Wie groß ist Kurdistan?
Am Ausgang des Territorialstreits entscheidet sich die Zukunft des Irak von Joost R. Hiltermann
Die Kluft zwischen dem arabischen und dem kurdischen Teil des Irak ist nichts Neues. Sie geht zurück auf die angeblichen Autonomieversprechungen, die am Ende der osmanischen Herrschaft gemacht, dann aber nicht erfüllt wurden. Nach der US-amerikanischen Invasion von 2003 wurden die seit langem geführten Klagen der Kurden gegen ein zentralisiertes Regierungssystem lautstark artikuliert. Angesichts der aktuellen Schwäche der Regierung in Bagdad wollen die kurdischen Führer im Nordirak die Gunst der Stunde nutzen und ihren Vorteil ausspielen.
Aber das Blatt könnte sich wieder wenden. Der Zentralstaat beginnt sich langsam neu zu konstituieren. Die finanzielle Basis dafür ist die Aussicht auf erhöhte Ölexporte, wenn die ausländischen Unternehmen, an die Bagdad in den letzten Monaten verstärkt Förderrechte verkauft hat, ihre Tätigkeit aufnehmen. Damit rückt der Zeitpunkt näher, an dem die politische Führung der Kurden und die Zentralregierung vor einer entscheidenden Alternative stehen: Entweder sie finden zu einer Einigung, oder sie stürzen sich in den nächsten blutigen Bürgerkrieg.
Viele Iraker lehnen die Rede vom „arabisch-kurdischen Konflikt“ ab. Und in gewisser Weise haben sie recht. Nicht nur dass Araber und Kurden in gemischten Straßen, Wohnvierteln und Städten leben, häufig heiraten sie auch untereinander, und im beruflichen Leben fühlen sie sich hauptsächlich als Iraker.
Das gilt allerdings nur für die urbanen Regionen. Jenseits der Städte, im bergigen Norden, der sich bis zu den Grenzen der Türkei und des Iran erstreckt, wird die irakische Identität immer schwächer und weicht einem ausgeprägten kurdischen Nationalismus. Und der sieht sich im Kampf gegen den ethnischen arabischen Nationalismus, der sich mit dem Gewand der irakischen Einheit kostümiert. Der kurdische Nationalismus stellt also die Legitimität der postosmanischen Ordnung infrage, mit der er sich nie abgefunden hat, und beschwört das in vergangenen Jahrhunderten vorherrschende Ideal eines „Nationalstaats“, in dem Staatlichkeit und ethnische Zugehörigkeit zusammenfallen.
Alle wollen das Öl von Kirkuk
Der Streit geht vorerst um den genauen Verlauf der Grenze zwischen dem kurdischen Teil des Irak und dem Rest des Landes mit seiner hauptsächlich arabischen Bevölkerung (und vielen Minderheitengruppen). Nach Auffassung der Kurden sollte diese Grenze entlang der Hamrin-Berge verlaufen, der ersten Hügelkette, die man auf der Fahrt von Bagdad in nordöstlicher Richtung nach gut hundert Kilometern erreicht.
Für die Araber hingegen – beziehungsweise für ihre politische Führung in Bagdad – ist die Grenze identisch mit der Verwaltungsgrenze zwischen den drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimanija und dem restlichen Irak, die von früheren politischen Führungen vereinbart wurde. Diese Übereinkunft war das Resultat eines Ende der 1960er-Jahre unternommenen Versuchs der Kurden, eine Schwäche der Zentralregierung auszunutzen. Damals konnte sich die Baath-Partei nur mühsam an der Macht halten und suchte nach Verbündeten. 1970 unterzeichnete das Regime mit dem Kurdenführer Mustafa Barzani (dem Vater des heutigen Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan) ein Abkommen, das für Gebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit künftig eine begrenzte Selbstverwaltung vorsah. Doch dieses Abkommen wurde vier Jahre später hinfällig, als Barzani ein in Bagdad beschlossenes Autonomiegesetz ablehnte.
Dennoch erlangte die Grenze der kurdischen autonomen Region, die durch dieses Gesetz geschaffen wurde, eine gewisse Legitimität, ebenso wie die Vorstellung, dass den Kurden das Recht auf Selbstverwaltung innerhalb des Iraks zusteht.1
Nach der Massenrebellion im Süden und in den kurdischen Provinzen, die Anfang März 1991 nach dem verlorenen Golfkrieg den Sicherheitsapparat des Baath-Regimes zerschlagen hatte, war die irakische Armee zunächst wieder in weite Teile Kurdistans eingerückt. Doch im Oktober 1991 zog sie sich wieder auf eine Verteidigungslinie zurück, die weitgehend, aber nicht überall mit der 1970 vereinbarten Grenze der kurdischen Autonomieregion identisch war und seitdem „Green Line“ genannt wird.
Diese Green Line blieb bis zur US-Invasion von 2003 bestehen. Nach Beginn der militärischen Operationen im März überquerten kurdische Kräfte die Grenze und eroberten Städte und Landstriche, die sie als historischen Bestandteil von Kurdistan betrachteten, rückten aber nicht ganz bis zu den Hamrin-Bergen vor.
Über die Green Line herrschte auch nach 2003 noch ein gewisser Konsens. Sie wurde zur legitimen Grenze Kurdistans, sowohl in der Interimsverfassung von 2004 als auch in der endgültigen Verfassung von 2005. Was jenseits dieser Linie lag, wurde als „umstrittene Territorien“ definiert, deren endgültiger Status nach dem Verfassungstext bis Ende 2007 in einem lokalen Referendum bestimmt werden sollte.
Dieses Referendum hat jedoch nie stattgefunden und die kurdischen Führer haben nach dem Verstreichen der verfassungsmäßigen Frist begonnen, die Legitimität der grünen Linie zu bestreiten. Sie geben vor, nicht zu wissen, wo sie überhaupt verläuft (obwohl es gute Karten aus den 1990er-Jahren gibt, die von den Kurden selbst verbreitet wurden). Und neuerdings benutzen sie den Namen sogar für eine andere Linie, womit sie es geschafft haben, die US-Truppen irrezuführen, die nur minimale Kenntnisse über die Region und ihre Geschichte haben. Diese andere Linie wird auch „Trigger Line“ genannt und stellt heute die De-facto-Grenze dar, die auch die Truppen der irakischen Armee und die kurdischen Streitkräfte (die früheren Peschmerga) trennt. Sie verläuft ein gutes Stück südlich der eigentlichen Green Line und umfasst auch größere Teile der umstrittenen Gebiete einschließlich der Stadt, die im Zentrum der Auseinandersetzungen steht: Kirkuk.
Dass die Festlegung der Grenze zwischen Kurdistan und dem restlichen Irak aus kurdischer Sicht ein so wichtiges Thema ist, hat historische und emotionale Gründe – aber auch eine weitere Ursache, die unter der Erde liegt. In den umstrittenen Gebieten und insbesondere bei Kirkuk gibt es bedeutende Öl- und Erdgasvorkommen, die für die Kurden und ihr Streben nach staatlicher Selbständigkeit von größtem Wert sind. Die Zentralregierung in Bagdad dagegen wird auf diese Vorkommen niemals freiwillig verzichten, weil sie kein ökonomisch starkes Kurdistan will – und zwar weder als autonome Einheit innerhalb des Iraks noch als unabhängigen Staat.
So wie die kurdischen Politiker in ihrer politischen Rhetorik die Green Line verlegt haben, so rechnen sie inzwischen auch die Ölvorkommen der Region Kirkuk in die offiziellen Angaben über ihre Ölreserven hinein. Die haben sich damit vervielfacht und gehen weit über die begrenzten Ressourcen hinaus, die im kurdischen Territorium nördlich der ursprünglichen Green Line nachgewiesen sind.
Wenn zwei Nationalismen frontal aufeinanderprallen, ist eine Versöhnung die historische Ausnahme. Doch wenn man in Kirkuk mit Kurden, Arabern oder Turkmenen spricht, stellt man rasch fest, dass sie in vieler Hinsicht durchaus derselben Meinung sind und dass sie sogar zu formellen Abmachungen kommen können. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass sie durchaus bereit sind, ihre lokalen Angelegenheiten gemeinsam, mittels einer ausgehandelten Machtteilung, in die Hand zu nehmen.
Aber leider gibt es Akteure außerhalb der Region, die dank ihres übermäßigen Einflusses auf die lokalen Politiker alle Bemühungen um Versöhnung vereiteln können – und werden. Führende Politiker in Bagdad und Erbil sehen den arabisch-kurdischen Zwist als ein Nullsummenspiel, in dem die örtlichen Akteure nur kleine Nummern darstellen, die es zu manipulieren und gegeneinander auszuspielen gilt. Und mit dem zusätzlichen Faktor der Turkmenen, die in der Türkei eine nervöse Schutzmacht haben, wird das Spiel noch komplizierter.
Sowohl in Bagdad als auch in Erbil arbeiten die Politiker an einem nationalen Projekt, dessen Erfolg von den relativen Kräfteverhältnissen zwischen den verschiedenen Akteuren abhängt. Aktuell wittern die Kurden ihre Chance und erhöhen den Druck. Und sie haben starke moralische Argumente, waren sie doch über Jahrzehnte einer Politik der Arabisierung (ta’rib) und Vertreibung ausgesetzt, und in den 1980er-Jahren sogar durch Genozid bedroht.2 Heute kehren die damals aus den arabischen Gebieten deportierten Kurden, die in provisorischen Elendssiedlungen in Kurdistan oder in iranischen Flüchtlingslagern aufgewachsen sind, in ihre alte Heimat zurück, wo sie ihre Felder zurückverlangen und ihre Häuser wiederaufbauen.
Ethnische Säuberungen
Dabei reagieren die Kurden auf die ethnischen Säuberungen der anderen Seite offenbar mit ihrer eigenen Säuberungspolitik. Die wird von vielen Arabern, die gern die früheren eigenen Sünden vergessen, als Kurdifizierung (takrid) bezeichnet. Nunmehr werden Araber, die vom Baath-Regime nach Kirkuk oder in andere Gegenden gelockt worden waren, zur Rückkehr in ihre Herkunftsregionen gedrängt. Letztlich wird in beiden Fällen deutlich, dass übergeordnete Mächte diese Leute für ihre nationalen Projekte instrumentalisiert haben.
Dabei wird vergessen, dass diese Menschen unverbrüchliche Bürgerrechte haben, die durch die Verfassung geschützt werden, also auch das Recht, sich überall im Irak niederzulassen und das Wahlrecht auszuüben. Übersehen wird auch die schwierige Frage, was mit den jungen Leuten geschehen soll, die als Nachkommen arabischer „Siedler“ in Kirkuk geboren wurden und keine andere Heimat kennen.3
Die Kurden können mit einigem Recht geltend machen, dass ihre Behandlung der Araber und der kleineren Minderheiten in den umstrittenen Gebieten ohne die gewaltsamen Methoden des früheren Baath-Regimes auskommt und dass sie ihre Ansprüche nur mittels der Verfassung und der Gesetze durchsetzen wollen (deren Bestimmungen sie freilich in ihrem Sinne beeinflusst haben). Aber ob mit Gewalt oder mit Paragrafen – für die Betroffenen ist die Wirkung dieselbe: Verlust des Wahlrechts oder gar des Wohnorts und eine tiefgehende Entfremdung. Auf diese Weise schafft man einen Dauerkonflikt und nicht etwa eine dauerhafte Lösung. Denn die nichtkurdische Bevölkerung von Kirkuk wird sich mit der „gütigen Herrschaft“ ihrer kurdischen Landsleute nicht einfach abfinden.
2007 hat der Sicherheitsrat in New York die UN-Hilfsmission für den Irak (Unami) ermächtigt, eine Lösung für das Problem der „umstrittenen inneren Grenzen“ zu finden, wie es im UN-Jargon heißt. Seitdem hat die Unami einen wichtigen Bericht vorgelegt, der noch nicht veröffentlicht, aber den wichtigsten Konfliktparteien übermittelt wurde. Darin werden verschiedene Szenarien entwickelt und vorläufige Ideen für eine Verhandlungslösung formuliert. Die Regierung Obama unterstützt diese Bemühungen und wartet ab, ob die irakischen Parlamentswahlen vom 7. März eine neue politische Führung in Bagdad hervorbringen werden.
Der künftigen Regierung wird die Aufgabe zufallen, unverzüglich die Frage der umstrittenen Gebiete anzupacken und ein Lösungskonzept zu formulieren, das die Bedenken wie die historischen Wahrnehmungen aller Beteiligten berücksichtigt. Das Resultat müsste ein Kompromiss sein, der keine elementaren Interessen verletzt und der zugleich allen Gruppen etwas anbietet, was sie auf der eigenen Seite als Erfolg präsentieren können.
Das ist keine leichte Aufgabe, und die Zeit ist knapp. Der bevorstehende Abzug der US-Kampftruppen wird Washingtons Druckmittel verringern, und die UN sind außerstande, diese Lücke zu füllen. Denn solange es keine Vereinbarung zwischen Bagdad und der kurdischen Führung in Erbil gibt, die einem Friedensvertrag gleichkommt, werden die UN keine Blauhelmtruppe entsenden.
Es ist wahrscheinlich, dass der Konflikt um die Grenzziehung zwischen der Region Kurdistan und dem übrigen Irak die fragilen Fundamente des neuen irakischen Staats auch weiterhin erschüttern wird. Es mag sein, dass der Zentralstaat mit der Zeit erstarken und dass die Regierung in Bagdad versuchen wird, den Kurden ihren Willen aufzuzwingen – so wie es schon frühere Regime getan haben.
Andererseits könnten die Kurden ebenso imstande sein, ihre nach 2003 erzielten Erfolge abzusichern, also innerhalb ihrer Region eine sehr weitgehende Autonomie zu wahren und eine De-facto-Kontrolle über die Teile der umstrittenen Territorien auszuüben, die eine kurdische Bevölkerungsmehrheit haben. Vor allem aber werden sie die Hoffnung nicht aufgeben, eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft ihren eigenen Staat zu erlangen – zum Beispiel dank neuer Machtverschiebungen durch einen Krieg zwischen dem Iran und den USA. Eine solche Entwicklung würde womöglich zu einer Verschiebung der internationalen Grenzen führen und neue Chancen für Völker eröffnen, die bislang keinen eigenen Staat haben. Ganz ähnlich wie beim Zusammenbruch des Osmanischen Reichs vor neunzig Jahren.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Joost Hiltermann ist stellvertretender Programmdirektor für den Nahen Osten und Nordafrika bei der International Crisis Group (ICH) in Washington.