Gehen, kommen und nicht bleiben dürfen
Sie waren Sudetendeutsche, Juden, Sozialisten, tschechoslowakische Bürger: Eine Britin erinnert sich an ihre Eltern von Irene Bruegel
Als ich sieben war, hörte ich meine Mutter sagen: „Wenn Stalin stirbt, gehen wir wahrscheinlich nach Hause zurück.“ Danach betete ich stundenlang, Gott möge Stalin vor dem Tod bewahren.
Als Kind hatte ich ständig das Gefühl, ich müsste für immer Flüchtling bleiben, eine Fremde, die nie ganz dazugehört. Meine Eltern versuchten nach Stalins Tod 1953 nicht, in die Tschechoslowakei zurückzukehren, aber nicht meinetwegen. Das hatten sie nämlich schon 1945 getan und waren 1946/47 wieder nach England zurückgegangen, zusammen mit einer Gruppe deutscher Antifaschisten, die zum ersten Mal 1938 nach dem Münchener Abkommen ins britische Exil gegangen waren.
Mein Vater Johann Wolfgang Brügel war ein Sozialdemokrat aus Mähren. In den 1930er-Jahren war er persönlicher Sekretär von Dr. Ludwig Czech, dem Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten in der Tschechoslowakei, der zugleich Gesundheitsminister in der sozialdemokratischen Regierung unter Präsident Benesch (1935 bis 1938) war. Nach der Zerschlagung des tschechoslowakischen Staats arbeitete mein Vater für die Exilregierung in London und nach 1945 für die erste Prager Nachkriegsregierung. Während seines zweiten Londoner Exils schrieb er Bücher über die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen aus der Sicht eines Sozialdemokraten mit einem starken Widerwillen gegen jeden Nationalismus.
Meine Mutter war als Tochter einer deutsch-jüdischen Familie in Teplitz/Teplice aufgewachsen und hatte in Prag Medizin studiert. Sie integrierte sich weit stärker in die britische Gesellschaft als mein Vater und empfand ihr Leben in London weit weniger als Exil. Zu den tschechischen Deutschen, die nach 1945 zurückkehrten, gehörte auch ein Cousin meines Vaters, der Dichter Fritz Brügel.
Das Kernproblem dieser Rückkehrer war ihre Identität, und zwar nicht nur als subjektives Gefühl, sondern als eine von außen aufgezwungene ethnische Identität. Meine Eltern galten 1938/39 als „nicht deutsch genug“, weil sie Juden waren, nach 1945 wiederum waren sie „zu deutsch“ – als Sudetendeutsche. Beide Zuschreibungen lehnten sie gleichermaßen ab: „Sudetendeutscher“ war für sie ein Nazibegriff, der ihr Selbstgefühl so wenig beschrieb wie das Etikett „Jude“.
Die Erfahrung aufgezwungener Identität entspringt stets sehr persönlichen Erfahrungen von Loyalität und Verrat. Ich will hier nicht die Geschichte der „Vertreibung“ rekapitulieren, sondern nur aufzeigen, wie willkürlich damals die Grenzen zwischen loyalen tschechoslowakischen Bürgern und unzuverlässigen Sudetendeutschen gezogen wurden. Diese Willkür traf Exilanten aller Richtungen, die, weit entfernt vom Ort des Verbrechens, diese kollektive Bestrafung als doppelt bitter empfanden.
Lange bevor bei den Ethnologen der Begriff „hybrid“ in Mode kam, der eine fließende, changierende, dynamische Identität bezeichnet, war das Lebensgefühl meiner Eltern jedenfalls teilweise durch diese „Hybridität“ geprägt. Der Umgang mit Minderheiten wie die Beziehung zwischen Individuum und Nation war das Thema, das meinen Vater seit 1940 ständig beschäftigt hat. Seine tiefste Überzeugung lautete: „Die Nation ist für die Menschen da, nicht die Menschen für die Nation.“ Gleichwohl hatte er ein klares, aber differenziertes Gespür für ethnische Identität, und Minderheitenrechte waren für ihn Rechte von Völkern, nicht nur von Individuen.
Wann bedrohte Gruppen weggehen und wohin, hat meist mit der gefühlten Identität zu tun, die durch ethnische Zugehörigkeit, politische Prioritäten oder Berufe bestimmt wird, aber auch durch von außen auferlegte Einschränkungen oder Umdeutungen dieser Identität. Ein Vergleich zwischen meinem Vater, meiner Mutter und einem jüngeren Mann namens Herbert Lowit kann das illustrieren.
Die Identität dieser drei Menschen setzte sich aus denselben vier Elementen zusammen: Sie alle waren Sudetendeutsche, nichtreligiöse Juden, Sozialisten und tschechoslowakische Bürger. Meine Eltern und Lowit gehörten zu einer Gruppe von mehreren hundert Rückkehrern, die am Ende zum zweiten Mal ins Exil gingen. Für sie alle war die zweifache Rückkehr von 1945/46 – von England nach Mitteleuropa und wieder zurück – eine weitaus schwierigere Erfahrung als ihre erste Flucht nach Großbritannien, als man sie – als potenzielle Opfer des Naziterrors – in England noch mit offenen Armen aufgenommen hatte.
1945 ging mein Vater davon aus, dass die neue Regierung – wieder unter Präsident Benesch – denjenigen Sudetendeutschen, die loyal zur Tschechoslowakei gewesen waren, die Rückkehr erlauben würde. Noch Jahre später beschrieb er seine Ankunft in Pilsen, nach langen Jahren des Exils, als „eine fantastische Erfahrung“ – als „Rückkehr in die Heimat“. Wie Lowit und andere deutsch-jüdische Linke war seine große Hoffnung: „Jetzt werden wir endlich eine Welt aufbauen, in der ein neuer Krieg unmöglich ist, […] dass mit dem Hitlerismus ein Ende sei. Das war die Hauptsache.“ Sein Selbstgefühl, seine ganze Identität speiste sich aus dem Wunsch, getreu seiner austromarxistischen Familientradition an einem multinationalen Projekt mitzuwirken, das von all denen getragen wurde, die loyal zum tschechoslowakischen Staat gestanden hatten. Seine Motivation war, eine neue Gesellschaft aufzubauen und die Nachkriegsgenerationen von ihrem engstirnigen Nationalismus abzubringen.
Dabei war mein Vater ganz und gar nicht naiv. Kurz vor Kriegsende hatte er durchaus Zweifel, ob ein friedliches, demokratisches Zusammenleben von Deutschen und Tschechen noch möglich sein würde. Die Gruppe, mit der er im Juni 1945 nach Pilsen flog, bestand aus „alten“ Karrierebeamten und Kommunisten, die sich drei Tage lang anschwiegen. Mein Vater geriet wie üblich in eine Vermittlerrolle, weil er Deutsch und Tschechisch sprach und mit einigen der Kommunisten ganz gut konnte.
Allerdings war mein Vater in seiner Entscheidung zur Rückkehr auch nicht völlig frei. Als Jurist und Journalist hatte er in England nur begrenzte Berufsaussichten, aber mit einem kleinen Kind und einer schwangeren Frau musste er irgendwie Geld verdienen. Dafür schien die Rückkehr die einzige Chance zu bieten. Für meine Mutter war die Rückkehr dagegen die unfreie Entscheidung einer abhängigen Ehefrau, die ihr zweijähriges Kind in einem Waisenhaus zurücklassen musste. „Ich war innerlich erstarrt wie eine Statue, das war stärker als alles andere“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Sie konnte sich in Prag nicht freuen – trotz des Wiedersehens mit alten Freunden und Verwandten, die überlebt hatten, und obwohl sie in Prag eine bessere Wohnung hatte, als sie je wieder haben sollte.
Auch Lowit hatte kaum eine andere Wahl. Er kam mit seiner tschechischen Armeeeinheit zurück, die anschließend aufgelöst wurde. Aber wie mein Vater freute er sich auf die Rückkehr, zumal er in der Armee ziemlich fließend Tschechisch gelernt hatte. Er versuchte in Liberec (Reichenberg), der Stadt seiner Jugend, alte Kontakte neu zu knüpfen, und zwar – wie meine Mutter – in den verschiedenen Facetten seiner „hybriden“ Identität: als Jude wie als sudetendeutscher tschechoslowakischer Bürger. Mein Vater ging nach Brno (Brünn), Teplice (Teplitz) und Jablonec (Gablonz) zurück, aber weniger als Jude, der etwas über das Schicksal seiner Verwandten erfahren wollte, als in der Rolle eines journalistischen Beobachters der Nachkriegsentwicklung.
Der wichtigste Unterschied zwischen diesen drei Rückkehrern lag in ihren Erfahrungen als Deutschsprachige und in ihrer Reaktion auf das, was sie über das Schicksal ihrer alten Genossen und Landsleute erfuhren.
Meine Mutter sagte anfangs, sie wären als Deutsche keinen Vorurteilen ausgesetzt gewesen und als Sozialdemokraten auch keinem Druck, das Land zu verlassen.
Lowit hatte aufgrund seines Dienstes in der Exilarmee mehr Verständnis für die Wut der Tschechen, als mein Vater oder meine Mutter je zeigten. Lowit war sehr kritisch gegenüber den Sudetendeutschen, die ihm, als einem Soldaten der tschechischen Armee, feindseliger begegneten als die meisten Menschen im besiegten Deutschland. Ein- oder zweimal legte er sich heftig mit Sudetendeutschen an, die nie mit den Nazis sympathisiert haben wollten und sich als „unschuldige Opfer“ bemitleideten. Lowit half von da an nur noch ehemaligen aktiven Antifaschisten. Die anderen erinnerte er daran, dass sie schon lange gewusst hätten, was ihnen am Ende bevorstand. Mit den deutschen Flüchtlingen, die sich damals aus Schlesien nach Böhmen in Sicherheit brachten, konnte er sich identifizieren – als Flüchtling, der er selber gewesen war, nicht als Deutscher.
Mein Vater notierte, dass gleich bei seiner Ankunft im Ministerium für Wiederaufbau der Minister sich über einen Deutschen als Stellvertreter beklagte. Sein Chef überließ ihm keinen eigenen Verantwortungsbereich und startete immer wieder kleine Intrigen. Dabei sprach mein Vater fließend Tschechisch und hatte zwanzig Jahre für den tschechoslowakischen Staat gearbeitet. Er erklärte sich das Verhalten seines Ministers damit, dass der ein eingefleischter tschechischer Nationalist war und zudem von Gewissensbissen geplagt, weil er sich bei der deutschen Besatzungsmacht angebiedert hatte.
Jüdischer Anwalt der Sudetendeutschen
Nicht nur aus persönlichen Gründen war mein Vater verbittert, sondern auch wegen der allgemeinen Behandlung der deutschen Beamten, die untereinander nicht einmal Deutsch sprechen durften. Deshalb sah er sich bald – innerhalb wie außerhalb seiner Funktion im Ministerium für Wiederaufbau – in der Rolle des Anwalts, der sich für die verfassungsmäßigen Rechte der Sudetendeutschen einsetzte. Meine Mutter zeigte für diese Rolle zwar Sympathie, aber keinerlei Begeisterung. Sie erzählte mir später, wie mein Vater eine deutsche Parlamentsangestellte namens Marie Kahler aus dem Gefängnis holte. Die Frau war am 5. Mai 1945 beim Einkaufen verhaftet worden, weil Nachbarn ein Auge auf ihre Wohnung geworfen hatten. Sie zog für einige Zeit bei meinen Eltern ein und musste sich alle zwei Wochen bei der Polizei melden, die sie nach Deutschland abschieben wollte.
Meine beiden Eltern haben ihre Rückkehr nach Prag so unterschiedlich erlebt, weil meine Mutter ihr „Deutschsein“ ganz anders empfand. Für sie war das nur ein Etikett, mit dem sie keinerlei Emotionen verband. Obwohl sie aus der rein deutschen Stadt Teplitz nahe der deutschen Grenze stammte, war sie unglaublich stolz auf ihren tschechischen Pass, trug zuweilen tschechische Volkstracht und liebte die tschechische Küche. In ihrer engeren Familie gab es tschechische Muttersprachler, und sie selbst war mit der tschechischen Literatur vertraut.
Mein Vater, der in Brünn aufgewachsen war und Tschechisch nicht nur viel besser sprach, sondern auch schriftlich beherrschte, fühlte sich weit mehr als Deutscher, vielleicht weil er aus einer kleineren deutschsprachigen Enklave stammte und älter war. Dass er so sehr auf seinem Recht auf die deutsche Nationalität innerhalb eines tschechoslowakischen Staats bestand, war für meine Mutter durchaus irritierend. Seine deutsche Identität war zwar extrem individualistisch ausgeprägt, aber sie war das Zentrum seines Lebensgefühls. Ich glaube im Rückblick, dass er sich als einen Deutschen betrachtete, der von der kulturellen Blütezeit des jüdischen Prag und Wien zehrte, wie er sie in seiner Jugend gekannt hatte.
Meine Mutter dagegen empfand ihr Verhältnis zu den Deutschen nicht als politische, sondern als vor allem persönliche Angelegenheit. Mein Vater hat nie begriffen, dass sie eine tiefe Angst in sich trug: die Angst, sie hätte ähnliche Gefühle entwickelt können wie eine ihrer Schulfreundinnen, die sich 1933 als glühenden Nazi-Anhängerin demonstrativ mehrere Bänke von ihr weggesetzt hatte. „Ich stammte wie sie aus der Mittelklasse“, hat mir meine Mutter einmal anvertraut. „Ich war genauso idealistisch und kann nicht sicher sagen, dass ich der Nazibewegung nicht verfallen wäre, hätte ich die Chance dazu gehabt.“ In ihrem Tagebuch hielt sie 1933 erleichtert fest: „Da ich Jüdin bin, kann man mir nicht vorhalten, an den schrecklichen Ereignissen beteiligt zu sein, die jetzt in Deutschland ablaufen.“
Auf die Situation in Prag 1946/47 reagierten beide emotional. Meine Mutter kämpfte wie so viele mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, während andere den Tod fanden. Dagegen dominierte bei meinem Vater das Gefühl, von Benesch verraten worden zu sein, als dieser im Juni 1946 die antifaschistischen Deutschen, die für die Tschechoslowakei gekämpft hatten, im Stich ließ. Obwohl er das Dilemma von Benesch zum Teil verstand, konnte er sich nie damit abfinden, dass der Regierungschef die Opfer der deutschen Antifaschisten nicht anerkennen wollte.
Herbert Lowit war als Englischlehrer bei einer US-Firma in Prag angestellt, bis die Sowjetunion die Tschechen zwang, ihre Einbeziehung in den Marshallplan zurückzuweisen. Danach gab er den Plan auf, in Prag zu bleiben, obwohl er dort das Leben aufregender und das Essen besser fand als in Yorkshire. Aber auch auf der Insel waren seine Arbeitsmöglichkeiten 1947 keineswegs glänzend. Als er 1948 nach dem Putsch der Kommunisten in Prag1 nach Großbritannien zurückkam, wollte man ihn Arbeit in einem Kohlebergwerk zuweisen. Am Ende kam er in einer Fabrik unter. Der Kontrast war herb: 1938 hatten die sudetendeutschen Flüchtlinge in Großbritannien – wegen des schlechten Gewissen über das Münchener Abkommen – große Sympathien erfahren. 1947 dagegen betrachtete man sie eher als Wirtschaftsflüchtlinge denn als betrogene und schutzbedürftige Menschen. Nach dem Putsch von 1948, vor allem nach den Slansky-Prozessen2 wurde das langsam wieder anders: Jetzt waren sie Opfer des Stalinismus.
Der zweite Anlauf in England war auch für meine Eltern nicht einfach. Meine Mutter bekam ihre erste feste Stelle nur mit Hilfe eines Labour-Ministers und weil sich für diese Arbeit kein britischer Arzt fand. Mein Vater lebte von gelegentlichen Aufträgen als Rechtsanwalt und Journalist, die er seinen Kontakten mit tschechischen Landsleuten verdankte. Erst jetzt wurden meine Eltern zu richtigen Flüchtlingen, die mit Vorurteilen und Misstrauen zu kämpfen hatten, wie sie ihnen während ihres ersten Exils nicht begegnet waren. Auch das erklärt vielleicht, warum ihre Identifikation mit der Tschechoslowakei nie ganz erlosch. Als im August 1968 die russischen Panzer durch Prag rollten, warf meine Mutter mit ihren 54 Jahren Steine gegen die sowjetische Handelsmission in London. Und nach 1989 reiste sie jeden Sommer in einen der böhmischen Kurorte, wie es früher ihre eigenen Großmütter getan hatten.
Es war die Rückkehr in eine Region, deren deutsche Bevölkerung in den 1930er-Jahren keineswegs geschlossen für die Zugehörigkeit zum Dritten Reich votiert hatte. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten verteidigten bis zum Schluss den demokratischen Staat. Bei den Wahlen von 1935, als schon 62 Prozent der Sudetendeutschen für die nazistische Henlein-Partei stimmten, hatten sie immerhin noch ein Drittel der deutschsprachigen Wähler hinter sich. Und im Mai 1938 forderten sie die jungen Sudetendeutschen zum Eintritt in die tschechische Armee auf. Sechs Monate später, nach dem Münchener Abkommen, unterstützten sie die Demonstrationen, Streiks und Fabrikbesetzungen sudetendeutscher Arbeiter gegen die Invasion der Wehrmacht.
Doch diese Solidarität wurde durch die nationalistische Reaktion der Tschechoslowakei untergraben. Als die Aktivisten der deutschen Sozialdemokraten im Oktober vor der Nazi-Armee in Richtung Prag flohen, wurden sie von der tschechischen Polizei an der neuen Grenze zwischen Deutschland und dem böhmischen Rumpfstaat abgefangen und ins Niemandsland zurückgejagt. Sie lebten dann in den Wäldern, bis ihr mitgebrachter Proviant ausging und sie von der Caritas notdürftig versorgt und untergebracht wurden. Einige von ihnen wurden direkt an die Gestapo ausgeliefert, „heim ins Reich“, trotz ihrer Loyalität zum tschechischen Staat. Auf tschechischer Seite gab es auch Proteste gegen diese Praxis, zum Beispiel von der Journalistin Milena Jesenska. Diese Politik der Prager Regierung nach dem Münchener Abkommen war für meine Eltern ein schwieriges Thema. In ihren Erinnerungen stellten sie deren Motive als rein ökonomische dar: In der „Rest-Tschechei“ herrschte Wohnungsmangel, und man wollte auch keine deutschen Schulen finanzieren. Ich glaube, dass sie ihr eigenes Unbehagen über das Verhalten des tschechischem Staats verdrängen wollten. Dabei war mein Vater direkt betroffen: Nachdem er einen Bericht über die Lage der sudetendeutschen Antifaschisten verfasst hatte, verlor er umgehend die Zuständigkeit als Flüchtlingsbeauftragter der tschechischen Regierung. Die Erklärung lautete, das sei jetzt keine Position mehr für einen Deutschen. Mein Vater war „am Boden zerstört“.
Grundsätzliche Zweifel an der Loyalität nicht-tschechischer Bürger gab es auch beim Militär, was auch mit dem traditionellen Antisemitismus der tschechisch-nationalistischen Armee zu tun hatte. In den mit den Alliierten kämpfenden Streitkräften waren Juden und Sudetendeutsche vor allem bei der Luftwaffe diskriminiert. Es ist kein Zufall, dass Justizminister Drtina nach Kriegsende meinte sagen zu müssen, dass „die meisten der aus Großbritannien zurückkehrenden Soldaten ihre jüdischen Gesichtszüge nicht verleugnen“ könnten. Auch hier hatten Nichttschechen also das Problem, dass sie als illoyal galten, wenn sie sich nicht zur Armee gemeldet hatten, umgekehrt aber ihr freiwilliger Kriegsdienst keineswegs garantierte, dass sie im Nachkriegsstaat willkommen waren.
Die tschechischen Kommunisten waren zunächst gegen systematische Vertreibungen gewesen. Als jedoch die KP unter sowjetische Kontrolle geriet, erfand sie für die Rückgabe der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft an sudetendeutsche Antifaschisten ein neues Kriterium: Sie mussten aktive Widerstandskämpfer gewesen sein. Was bedeutete das für die Emigranten?
In den ersten Kriegsjahren hatte die Londoner Exilregierung Benesch bei den Diskussionen über die Zukunft der Sudetendeutschen zunächst nur diejenigen im Auge, die sich die deutsche Staatsbürgerschaft verschafft oder im Krieg einer „deutschen“ Organisation angeschlossen und sich damit eine bessere Verpflegung und andere Privilegien gesichert hatten. Wer ins Exil gegangen war, blieb also von den Vertreibungsplänen zunächst unberührt. Das änderte sich, als sämtliche Bürger, die sich bei der Volkszählung in der Tschechoslowakei von 1930 als Deutsche deklariert hatten, automatisch ihre Staatsbürgerschaft verloren.
Den Exilanten blieb damit nur der Rettungsanker einer „aktiven Widerstandstätigkeit“. Doch ein antifaschistisches Zertifikat bekam man nur von lokalen Ausschüssen (der in Prag wurde zum Beispiel von meinem Vater organisiert), in denen häufig stalinistische Parteileute das Sagen hatten. Zudem konnte es passieren, dass sie Beweise nicht akzeptierten. Die meisten der aus dem Exil Zurückgekehrten verzichteten auf einen Antrag, und selbst viele im Land gebliebenen Antifaschisten resignierten und verließen ihre Heimat. Paradoxerweise waren tschechische Stellen aber zugleich bemüht, bestimmte Leute mit unentbehrlichen Qualifikationen aus dem Exil zurückzuholen. Mein Vater wie meine Mutter (als Ärztin) wurden von der einen Prager Behörde zur Rückkehr gedrängt, während eine andere ihnen genau dies verwehrte.
Von den Sudetendeutschen, die ins britische Exil gegangen waren, kehrten nach dem Krieg 80 Prozent der Insel den Rücken. Die meisten gingen allerdings, wie der Sozialdemokrat Wenzel Jaksch, nach Deutschland, und hier meist in die amerikanische Zone, wo auch die große Mehrheit der aus der Tschechoslowakei vertriebenen Sudetendeutschen Aufnahme fand.
Von den in der Tschechoslowakei gebliebenen Sudetendeutschen erlebten viele, die während des Krieges die Partei der Tschechen gewählt und damit viele Nachteile – wie kleinere Essensrationen – gehabt hatten, dass sie nach dem Krieg dennoch als Deutsche verfolgt wurden. Mein Vater hatte zwei Cousins und mehrere Freunde, die blieben. Als ich sie in den frühen 1960er-Jahren in Prag besuchte, begannen sie zu flüstern, wenn sie mit mir Deutsch sprachen. Ihre Kinder wussten kaum etwas über ihre deutsch-jüdischen Wurzeln, aber sonst ging es ihnen nicht schlecht.
Die Kommunisten waren diejenige Gruppe, von der nach 1945 die meisten aus dem „Westen“ zurückkamen, einfach weil sie den Sozialismus aufbauen wollten. Getreu der Parole, dass „Arbeiter kein Vaterland kennen“, hatten sie stets der tschechischen KP angehört, während die deutschen Sozialdemokraten oder Liberalen in eigenen Parteien organisiert waren. Dennoch wurden diese Kommunisten zum Aufbau eines deutschen sozialistischen Staats in die damaligen sowjetischen Besatzungszone geschickt und nicht in ihrer tschechischen Heimat eingesetzt. Ihr Schicksal hat meine Mutter in ihren Memoiren beschrieben: „Man kommandierte sie von London nach Prag zurück, und dort merkten sie, dass die Partei für sie den direkten Transport nach Ostdeutschland organisiert hatte. In Prag durften sie sich nicht einmal umsehen, stattdessen mussten sie direkt nach Dresden und Leipzig fahren, um dort Parteiarbeit zu leisten.“
Vertriebene mit Parteiauftrag
Diese etwa 300 Sudeten-Kommunisten, die sogenannte Beuer-Gruppe, kamen in ein völlig fremdes Land, in dem sie weder Verwandte noch Freunde hatten und umso mehr Probleme, eine ihrer Qualifikation angemessene Arbeit zu finden.3 Selbst die KP-Kader, die nicht ins westliche Exil gegangen waren, empfanden den Abtransport in die spätere DDR nur selten als „Heimkehr“. Ein alter Kommunist, den man mit seiner Schwester von Eger nach Mecklenburg zwangsverschickt hatte, erzählte mir später, dass sie dort große Probleme hatten, weil sie nicht das lokale Idiom sprachen und als „Fremde“ galten. Aber als Parteimitglied hatte er die einheimischen Bauern von den Vorzügen der Kollektivierung zu überzeugen.
Dieses Beispiel veranschaulicht das Problem der Identität, das meinen Vater Zeit seines Lebens beschäftigt hat. Für den Verlust von Identität war nicht entscheidend, ob man eine brutale Vertreibung erlebt hatte. Das Entscheidende war der Verlust des Gefühls, einen angestammten Platz in einem in der Geschichte verwurzelten Ort zu haben. Selbst für einen Kommunisten konnte die neue (ost)deutsche Umgebung – allen Parteiparolen zum Trotz – die verlorene Heimat nicht ohne Weiteres ersetzen.
Von den tschechoslowakischen Flüchtlingen in Großbritannien hatten etwa 80 Prozent einen jüdischen Familienhintergrund, doch die meisten waren nicht religiös und sehr stark assimiliert. Von diesen jüdischen Emigranten kehrten nur etwa 12 Prozent zurück. Da die meisten ja „nur“ ihre Haut gerettet hatten, wurden sie nicht als aktive Antifaschisten anerkannt und damit von der Rückkehr ausgeschlossen, obwohl Jan Masaryk4 versprochen hatte, dass man die Juden des Sudentenlands nicht wie die übrigen Sudetendeutschen behandeln würde.
Die meisten Juden wollten nicht zurückkehren, weil sie über Familienkontakte und jüdische Organisationen wussten, dass sie in der neuen Tschechoslowakei nur schwer wieder Fuß fassen konnten. Entscheidend war natürlich, dass die meisten ihrer Verwandten von den Nazis ermordet worden waren und die anderen in aller Welt zerstreut lebten. Typisch ist die Äußerung einer Emigrantin, deren Mann in Theresienstadt umgekommen war: „Ich kann doch nicht allein in ein Land zurückgehen, wo ich die Sprache nicht verstehe.“ Und der 34-jährige Chirurg Werner Kirchenberger, der eigentlich zur Rückkehr entschlossen war, fuhr dann doch nicht, als er hörte, dass die Frau eines überlebenden Cousins als Deutsche festgenommen worden war.
Solche Berichte machten damals unter den Emigranten in England schnell die Runde. Vera Gissing, die ihre Eltern im Holocaust verloren hatte, schildert in ihren Memoiren die antisemitischen Anfeindungen, die sie nach 1945 in Prag von Lehrern und Mitschülern erdulden musste. Und meine Mutter schrieb über das Schicksal von Professor Hans Kohler, der mit meinem Vater befreundet war: „Er war mit einer Nichtjüdin verheiratet und war ein halbes Jahr in Theresienstadt gewesen. Kaum war er nach der Befreiung von dort zurückgekommen, forderte man ihn auf, nach Deutschland zu gehen, mit höchstens 40 Kilo Gepäck. Er schrieb den Behörden zurück, dass die Deportation nach Theresienstadt besser gewesen sei, da habe er 60 Kilo mitnehmen dürfen.“
Viele Rückkehrer mussten erleben, dass sich einstige Freunde nicht mehr erinnerten, dass man ihnen Wertsachen zur Aufbewahrung gegeben hatte. Ihre Wohnungen, wie die von vielen anderen in den Sudeten, waren von Nachbarn oder Zuwanderern aus dem Osten übernommen worden waren, die nicht vorhatten, sie zurückzugeben. Insgesamt sind nur wenige sudetendeutsche Juden in der Tschechoslowakei geblieben. Eine Ärztin namens Ungerova, die mit einem tschechoslowakischen Pass nach London emigriert war, kehrte 1945 zurück, um Überlebende von Theresienstadt zu betreuen. Ihr wurde die tschechische Staatsbürgerschaft mit der Begründung verweigert, sie habe an der Deutschen Universität in Prag studiert (wie meine Mutter). Sie beging Selbstmord. Ein Jude, der in der Royal Air Force gedient hatte, (nachdem er in der tschechischen Luftwaffe keine Pilotenausbildung bekam), sollte nach seiner Rückkehr zur „Umerziehung“ in ein slowakisches Bergwerk geschickt werden. Er zog es vor, sich zu Fuß nach Deutschland durchzuschlagen.
Von den Juden, die in Großbritannien ihr erstes Exil gefunden hatten, ging etwa die Hälfte wieder dorthin zurück, darunter meine Eltern und Lowit, der Philosoph Ernest Gellner, der später wichtige Bücher über den Nationalismus schrieb, und der Architekt und Stadtplaner Walter Bor. Andere Rückkehrer wanderten noch vor 1948 mit Unterstützung der tschechischen Behörden nach Palästina aus. Die Juden, die letztlich blieben, weil sie zur Assimilation in die tschechische Kultur bereit waren, wollten keine Nachbarn haben, die irgendwie an den Exzessen der Nazis beteiligt waren, oder hätten beteiligt sein können. Die meisten von ihnen ließen sich daher in Prag nieder.
Die Erfahrungen dieser Exilanten stellen jeden essenzialistischen Begriff von Identität als unveränderlichem Wesensmerkmal infrage und zeigen, wie staatliche Macht neue Identitäten prägen kann – im Guten wie im Bösen. Heute gibt es nur noch ganz wenige richtige „Sudetendeutsche“. Aus ihnen und ihren Nachkommen sind andere geworden. Ihre Herkunft mag für sie nicht bedeutungslos sein, aber nur als eines von vielen Elementen ihrer Identität. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sie es als andere in ihrer Umgebung zu etwas gebracht haben. Die Angst, für immer Flüchtling zu bleiben, ist also nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Chance zu einem neuen Aufbruch, zu einer Offenheit, die Ehrgeiz und Unternehmergeist freisetzen kann. In dieser Hinsicht gibt es allerdings einen gewaltigen Unterschied zwischen Menschen wie mir, mit dem Familienschicksal des Exils, und denen mit dem Familienschicksal des Genozids.
In der Tschechoslowakei waren diejenigen, die aus dem Exil zurückkamen, und diejenigen, die im Lande geblieben waren, schlicht unfähig, die Erfahrungen der jeweils anderen nachzuvollziehen – selbst dann, wenn sie derselben Familie angehörten. Beide Gruppen wollten sich vor der Realität der anderen abschirmen. Das führte zu einem schrecklichen Kreislauf konkurrierender Opferrollen, mit dem Ergebnis, dass sich die Schuldigen als Opfer sehen und daher diejenigen attackieren, die ihre Schuldgefühle verursachen.
Es verschlägt einem den Atem, wenn man nachliest, wie aus der Heimat fliehende Sudetendeutsche sich vor der Einsicht verschlossen, dass ihre jüdischen Nachbarn vernichtet wurden, weil sie selbst das Vernichtungsregime – zumindest – wohlwollend geduldet hatten. Ganz zu schweigen von den deutschen Statistiken, die das Ausmaß der Vertreibung dokumentieren wollen, indem sie die Anzahl der deutschsprachigen Bürger der Tschechoslowakei von 1930 mit der von 1950 vergleichen. Die Zahlen von 1930 schließen natürlich all die sudetendeutschen Juden ein, die den Holocaust nicht überlebt haben.
Ausgewählt und aus dem Englischen übersetzt von Niels Kadritzke
Irene Bruegel (1945–2008) war Mitbegründerin der Friedensorganisation Jews for Justice for Palestinians und Professorin für Stadtentwicklung an der South Bank University, London. © Le Monde diplomatique, Berlin