaten auch nur ein kleines bisschen weich geworden sind, wird die ganze Palette sofort zurückgesandt“, sagt ein früherer Leiter der Frischeabteilung in einem Carrefour-Umschlaglager. Ein anderer, der ebenfalls anonym bleiben will, erklärt: „Die Tomaten müssen absolut fest sein. Die Kunden im Supermarkt fassen sie doch dauernd an, und wir müssen sie zwei bis drei Tage im Regal liegen lassen können.“
Die erste Sorte dieser langlebigen Tomate, die dem Verfall und jeglicher Erschütterung trotzt, wurde 1989 von israelischen Forschern entwickelt. Seitdem hat man in zahlreichen weiteren Studien versucht, die „organoleptischen“ Qualitäten der Tomate „Daniela“ zu verbessern: Aussehen, Geschmack, Oberflächenbeschaffenheit, Konsistenz und Duft. Französische Labore entwickeln ebenfalls schon lange neue Tomatensorten. Die Forscher beschäftigen sich außerdem um Verbesserungen in der Logistik.8 Einrichtungen wie das Französische Institut für Agrarforschung (Inra) werden natürlich aus öffentlichen Geldern finanziert, aber ihre Arbeit nützt hauptsächlich den großen Handelsketten.
In Deutschland haben die Riesen im Lebensmittelsektor einen Marktanteil von über 90 Prozent – weit mehr als etwa in Frankreich (67 Prozent), wo es noch mehr kleinere Läden gibt. Den deutschen Kuchen teilen sich vor allem Discounter (44,6 Prozent Marktanteil, wovon 18,4 Prozent auf Aldi und 9,8 auf Lidl entfallen), Supermärkte (23,7 Prozent) und sogenannte SB-Warenhäuser oder Hypermärkte (23,1 Prozent). 150 Milliarden Euro gaben die Deutschen im Jahr 2009 im Lebensmitteleinzelhandel aus.9
Der Verbraucher, der glaubt, beim Händler um die Ecke keine Almería-Tomaten zu bekommen, irrt. Auch wenn sie dort 3 oder 4 statt 1,90 Euro pro Kilo kosten, kommen die Tomaten aus demselben Gewächshaus, sind genauso behandelt und von denselben Lastern transportiert worden. „Wenn eine Palette hinten im Laster von einem großen Supermarkt abgelehnt wird, dann werde ich oft angerufen, ob ich sie nicht kaufen will“, sagt Joël, Angestellter einer Großmarktfirma in Montpellier. „Meistens nehme ich sie, dann kann ich meinen Kunden einen guten Preis machen.“ Seine Kunden sind die Einzelhändler der Stadt, von den einfachsten bis zu den nobelsten.
Die großen Handelsketten lassen oft Paletten zurückgehen: Mal sind die Tomaten nicht fest genug, mal stimmt die Größe nicht, mal die Farbe, mal die Temperatur bei Verlassen des Lasters. Deshalb landet eine beträchtliche Anzahl von Tomaten, die eigentlich für einen Supermarkt bestimmt waren, auf den Märkten und beim Einzelhändlern um die Ecke. Die Großmärkte sind seit der Explosion der Handelsketten die letzten Überbleibsel des traditionellen Großhandels. In Frankreich gibt es noch 18 davon, „und selbst die haben sich vollkommen verändert“, sagt Logistikexperte Jean-Claude Montigaud. „Heute gibt es dort alles: Umschlaglager für die großen Ketten, stark spezialisierte Importeure und ein paar letzte Grossisten.“
Welche Wahl bleibt dem Verbraucher noch? Die marokkanischen Tomaten? Sie werden auf genau die gleiche Art angebaut, auf ausgelaugten Böden im Treibhaus, und auch hier hat sich der Anbau zu einer riesigen Industrie entwickelt.10 Freilandtomaten – die Wurzeln in der Erde, die Schale von der Sonne verwöhnt – finden sich fast nur noch im Schrebergarten. Im Handel sind sie jedenfalls eine Seltenheit. Von den 600 000 Tonnen Tomaten, die Frankreich jedes Jahr produziert, kommen 95 Prozent aus Treibhäusern.
In den Niederlanden und in Belgien ist die Hydrokultur in geheizten gläsernen Treibhäusern sogar die einzige Anbaumethode. Im Sommer und Winter mit Gas beheizt, stecken die Wurzeln der Pflanzen in riesigen Rinnen, die von einem computergesteuerten Tropfsystem mit Wasser und Dünger versorgt werden. Auch in der Bretagne stehen solche Anlagen, wo ein Drittel der französischen Treibhaustomaten wächst.
Vielleicht sollte man dem Beispiel von Jacques Pourcel folgen. Der Spitzenkoch betreibt gemeinsam mit seinem Bruder in Montpellier das Zwei-Sterne-Restaurant „Jardin des Sens“ („Garten der Sinne“): „Ich koche nur im Sommer mit Tomaten, wenn sie in der Erde, auf dem Feld gewachsen und in der Sonne gereift sind, nicht zu stark gegossen und nur mit einem Minimum an Chemie behandelt wurden. Dann wird die Tomate geschmackvoll, nicht zu saftig, mit einer leichten Säure.“
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Pierre Daum ist Journalist.