12.03.2010

Der Geist eines neuen Nationalismus

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Der Geist eines neuen Nationalismus

Was Elfenbeinküste und Usbekistan gemeinsam haben von Laurent Bazin

Was haben Usbekistan und die Elfenbeinküste gemeinsam? Beide Länder sind – wie viele andere seit den 1990er-Jahren – jäh im Zeitalter der „nationalen Identität“ angekommen. Beide sind geradezu Schulbeispiele für einen Prozess, der seit zwei Jahrzehnten überall auf der Welt zu beobachten ist. Und beide machen den Unterschied zu einer früheren Form des Nationalismus sichtbar, wie er in den 1950er- und 1960er-Jahren vorherrschte und der vor allem ein Resultat der Entkolonialisierung war. Im Gegensatz zu diesem „antikolonialen“ Nationalismus beruht der Nationalismus der jüngsten Zeit häufig auf einer „Neuerfindung“ autochthoner Identitäten.1

Der Nationalitätsbegriff der Elfenbeinküste, die „ivorité“, ist wie anderswo auch ein Produkt politischer Auseinandersetzungen: Der frühere ivorische Präsident Henri Konan Bédié, der 1993 die Nachfolge von Félix Houphouët-Boigny angetreten hatte, setzte auf die nationalistische Karte, um sich einen Vorteil gegenüber seinen beiden stärksten Gegnern zu verschaffen und sein Legitimitätsdefizit auszugleichen.

Das erste Mal tauchte der Begriff der „ivorité“ in der Neufassung des Wahlgesetzes vom Dezember 1994 auf. Dieses Gesetz brachte zwei einschneidende Änderungen: Erstens hob es das Wahlrecht ausländischer, im Land lebender Afrikaner auf, und zweitens führte es die „Ivorité-Klausel“ ein, die die Voraussetzungen für eine Präsidentschaftskandidatur ganz erheblich erschwerten: Nicht nur der Kandidat selbst, sondern seine beiden Eltern mussten geborene Ivorer sein. Damit schlug Präsident Bédié gleich zwei Gegner aus dem Rennen um die Präsidentschaft: den damaligen Premierminister Alassane Ouattara, der angeblich aus Burkino Faso stammte, und den langjährigen politischen Rivalen Laurent Gbagbo, dessen Wahlkampfthemen sich Bédié damit zu eigen gemacht hatte. Der Begriff der „ivorité“, einmal in die Welt gesetzt, erwies sich jedoch bald als ideologische Falle: Er wurde zum zentralen Streitpunkt in den politischen Auseinandersetzung und führte zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft.2

Präsident Bédié verlor bald die Kontrolle über die Geister, die er gerufen hatte. Im Dezember 1999 wurde er durch einen Militärputsch gestürzt. Zwei Jahre später – unter dem seit Oktober 2000 regierenden Präsidenten Laurent Gbagbo – brach ein Bürgerkrieg aus, der zur faktischen Nord-Süd-Teilung der Elfenbeinküste führte. Die Hauptgründe für den Konflikt hatten unmittelbar mit der Frage der „ivorité“ zu tun: Der politische Führer der vorwiegend im Norden lebenden Muslime war derselbe Alassane Ouattara, der wegen seiner „zweifelhaften Nationalität“ von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen worden war.

Zudem hatte unter dem Vorwand, Wählerlisten zu erstellen, ein „Identifikationsprozess“ begonnen, bei dem die „Ivorität“ aller als Bürger registrierten Personen anhand neuer Kriterien überprüft werden sollte. Dabei wurde vielen muslimischen Bewohnern des nördlichen Landesteils die Staatsbürgerschaft verweigert und der Status der „Ausländer“, die oft seit Generationen im Land leben und rund ein Viertel der ivorischen Bevölkerung ausmachen, blieb ungeklärt.

Auch drei Jahre nach dem Friedensvertrag vom März 2007, der eine Aufteilung der Macht zwischen den Konfliktparteien brachte, ist die Frage der nationalen Identität immer noch in der Schwebe.3 Und der noch nicht abgeschlossene „Identifikationsprozess“ dient immer wieder als Vorwand, um anstehende Wahlen zu verschieben.

Eine ähnliche Strategie wie Bédié in Elfenbeinküste verfolgte Islam Karimow in Usbekistan, ehemals kommunistischer Parteisekretär der sowjetischen Republik und seit 1991 erster und einziger Präsident des Landes. Um eine Wahlstrategie braucht sich Karimow allerdings nicht zu kümmern. Zwar wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion offiziell die Einparteienherrschaft beendet und eine Demokratie eingeführt. Doch das Regime unterdrückt weiter die Pressefreiheit, die beiden wichtigsten Oppositionsparteien sind verboten, ihre Führer seit 1993 im Exil.

Die nationalistische Linie der neuen Führung unter Karimow wurde bereits kurz nach der Machtergreifung deutlich: Auf Kosten der zahlreichen Minderheiten – Tadschiken, Kasachen, Kirgisen, Russen, Ukrainer, Tartaren, Koreaner und Deutsche machen zusammen etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus – wurde eine umfassende „Usbekisierung“ der Gesellschaft durchgesetzt. Die Regierung bekämpft jeglichen politischen Widerstand mit Terror und Repression. Aber vor allem aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage hat die Regierung ihre Legitimation zum großen Teil eingebüßt. Etwas davon will sie sich zurückholen, indem sie die „nationale usbekische Identität“ fördert und die „Errungenschaften der Unabhängigkeit“ bejubelt.

All das verdankt die Nation dem „Vater der Unabhängigkeit“, dem Präsidenten Islam Karimow. Seine Bücher mit Titeln wie „Der Aufbau der demokratischen Gesellschaft“ und „Die Ideologie der Unabhängigkeit“ sind Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten. Seit 2003 ist in allen usbekischen Klassen ein Tag pro Woche der Pflege des „nationalen Geistes“ (milliy ma’naviyat) gewidmet. Es herrscht ein Kult der nationalen Identität, der mit dem des vorgeblich „demokratischen Staates“ und natürlich des Präsidenten verschmilzt.

Karimow kann dabei an das sowjetische Modell anknüpfen, das dem Volk wie der Regierung eine offizielle Ideologie vorgab, die er jetzt durch die „nationale Idee“ ersetzt hat. Die wird auch auf wissenschaftlicher Ebene vorangetrieben: Ganze Abteilungen der Akademie der Wissenschaften sind an der Produktion der usbekischen Identität beteiligt. Ethnologen, Historiker, Archäologen und Linguisten liefern das Material zur Aufbereitung.

Auch bei dieser wissenschaftlichen Identitätsproduktion stand das sowjetische Vorbild Pate: Unter Stalin wurden zwischen 1924 und 1936 in der UdSSR die „Nationalitäten“ voneinander abgegrenzt,4 wobei man sich am Entstehungsprozess der europäischen Nationen seit dem 19. Jahrhundert orientierte.5 Auch damals hatten die sowjetischen Wissenschaftler den Auftrag, für jede „Nationalität“ eine Ethnie, eine Sprache, einen Literaturkanon, eine Geschichte sowie bestimmte Riten und Gebräuche zu identifizieren.

Die Produktion der neuen historischen Wahrheit in Usbekistan zielt heute vor allem darauf ab, nach Anzeichen für eine möglichst frühe Präsenz des usbekischen Volkes auf seinem heutigen Territorium zu suchen, um die Idee der usbekischen Selbstständigkeit zu untermauern. Dabei forscht auf Geheiß der Regierung eine ganz neue historische Abteilung über die „Staatlichkeit des usbekischen Volks“6 mit dem Ziel, eine ewige und unauflösliche Verbindung zwischen autochthonem Volk und seinem Staat zu spinnen.

Eine parallele Entwicklung zeigt sich in der Elfenbeinküste: In den Konflikten um die wahre „ivorité“ wird auf bestimmte Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und politischer Legitimität spekuliert. Das eine wie das andere wird künftig nicht ohne den Bezug auf ein nationales Identitätskonstrukt auskommen, obwohl der Nationalismus für die Elfenbeinküste etwas radikal Neues ist. Nach der 1960 erlangten Unabhängigkeit ging die neue politische Führung erst ab 1967 – und nur zögerlich – auf Forderungen nach einer Ivorisierung ein. 1974 wurde zwar ein „nationaler Vorrang“ bei der Arbeitsplatzvergabe festgelegt, in der Praxis aber kaum durchgesetzt. Der ivorische Staat konzentrierte sich mehr auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Modernisierung der nachkolonialen Gesellschaft, der „nationale Aufbau“ hatte also einen ganz konkreten Inhalt.

Langhaarige Männer sind unusbekisch

Damals definierte sich die Zugehörigkeit zur Nation nicht durch Herkunft, sondern durch die Mitarbeit am nationalen Aufbauprojekt. Selbst Minister waren häufig Nichtivorer und für den wirtschaftlichen Aufschwung in den 1970er-Jahren sorgten vor allem die Zuwanderer aus Burkina Faso, Mali oder Guinea, die auf den Kakaoplantagen im Süden des Landes arbeiteten.

Das Einparteiensystem garantierte, dass das Wahlrecht der ausländischen Arbeiter keine Bedrohung darstellte. Auch entwickelte sich der ivorische Staat im Zuge einer neokolonialen Entwicklung auf wirtschaftlicher und politischer Ebene zum engsten afrikanischen Verbündeten Frankreichs und der USA.

Die Machthaber sahen sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt, ausländische Interessen zu begünstigen, also einen „allochthonen“7 als Gegenteil eines „autochthonen“ (eigenständigen) Staats zu repräsentieren. Im Übrigen war die Bevölkerung ganz überwiegend „allogener“ (ausländischer) Herkunft. Selbst in den Schulbüchern stand, dass die sechzig verschiedenen ethnischen Gruppen, aus denen sich die Bevölkerung der Elfenbeinküste zusammensetzt, fast ausnahmslos aus den Nachbarländern eingewandert seien. Das wurde mit der Erfindung der „ivorité“ radikal anders. Seitdem sieht sich der Staat als Inkarnation einer autochthonen ivorischen Identität – was vor einigen Jahren noch unvorstellbar war.

Der sowjetische Nationalismus wiederum war Teil der sozialistischen Ideologie von gesellschaftlicher Modernisierung und der Entstehung des „neuen Menschen“. Im heutigen Usbekistan tritt an die Stelle dieser Zukunftsvision die „Erneuerung der nationalen Idee“8 – die freilich in einem wirtschaftlich ruinierten Land, wo viele den einzigen Ausweg in der Emigration sehen, wie Hohn klingt. Im sowjetischen Einparteienstaat (wie zum Beispiel auch in Jugoslawien) war die „Nationalität“, der sich jeder Bürger zugehörig fühlte, überwölbt durch eine „supranationale“ Staatsbürgerschaft. Die neue Staatsideologie in Usbekistan versucht beides zu sein: Quelle politischer Legitimität wie Basis für den Anspruch auf „Staatsbürgerschaft“. Damit wirkt die „ursprüngliche nationale Identität“ polarisierend, weil sie alles Nichtusbekische ausgrenzt und letztendlich zur Destabilisierung der gesamten Gesellschaft führt.

Dass seit dem Ende der Sowjetunion das Wort o’zbekchilik, also „usbekisch“, so umfassend gebraucht wird, signalisiert eine allumfassende Unterwerfung unter die „Traditionen“. Damit ist eine neue Norm entstanden, Abweichungen werden nicht geduldet. Wenn ein junger Mann lange Haare trägt, seine Kappe mit dem Schirm nach hinten dreht oder vorehelichen Sex hat, heißt es: „Das ist unusbekisch.“

In Usbekistan wie in der Elfenbeinküste hat die Formulierung einer nationalen Identität und deren Institutionalisierung die Konzepte von Staatsbürgerschaft und politischer Legitimation gekippt. Der Staat erscheint jetzt als Hervorbringung einer autochthonen Identität, auf deren Grundlage sich die Gesellschaft neu definiert. Alles Fremde wird dabei vor allem als Bedrohung wahrgenommen.

In beiden Ländern wird der Aufstieg des neuen Nationalismus auch durch die ökonomischen Probleme begünstigt: Der wirtschaftliche Zusammenbruch stellt das Selbstverständnis der Gesellschaften und die Position des eigenen Landes in der Welt infrage. Usbekistan – ehemals Teil einer Supermacht – steht heute am Abgrund: Es gibt keine Arbeit, viele Menschen können nur mühsam ihr Überleben sichern. Die krasse Armut lässt die Flucht ins Ausland oft als den einzigen Ausweg erscheinen.

Auch in der Elfenbeinküste hat die Wirtschaftskrise der 1980er-Jahre zu Massenarbeitslosigkeit geführt. Es folgten die strukturellen Anpassungsprogramme des IWF, die auf das Selbstbild einer Gesellschaft, die sich selbst für die fortschrittlichste Westafrikas hielt, tiefe Schatten warfen.

In beiden Ländern wird die neue Identitätspolitik tiefgreifende Auswirkungen haben und zur Exklusion vieler Menschen führen. Aber schon heute ist absehbar, dass das Bewusstsein über den allgemeinen Niedergang damit nicht auszulöschen ist und dass sie den Regierungen keine zusätzliche Legitimation verschaffen wird.

Fußnoten: 1 Grundlegend zu diesem Begriff: Benedict Anderson, „Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts“, Frankfurt am Main, New York (Campus Fachbuch) 1996. 2 Siehe Pierre Janin, „Ausländer in der Elfenbeinküste“, und Tiemoko Coulibaly, „Politik und Aberwitz in der Elfenbeinküste“, beide in: Le Monde diplomatique, Oktober 2002. 3 Siehe Augusta Conchiglia, „Wer Ivorer sein darf“, Le Monde diplomatique, Oktober 2007. 4 Siehe Olivier Roy, „La nouvelle Asie centrale, ou la fabrication des nations“, Paris (Seuil) 1997. Usbekistan gehörte vor der russischen Eroberung zu verschiedenen Imperien, deren Herrscher meist Nachkommen nomadischer Turkvölker waren. Die Bildung von „Nationalitäten“ trennte sesshafte von nomadischen und persischsprachige von turksprachigen Gruppen, was zur Unterscheidung zwischen Usbeken, Kasachen und (persischsprachigen) Tadschiken führte. 5 Eric Hobsbawm, „Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780“, Frankfurt am Main, New York (Campus) 1991. 6 Marlène Laruelle, „Continuité des élites intellectuelles, continuité des problématiques identitaires“, Cahiers d’Asie centrale, Nr. 13/14, 2004. 7 Den Begriff prägte Jean-Pierre Dozon in: „L’étranger et l’allochtone en Côte-d’Ivoire“, in: Bernard Contamin und Harris Memel-Fotê (Hg.), „Le modèle ivoirien en questions“, Paris (Karthala) 1997. 8 Frédérique Guérin, „L’Etat et ses chantiers idéologiques en Asie Centrale“, in: „The Illusions of Transition: Which perspectives for Central Asia and the Caucasus?“ (engl./franz.), Genf (Cimera) 2004.

Aus dem Französischen von Jakob Horst

Laurent Bazin ist Ethnologe am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und am Centre d’études et de recherches sociologiques et économiques in Lille.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Laurent Bazin