12.03.2010

Indien und die Liebe zur Demokratie

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Indien und die Liebe zur Demokratie

von Praful Bidwai

Die Präambel der am 26. Januar 1950 in Kraft getretenen indischen Verfassung verspricht allen Bürgern „soziale, wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Ebenbürtigkeit und Chancengleichheit“. Für die meisten Inderinnen und Inder hat sich all das bis heute nicht erfüllt. Indien ist nach wie vor eine gespaltene, ungleiche und instabile Gesellschaft, geprägt von Armut und Kastendenken. Und doch ist Indien eines der wenigen Länder der Dritten Welt, in denen die Demokratie Wurzeln geschlagen hat und wo Wahlen wie Volksfeste zelebriert werden. Wer sich über die Zukunft der Menschheit Gedanken macht, dem kann die Lage von einem Sechstel der Weltbevölkerung nicht gleichgültig sein.

In den vergangenen 60 Jahren hat Indien große Fortschritte gemacht. 1950 betrug die Lebenserwartung 32 Jahre, heute liegt sie bei 68 Jahren. Damals konnten nur 18 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, heute immerhin 68 Prozent, wobei viele von ihnen nur Grundkenntnisse besitzen. Die Kindersterblichkeit ist in Indien mit 53 von 1 000 Geburten zwar immer noch erschreckend hoch, doch gegenüber 1950, als von 1 000 Neugeborenen 134 die ersten Monate nicht überlebten, um mehr als die Hälfte gesunken.

Wichtiger aber ist, dass sich die Demokratie in Indien gefestigt hat. Abgesehen von eineinhalb Jahren Notstandsregierung (1975–1977) unter Indira Gandhi war die Verfassung formell nie außer Kraft gesetzt. Und anders als in vielen Ländern der Dritten Welt hat sich das Militär aus der Politik weitgehend herausgehalten.

In den vergangenen 60 Jahren erlangten hunderte Millionen Inder gesellschaftliches Ansehen, die früher vom politischen Leben ausgeschlossen waren, weil sie entweder zu arm waren oder einer der unteren Kasten der Hindu-Hierarchie angehörten. Die indische Demokratie ist lebendig und dynamisch. Anders als in vielen westlichen Ländern wählen gerade die Armen mit Begeisterung und in großer Zahl. Es ist ihr Verdienst, dass die Wahlbeteiligung in den letzten vier Jahrzehnten von rund 50 auf 65 Prozent gestiegen ist. Dagegen verzeichnen die beiden reichsten Wahlkreise des Landes, South Mumbai und New Delhi, die niedrigsten Wahlbeteiligungen von allen.

Schon oft haben Indiens arme Wähler ihre Politiker abgestraft. In den letzten 25 Jahren wurden in den 28 Bundesstaaten und sieben Union Territories drei Viertel der Regierungen schon nach einer Legislaturperiode oder früher wieder abgewählt. Auf Bundesebene wurden seit 1977 nur zwei Premierminister im Amt bestätigt, wobei allerdings ihre Parteien die Parlamentsmehrheit verloren. Die Kongresspartei, deren Koalition 2009 wiedergewählt wurde, verfügt nur über 205 von 543 Sitzen im Unterhaus. Wieder einmal hat das indische Volk seiner Regierung eine Abmahnung ausgesprochen.

Verwunderlich ist das nicht. Denn Indiens Regierungen leisten dem Wahlvolk beileibe keine guten Dienste. Ihr Versagen lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen: Fortbestand der Kastenhierarchie, religiöse Diskriminierung, systematische Verletzung der Menschenrechte (die insbesondere die Besitzlosen trifft), Diskriminierung der Frauen und Versagen der staatlichen Versorgungssysteme im Kampf gegen Armut und wachsende Ungleichheit.

Die Kastendiskriminierung, obgleich gesetzlich verboten, bestimmt nach wie vor den indischen Alltag, vor allem auf dem Land, wo immer noch zwei Drittel der Bevölkerung leben. Besonders hart ist es für die Dalits, die ehemals kastenlosen „Unberührbaren“, die ein Sechstel der Bevölkerung ausmachen. Dalits besitzen in der Regel kein eigenes Land. Mehr als die Hälfte ist unterernährt. In der Schule dürfen Dalits nicht neben den anderen Kindern sitzen oder essen und müssen als Einzige ihr Geschirr selbst abspülen. In vielen Bundesstaaten führen sie ein Leben wie unter der Apartheid, isoliert vom Rest des Dorfs. Sie dürfen kein Wasser aus dem Brunnen schöpfen und müssen ihre Schuhe ausziehen, wenn Sie die Häuser von höheren Hindus betreten.

Über ein Jahrhundert haben indische Sozialreformer und Antikolonialisten gegen das Kastenwesen und seine Verankerung in Religion und Brauchtum gekämpft. Aber diese Bewegung ist heute nahezu verstummt. Kaum ein Theologe oder religiöses Oberhaupt spricht noch davon, das Kastenwesen abschaffen zu wollen.

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1947 entstanden immer wieder Parteien, die für das Selbstbestimmungsrecht der Unterschichten und Minderheiten eintraten. Doch bis heute setzt sich im gesellschaftlichen Umgang, bei Eheschließungen, in Familien und traditionellen Zeremonien, das Kastendenken durch. Gravierender ist jedoch, dass auch die Beamten es als Normalzustand betrachten. Die wichtigen und einträglichen Posten in Verwaltung und Privatwirtschaft besetzen nach wie vor Angehörige der oberen Kasten.

Dabei hat Indien im Bildungswesen und in Behörden die positive Diskriminierung mit Einstellungsquoten für Dalits und Adivasi1 eingeführt. In vielen Bundesstaaten und bei der Zentralregierung ist seit zwei Jahrzehnten ein bestimmter Anteil der frei werdenden Stellen offiziell den „Anderen Rückständigen Klassen“ (Other Backward Classes, OBC) vorbehalten. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Kastendiskriminierung findet sogar in modernen Eliteuniversitäten statt wie dem All-India Institute of Medical Services. Selbst hier müssen Dalits in den nur für sie vorgesehenen Gebäuden schlafen und essen.

Ebenso problematisch ist die Diskriminierung von Nichthindus, von der besonders die 13,5 Prozent Muslime im Land betroffen sind. Neben den Dalits und Adivasi sind sie Indiens ärmste und in Sachen Bildung und gesellschaftlicher Integration am weitesten abgeschlagene Minderheit. Nur 5 Prozent der Angestelltenposten in der öffentlichen Verwaltung sind Muslime. Damit sind sie deutlich unterrepräsentiert. Öffentliche und kommunale Dienstleistungen werden ihnen oft vorenthalten.

Zudem sind sie in den letzten Jahren immer mehr ins Visier des politischen Hinduismus geraten. Die radikale Hindupartei Bharatiya Janata Party (BJP) sowie die rechtsradikale Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) – ein streng hierarchisch und sektenartig organisierter Männerbund, der den Nazis nacheifert – geben den Muslimen die Schuld an der Teilung Indiens vor 63 Jahren und bezeichnen sie als die Fünfte Kolonne Pakistans und der Dschihad-Terroristen.

Immer wieder werden Muslime Opfer von Pogromen, wobei die Verantwortlichen in staatlichen und kommunalen Institutionen sich schon oft mitschuldig gemacht haben. Das letzte Pogrom ereignete sich im Jahr 2002 im Bundesstaat Gujarat. Damals wurden 2 000 Muslime mit Wissen und Duldung der dortigen BJP-Regierung verbrannt und niedergemetzelt. Die indische Zentralregierung nimmt den Kampf gegen die Hindu-Fundamentalisten nicht beherzt genug auf und lässt die Schuldigen der antimuslimischen Pogrome oft entkommen.

Auch die Sikhs sind vor der Gewalt der Hindunationalisten nicht sicher. Als im Jahr 1984 ein Sikh die damalige Premierministerin Indira Gandhi ermordete, kam es zu einer Hetzjagd auf Sikhs, die äußerlich an ihren kunstvoll gebundenen Turbanen zu erkennen sind. In jüngster Zeit häufen sich außerdem Übergriffe auf die christliche Minderheit (die 2 Prozent der indischen Bevölkerung stellt).

Der politische Hinduismus, dessen Anhänger 1948 in die Ermordung Mahatma Gandhis verstrickt waren, leugnet die ethnische, religiöse und Sprachenvielfalt Indiens. Seit der Gründung des RSS im Jahr 1925 beansprucht er die Vorherrschaft für Indiens hinduistische Mehrheit (die 80 Prozent der Bevölkerung stellt).

Bis in die 1980er-Jahre hinein fand die BJP trotz ihres populistischen Auftretens wenig Anklang. Dann trat 1990 der damalige BJP-Vorsitzende Lal Krishna Advani eine aggressive Kampagne für den Abriss einer Moschee aus dem 16. Jahrhundert in Ayodhya2 los. Diese sei, so seine völlig haltlose Behauptung, auf den Ruinen eines Hindutempels errichtet worden. Seine Partei gewann damit so viele Anhänger, dass sie von 1998 bis 2004 das Land in einer Koalition regieren konnte.

Für die BJP ist die Demokratie nichts weiter als ein Instrument, um an die Macht zu kommen. Von der Gleichheit der Bürger will sie nichts wissen. Sie erlangte nie mehr als 26 Prozent der Stimmen. Viele Hindus haben sich inzwischen von ihr abgewendet. Obgleich sie noch in sechs Bundesstaaten regiert, scheint ihr Niedergang unaufhaltsam.

Demokratisch, aber kein Rechtsstaat

Nach wie vor ringt der indische Staat um die Trennung von Staat und Religion. Diese wird zudem auch von den politischen Parteien – einschließlich der seit 50 Jahren regierenden oder mitregierende Kongresspartei – oft unterlaufen. Von einer konsequenten strafrechtlichen Verfolgung religiöser Hetzreden und religiös motivierter Verbrechen ist das Land noch weit entfernt.

Auch der in der Verfassung versprochene umfassende Pluralismus existiert nicht. Verletzungen von Bürgerrechten durch den Staat sind weit verbreitet. So dienen etwa 30 drakonische Gesetze unter anderem dem Kampf gegen den Terror. In Kaschmir und der Konfliktregion im äußersten Nordosten dürfen Soldaten mutmaßliche Aufständische erschießen, ohne irgendeine Art der Strafverfolgung befürchten zu müssen.

Indien ist kein Rechtsstaat. Der Polizeiapparat ist durch und durch korrupt. Wer Polizist werden will, muss etwa das Zwanzigfache eines durchschnittlichen Monatseinkommens an Bestechungsgeld aufbringen. Bei der Vorbeugung oder Aufklärung von Straftaten sind die Kriminalbeamten nicht sonderlich effizient, während Streifenpolizisten berüchtigt dafür sind, armen Straßenverkäufern, Rikschafahrern und Bettlern Geld abzupressen.

In Untersuchungsgefängnissen kamen zwischen 1994 und 2008 fast 17 000 Menschen ums Leben, mit deutlich ansteigender Tendenz seit dem Jahr 2000. Immer wieder kommt es zu außergerichtlichen Exekutionen, die fälschlich als „Feindkontakte“ und damit als Selbstverteidigung der Soldaten dargestellt werden. Polizei und staatliche paramilitärische Einheiten haben in letzter Zeit unter anderem in Kaschmir wiederholt hunderte unschuldiger Zivilisten verhaftet und ihnen pauschal „terroristische Umtriebe“ zur Last gelegt. Inzwischen nimmt die Polizei auch Menschenrechtsgruppen ins Visier. So saß der Arzt und Aktivist Binayak Sen zwei Jahre lang in Untersuchungshaft – auf Grund von Anschuldigungen, die als frei erfunden gelten.

Beunruhigend ist auch das militärische Vorgehen gegen die maoistischen Naxaliten im zentralindischen Chhattisgarh, in Jharkhand und Orissa im Osten, in Maharashtra im Westen und in Andhra Pradesh im Süden des Landes. Die Einsätze finden teils in rohstoff- und waldreichen Gegenden statt, wo große Abbau- und Industrialisierungsvorhaben geplant sind, und berauben die Armen ihrer Lebensgrundlage.

Derzeit versucht die Armee mit der Operation „Green Hunt“, für die 40 000 Soldaten rekrutiert wurden, aus weiten Landstrichen alle Naxaliten zu vertreiben. Zwangsläufig vergehen sich die Sicherheitskräfte auch an unschuldigen Zivilisten, denen Sympathien zu den Naxaliten unterstellt werden. In Chhattisgarh rüstet die dortige Regierung seit 2005 eine paramilitärische Miliz gegen die Maoisten auf – ihr Name „Salwa Judum“ heißt auf Gondi, einer in Mittelindien verbreiteten Sprache, sowohl „Friedensmission“ als auch „reinigende Jagd“.

Frauen werden in Indien systematisch diskriminiert – von der Ernährung über die Gesundheitsversorgung und Bildung bis hin zum Arbeitsmarkt. Geschätzte 40 bis 50 Millionen Frauen sind im 20. Jahrhundert durch den Rückgang weiblicher Geburten „verschwunden“. Die frühzeitige Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten ist gerade in wohlhabenderen Staaten wie Pandschab und Haryana weit verbreitet. Besonders die ehrgeizigen Mittelschichten halten an der Tradition der Mitgift beziehungsweise des Brautpreises fest, die in einem direkten Zusammenhang mit der Abtreibung weiblicher Föten steht. Zwar verbietet das Gesetz Abtreibungen und die frühzeitige Geschlechtsbestimmung – das ändert aber nichts an der Praxis. Ohne die zahlreiche und aktive Mitwirkung der Ärzteschaft wären die Millionen Abtreibungen weiblicher Föten nicht zu erklären. Dennoch mussten sich bisher weniger als zwanzig Ärzte deswegen vor Gericht verantworten.

Frauen sind in Indien seit Jahrhunderten häuslicher Gewalt ausgesetzt. Erst seit 2005 gibt es ein Gesetz, das sie davor schützen soll. In den Parlamenten und auf dem regulären Arbeitsmarkt sind sie deutlich unterrepräsentiert. Eine Gesetzesvorlage, die schon vor zwölf Jahren eingebracht wurde und nach der ein Drittel der Parlamentssitze Frauen vorbehalten sein sollen, konnte bis heute nicht verabschiedet werden. Sie scheiterte am Widerstand ultrakonservativer Hindus.

Seit 1991 folgt Indien mehr oder weniger blind den Rezepten neoliberaler Ratgeber und macht keinerlei Anstalten, ein soziales Sicherungsnetz zu schaffen. Die Politiker starren gebannt auf das Wirtschaftswachstum und fördern ohne Rücksicht auf die Umwelt das Konsumverhalten der Eliten. Der Ausstoß von Treibhausgasen steigt in Indien derzeit doppelt so schnell wie im weltweiten Durchschnitt.

Die Wirtschaft wächst, die Armut auch

Doch das gestiegene Bruttoinlandsprodukt konnte die Not im Land nicht mindern. 77 Prozent der Inder verdienen weniger als einen Dollar am Tag. Mancherorts wird das Elend noch dadurch verschlimmert, dass große Industrialisierungsprojekte den Anwohnern ihre letzten Lebensgrundlagen nehmen. Und die Einkommensschere zwischen den Superreichen und den Ärmsten der Armen geht immer weiter auf.

Dennoch suchen Indiens Regierende allenfalls halbherzig nach Mitteln und Wegen zur Armutsbekämpfung. Das einzige größere Beschäftigungsprogramm, das Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme, verspricht armen Familien auf dem Land wenigstens 100 Tage bezahlter Arbeit im Jahr (siehe nebenstehenden Beitrag von Rainer Hörig).

In Indien hat der Kampf zwischen den Privilegierten, die das herrschende System dominieren, und der Masse der Armen, die auf Würde und Anerkennung ihrer Rechte pochen, eine lange Tradition. Auch wenn die arme Bevölkerungsmehrheit nicht viel auf ihren Staat gibt, so weiß sie doch das demokratische System zu schätzen, über das sie wenigstens an den Urnen Zustimmung oder Missfallen zum Ausdruck bringen kann. Doch ihre Rechte und Hoffnungen finden in der unübersichtlichen Parteienlandschaft, die sich im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet hat, nicht genug Fürsprecher. Abgesehen von den Kommunisten spielt bei den Parteien in Indien die Klassenzugehörigkeit keine wichtige Rolle.

Die indische Politik ist traditionell links orientiert. Aber was davon angesichts der gegenwärtigen Kräfteverteilung unter den Parteien übrig geblieben ist, lässt sich kaum sagen, auch weil die Medien vor allem ihre eigene Wahrnehmung der Gesellschaft propagieren. Presse und Fernsehen werden von einer elitären neoliberalen Mittelschicht gelenkt und sind direkt von den Werbebudgets großer Firmen abhängig. Viele Medienkonzerne sind wichtige Mitspieler an der Börse und befeuern die Kurse mit frisierten Nachrichten vom Wachstum und den Segnungen der Globalisierung. Ein solcher Journalismus verzerrt die Realität und erzeugt Illusionen, die Politik und Öffentlichkeit beeinflussen. Abweichende Meinungen werden für kriminell erklärt und Rechte für die Armen ins Lächerliche gezogen.

Die indische Politik ist im Lauf der Jahre immer multipolarer geworden. Regionale Parteien schossen wie Pilze aus dem Boden, weil das Wahlvolk sich allein durch die großen Parteien (Kongress, BJP, Kommunisten u. a.) nicht mehr angemessen repräsentiert sah.

Ein interessantes Phänomen ist der Aufstieg von Kastenparteien wie der Dalit-Partei Bahujan Samaj Party. Sie ist in Indiens größtem Bundesstaat Uttar Pradesh (mehr als 170 Millionen Einwohner) mit den oberen Kasten eine bizarre und äußerst instabile Regierungskoalition eingegangen. Auch die „anderen rückständigen Klassen“ sind in Regionalparlamenten des Nordens und Südens stark vertreten. Obwohl mit Bündnissen zwischen Dalit- und OBC-Parteien wahrscheinlich Wahlen zu gewinnen wären, kommt es aber nicht dazu, weil in den Dörfern die unterschiedlichen Interessen oft hart aufeinanderprallen.

Die meisten indischen Parteien vertreten keine bestimmte Klientel, haben keine klaren Programme und sind nicht auf bestimmte inhaltliche Anliegen festgelegt. Was zählt, ist vor allem die Persönlichkeit des Parteivorsitzenden und dessen Ansehen. Der dynastische Faktor prägt die Politik auf allen Ebenen – am deutlichsten sieht man das an der Kongresspartei mit ihrer Nehru-Gandhi-Tradition. Auch die BJP hat einen wahren Kult rund um Varun Gandhi, den Vetter von Indira Gandhis Sohn Rahul, geschaffen.

Wo sich Parteien weder durch eine Wählerbasis noch durch klar umrissene politische Ziele voneinander unterscheiden, können alle möglichen Leute – sofern sie das nötige Kleingeld besitzen – eine Partei gründen, sei es aus Imagegründen oder weil es ihnen tatsächlich um ein ganz bestimmtes lokales Anliegen geht. Deshalb spielen Filmstars so eine große Rolle in der indischen Politik. Besonders im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu treten Politstars zugleich als Helden und Erlöser, Freunde oder Verbündete der Armen auf.

Noch können Politik und Gesellschaft in Indien einen Weg einschlagen, der mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit bringen würde. Doch dafür müssten die wesentlichen Ziele der Republik mit moralischer Integrität und politischer Klarheit vorangetrieben und die Masse der Armen stärker einbezogen werden.

Fußnoten: 1 Acht Prozent der Bevölkerung sind Adivasi; die Nachfahren der indischen Ureinwohner gehören zu den Ärmsten der Armen und leben zumeist bis heute von den Erzeugnissen des Waldes. 2 Nach Advanis Kampagne kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen im ganzen Land mit tausenden von Toten.

Aus dem Englischen von Herwig Engelmann

Praful Bidwai ist Journalist in Delhi und Fellow des Transnational Institute in Amsterdam. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Praful Bidwai