12.03.2010

Das gebunkerte Wissen

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Das gebunkerte Wissen

Das neue Abkommen über Produktpiraterie handeln die Industriestaaten unter sich aus von Florent Latrive

Der Stand der Dinge beim neuesten internationalen Abkommen zugunsten der multinationalen Pharma-, Musik- und Verlagsunternehmen unterliegt strenger Geheimhaltung: ein europäischer Verhandlungsführer, der unsere Fragen nur beantworten will, wenn wir ihm versprechen, dass sein Name nicht genannt wird; ein amerikanischer Lobbyist, der sich weigert, uns Textentwürfe zu senden, die derzeit Grundlage der Verhandlungen sind, weil er schriftlich zugesichert habe, sie nicht weiterzugeben; eine Europäische Kommission, die unsere förmlichen Anfragen abschlägig bescheidet: „Das würde die internationalen Wirtschaftsbeziehungen der EU gefährden.“

Über das Handelsabkommen gegen Produktpiraterie – auch bekannt als Anti-Counterfeiting Trade Agreement (Acta) – wird nun schon seit mehr als drei Jahren verhandelt, und zwar außerhalb jeglicher internationaler Organisation.1 Obwohl es Fragen der freien Meinungsäußerung, der Gesundheit, der Internetüberwachung und der Organisation des Welthandels berührt, kann sich niemand Einblick in den Text verschaffen.

Offiziell soll das Übereinkommen die Bekämpfung von Produktfälschungen erleichtern – gefälschte Markenartikel, zum Beispiel Handtaschen; Arzneimittelkopien, sogenannte Generika; auch Musik und Literatur, die sich im Internet kostenlos herunterladen lassen. Das erfordert die Verschärfung der Grenzkontrollen oder der Strafen, wobei die Gefahr besteht, dass dadurch „der internationale Transit preisgünstiger Generika in Entwicklungsländer erschwert wird“, wie Alexandra Heumber von der Organisation Ärzte ohne Grenzen erklärt. Oder dass die technischen Schnittstellen wie Internetdienstleister und Hosting Provider zu Hütern von Urheberrechten werden, indem sie Internetnutzern den Zugang sperren oder Inhalte von Webseiten filtern können. „Die Acta-Bestimmungen und, noch allgemeiner, die Bestimmungen über geistiges Eigentum, haben große Auswirkungen auf unseren Alltag. Kultur, Bildung, Gesundheit oder Kommunikation: Nur wenige Bereiche werden davon nicht betroffen sein“, bestätigt der kanadische Universitätsdozent Michael Geist, der auf seinem Blog eine Zusammenfassung zur Verfügung stellt.2

Die Gegner des Übereinkommens versuchen, dessen komplexen, geheimen, jedoch grundlegenden Text der Öffentlichkeit bekannt zu machen, bevor es von den beteiligten Ländern unterzeichnet wird und die nationalen Parlamente aufgrund internationaler Verpflichtungen gezwungen sind, es zu ratifizieren. Für Alexandra Heumber ist es „nicht hinnehmbar, dass so viele Länder nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, und dass die Zivilgesellschaft nicht zurate gezogen wird“. Noch beunruhigender: Entwürfe des Texts wurden Verbänden überlassen, die Film- und Musikindustrie oder auch multinationale Pharmaunternehmen vertreten und sich für eine Verschärfung der Autoren- und Patentrechte einsetzen.

„Ich hatte Einblick in gewisse Dokumente des Acta-Textes“, bestätigt Rechtsanwalt Steven Metalitz, der in dieser Angelegenheit für die International Property Alliance tätig ist, einen Lobbyverband der Unterhaltungsindustrie in Washington – Motion Picture Association of America (MPAA) für das Kino, Business Software Alliance (BSA) für Software, die Recording Industry Association of America (RIAA) für Musik. Der Jurist hatte, wie alle, die uns eingeweiht haben, schriftlich zusichern müssen, nichts weiterzuleiten.

„Wir haben nichts zu verstecken, das ist die übliche Praxis in internationalen Handelsgesprächen“, verteidigt sich ein europäischer Verhandlungsführer, der seinen Namen ebenfalls nicht genannt wissen wollte. „Wir haben regelmäßig Treffen mit NGOs, mit Vertretern der Industrie – von denen einige beunruhigt sind, vor allem die Telekommunikationsunternehmen. Das ist nicht gerade ein Geheimnis.“ Mehrere Europaabgeordnete haben versucht, die Dokumente einzusehen. Ohne Erfolg. „Die Verhandlungen sind vertraulich. Es gibt ein paar Vertreter der Zivilgesellschaft und der Lobbyverbände, die eingeweiht sind, aber nach welchen Kriterien wurden sie ausgesucht?“, protestiert die grüne Europa-Abgeordnete Sandrine Bélier. „Für die Demokratie ist das gefährlich.“

Auch wenn Acta vom Inhalt her technisch und in seinen Konturen unscharf ist, sein politisches Ziel ist dennoch eindeutig. Das Abkommen gegen Produktpiraterie ist der nächste Schritt in einer Entwicklung des internationalen Rechts, die wegführt vom klassischen Urheber- und Patentrecht. Dieses war dem Schutz der Erfinder und Künstler, der Forderung von Transparenz gegenüber der Industrie sowie dem Verbraucherschutz verpflichtet. Jetzt steht der Schutz des geistigen Eigentums im Vordergrund. Und auch wenn etwas anderes behauptet wird, die Verschärfung der Regeln dient dazu, die internationale Arbeitsteilung festzuschreiben, die den Süden auf Landwirtschaft und Industrie festlegt, während der Norden Kreativität und Mehrwert für sich reserviert: Modeaccessoires werden in Paris entworfen und in Tunesien produziert; Computer in Silicon Valley entwickelt und in Asien gebaut. Und strenge Kontrollen an den Grenzen und im Internet stellen sicher, dass keine „Fälschungen“ die Märkte überschwemmen. Wenn dabei verhindert wird, dass rechtmäßige Kopien und Generika weitergegeben werden oder dass Internetnutzer sich privat Musikstücke oder literarische Werke überlassen, wird das gern in Kauf genommen.

Der freie Geist und seine wahren Eigentümer

Für einen der europäischen Verhandlungsführer des Acta ist es eindeutig, dass „Europa sich nicht in Preiskonkurrenz mit anderen Ländern begeben kann, aber Europa hat die Kreativität, die Qualität, die Kultur und die Innovationsfähigkeit“. Nichts ist leichter, als einen Film auf DVD endlos zu reproduzieren, ein Schuhmodell zu kopieren oder die Kopie eines Arzneimittels herzustellen, das in einem Labor der Industrieländer entwickelt wurde. „All das ist als geistiges Eigentum geschützt und kann doch relativ leicht gestohlen werden“, erläutert der Verhandlungsführer weiter. „Geistiges Eigentum ist ein Element der europäischen Wettbewerbsfähigkeit und muss in Drittländern geschützt werden.“

Diese Logik zieht sich durch die Lissabon-Strategie, die die EU im Jahr 2000 beschlossen hat, und steht auch hinter den Anstrengungen der USA. „Das ist skrupelloser Imperialismus“, meint James Love, Direktor der NGO Knowledge Ecology International (KEI). „Die Politiker leugnen, dass der Zugang zu Wissen und die Freiheit, dieses Wissen auch zu nutzen, wichtig für jegliche Entwicklung ist – auch in den reichen Ländern.“ Und sie vergessen auch gern, dass die meisten der heutigen Industrieländer Urheber- und Patentrechte lange Zeit selbst recht leger gehandhabt haben, um ihre eigene Entwicklung voranzutreiben; dass sie sich von Wissen und Kulturleistungen inspirieren ließen, die von anderen abgeschaut waren.3 Das gilt zum Beispiel für die Schweiz, die im 19. Jahrhundert die deutsche Chemie kopierte, bevor sie sich zum knallharten Verteidiger ihrer eigenen Patente wandelte. Oder auch für die USA, die bis 1891 Autorenrechte auf englische – damals die meistverbreiteten – Druckerzeugnisse nicht anerkannten, was amerikanischen Verlagen üppige Profite aus freien Kopien sicherte.

Die Strategie der Verschärfung der Rechte an geistigem Eigentum entwickelte sich in den 1980er-Jahren und wurde nach und nach von allen Industrieländern übernommen, die überzeugt davon sind, dass immaterielle Güter – Wissen, Kenntnisse, Kultur – die Bereiche sind, wo in Zukunft Eigentum vermehrt und der Kapitalismus sich fortentwickeln wird. Autorenrechte (und das Copyright) werden also immer wichtiger und drängen den Bereich des frei und allgemein Zugänglichen zurück.

Patente sollten ursprünglich den Erfindern von überwiegend industriellen Produktionsmethoden ein vorübergehendes Monopol sichern – als Belohnung für ihren Erfindungsgeist. Heute werden Patente viel großzügiger auf triviale Entdeckungen, Informatikprogramme oder auch Pflanzensorten und Tierarten erteilt. Nachdem das Konzept des geistigen Eigentums in den Industrieländern Fuß gefasst hatte, wurden entsprechende Gesetze exportiert, insbesondere mittels der Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), die 1994 im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) geschlossen wurden. Als Folge davon sind billige Generika gegen Aids wegen des Patentschutzes blockiert.

Mit Acta soll dieses, wie der Verhandlungsführer der Europäischen Union sich ausdrückt, „Schutzniveau“ noch erhöht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrieländer zu verbessern. Die Gegner halten schon die existierenden Hürden für zu hoch, und meinen, das zurzeit verhandelte Abkommen würde die Ungleichgewichte nur verstärken. Ärzte ohne Grenzen befürchtet zu strikte Grenzkontrollen. Bereits 2008 wurden mehrere Schiffe, die von Indien aus arme Länder mit Generika beliefern sollten, vom Zoll festgehalten. Die Generika waren im Herkunftsland wie auch im Bestimmungsland absolut legal – aber nicht in Europa, wo die Schiffe im Transit waren und die Patentbestimmungen strenger sind. Das Ergebnis waren mehrere Wochen Verspätung und offizielle Proteste der indischen Regierung.

Das gleiche Problem ergab sich im Februar 2009, als auf dem Flughafen Schiphol in den Niederlanden eine Ladung von neunundvierzig Kilo Generika festgehalten wurde. Sie sollten zur HIV-Behandlung nach Nigeria geliefert werden4 und waren von Unitaid bezahlt, die sich unter dem Dach der WHO um den Ankauf billiger Medikamente gegen HIV, Malaria und Tuberkulose kümmert und unter anderem durch einen Solidaritätszuschlag auf Flugtickets finanziert wird. „Es besteht die Gefahr, dass sich solche Vorfälle wiederholen. Weltweit könnte der Transit von Generika gestoppt werden, weil ein Verdacht auf Produktfälschung vorliegt,“ meint Alexandra Heumber.

Wenn jede Erfindung gegen irgendein Patent verstößt

Auch im Internet versuchen vor allem die USA schärfere Bestimmungen durchzusetzen. Die Internetprovider sollen dabei für Verstöße ihrer Kunden einstehen und gegebenenfalls Inhalte filtern, Webseiten sperren oder den Nutzern den Zugang sperren. Dabei könnte die Frage, ob tatsächlich strafbare Produktpiraterie vorliegt, zweitrangig werden. Die Haftung der Internetanbieter ist eine alte Forderung der Musik- und Verlagsindustrie weltweit, die in Frankreich durch das Hadopi-Gesetz5 erfüllt werden sollte.

Die Fixierung auf Stärkung der Eigentumsrechte an nicht materiellen Gütern und höhere Schadenersatzsummen, die in Acta geplant sind, gefährden aber gerade die Innovation. Nach Ansicht von James Love werden Patente so reichlich erteilt, dass zukünftig „niemand komplexe Software, ein Mobiltelefon, einen medizintechnischen Apparat oder auch nur ein neues Auto entwickeln kann, ohne gegen Patentrechte zu verstoßen“. Und wenn Verstöße kaum zu umgehen sind und immer teurer werden, wächst die Gefahr, „dass jede Innovation auf Eis gelegt wird“. Damit wäre das Gegenteil dessen erreicht, was man wollte.

Die an den geheimen Verhandlungen beteiligten Länder bestreiten natürlich, dass damit die Weichen in eine Richtung gestellt werden, die die Öffentlichkeit nicht akzeptieren würde. „Acta ist keine Ausnahme im demokratischen Verfahren – es geht nicht darum, das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente an der Nase herumzuführen“, verteidigt sich der europäische Verhandlungsführer. Es sei „abwegig, zu glauben, man könne solche Dinge im Verborgenen zum Erfolg führen“.

Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass ausgerechnet diese Regierungen diejenige internationale Institution umgehen, die für solche Gespräche zuständig wäre: die Weltorganisation für geistiges Eigentum (World Intellectual Property Organization, Wipo). Schon Ende der 1990er-Jahre wurden Verhandlungen über die Rechte an geistigem Eigentum lieber im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) geführt, dem Vorläufer der WTO. Die Industrieländer bekamen die Unterschriften der südlichen Länder, die im Gegenzug versprachen, ihre Märkte für landwirtschaftliche Produkte zu öffnen – ein Deal, der im Rahmen der Wipo nicht möglich gewesen wäre.

Seit einigen Jahren genügt das Erreichte nicht mehr. Mehrere Versuche, das Recht auf geistiges Eigentum „aufzurüsten“, sind sowohl in der Wipo als auch in der WTO gescheitert. Unter dem Druck der südlichen Länder und einiger NGOs ist die Wipo inzwischen zu Verhandlungen über andere Methoden der Innovationsförderung bereit und plant ein Abkommen über Ausnahmen und Begrenzungen der Urheberrechte. Brasilien, Indien, Argentinien und auch China wollen keine Verschärfungen, die nach ihrer Ansicht auf die nördlichen Länder zugeschnitten sind. „Einige unserer Partner haben verhindert, dass eine Diskussion über geistiges Eigentum auch nur auf die Tagesordnung der WTO gesetzt wurde“, räumt der europäische Verhandlungsführer ein.

Da die Alternativen verbaut sind, bleibt nur noch der Ausweg eines heimlich verhandelten Ad-hoc-Abkommens, auf das sich die EU mit zehn weiteren Staaten einigen könnte. Die Strategie ist von einer erschreckenden Effizienz: Wenn Acta im kleinen Kreis und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgehandelt ist, muss es nur noch in das nationale Recht jedes Unterzeichnerstaates überführt werden. Und dann, wenn nichts mehr daran verändert werden kann, bringt man die Entwicklungsländer im Rahmen bilateraler Abkommen dazu, zu unterzeichnen, indem man ihnen vage Zugeständnisse in Aussicht stellt. Die Verträge aus dem Jahr 1996 über Urheberrechte und das Internet,6 die im Rahmen der Wipo verhandelt wurden, haben gezeigt, wie es gemacht wird: Nachdem sie 2001 in europäisches Recht überführt worden waren, wurde die Richtlinie nach und nach in den nationalen Gesetzgebungen umgesetzt. Zum 14. März 2010 werden die Verträge nun in allen EU-Staaten ratifiziert.

Diskussionen in der Öffentlichkeit fanden im Nachhinein kaum statt. Die wären zu einem Zeitpunkt zu führen, an dem es noch Spielraum gibt. Für Acta ist dieser Zeitpunkt jetzt.

Fußnoten: 1 Die Teilnehmer sollen Australien, Kanada, die USA, die EU, Japan, Korea, Mexiko, Marokko, Neuseeland, Singapur und die Schweiz sein. Der Text, der noch vor Ende 2010 verabschiedet werden könnte, wurde im Januar in Mexiko diskutiert und soll erneut im April in Neuseeland beraten werden. 2 Dokumente, die im April 2009 auf der Webseite Wikileaks enthüllt wurden, siehe www.michaelgeist.ca/content/view/3846/125. 3 Commission on IPR, „Integrating intellectual property rights and development policy“, London, September 2002. 4 www.livemint.com/2009/03/06222950/UN-agency-protests-Dutch-seizu. 5 Das äußerst umstrittene französische Gesetz zum Schutz von Urheberrecht im Internet sieht vor, dass bei dreimaligem Verstoß dem Nutzer der Zugang zum Internet entzogen werden kann. 6 Es handelt sich um den „Doppelvertrag“ WCT (Welturheberrechtsvertrag) und WPPT (Vertrag über Darbietungen und Tonträger).

Aus dem Französischen von Harald Greib

Florent Latrive ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Florent Latrive