12.03.2010

Heilige Einfalt

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Heilige Einfalt

Moderne, Säkularisierung und die Rückkehr des Religiösen von Olivier Roy

Warum wollen zigtausende Muslime in Mittelasien Christen oder Zeugen Jehovas werden? Warum erlebt der protestantische Evangelikalismus einen so außerordentlichen Aufschwung in Westafrika oder in Brasilien, wo er 2007 25 Millionen Angehörige hatte? Warum zieht der radikale Salafismus so viele junge Europäer an, schwarze wie weiße? Wie kommt es, dass al-Qaida diejenige „islamische“ Organisation ist, die die höchste Zahl von Konvertiten in ihren Reihen hat?

Und warum hat, umgekehrt, die katholische Kirche solche Mühe, ihre Schäfchen zu halten, und muss erleben, dass sich immer weniger junge Männer zum Priester berufen fühlen? Wieso wird die konservative anglikanische Tradition heute vor allem von Nigerianern, Ugandern und Kenianern vertreten, während das geistliche Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Erzbischof Rowan Williams, die Anwendung der Scharia als Zivilrecht der britischen Muslime gutheißt und nichts gegen die Ordination homosexueller Priester einzuwenden hat?

Die Theorie vom Zusammenprall oder Dialog der Kulturen ist nicht geeignet, diese tektonischen Bewegungen zu verstehen, die alles durcheinanderbringen, die Territorien und die Identitäten, und alle traditionellen Verbindungen zwischen Religion und Kultur durchtrennen.

Was passiert, wenn Religionen sich von ihren kulturellen Wurzeln lösen? Oder einfacher ausgedrückt: Wieso sieht es so aus, als würden sich heute Identitäten vermittels der Religionen neu ordnen? Zwei Hypothesen stehen sich seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts gegenüber: Nach der einen ist die Säkularisierung ein unausweichlicher Prozess, zugleich Bedingung und Folge der Moderne.

Die andere These konstatiert oder begrüßt die Rückkehr des Religiösen, das entweder als Protest gegen eine entfremdende, illusorische Moderne wahrgenommen wird oder als eine andere Form des Eintritts in die Moderne. Diese Debatte ist keine intellektuelle Spielerei, in Frankreich steht sie im Mittelpunkt des Konflikts um die Laizität: Muss man Laizität gegen das Religiöse erzwingen, notfalls auf Kosten der individuellen Freiheit, oder spiegelt nicht die religiöse Erneuerung die Verschiedenheit, den Reichtum und die menschliche Freiheit wider?

Nun gibt es in dieser Debatte ein großes Missverständnis: Die Säkularisierung hat das Religiöse nicht ausgelöscht. Sie hat das Religiöse aus unserer kulturellen Umwelt herausgelöst und lässt es dadurch gerade als rein Religiöses in Erscheinung treten. Tatsächlich hat die Säkularisierung funktioniert: Was wir erleben, ist die militante Neuformulierung des Religiösen in einem säkularisierten Raum, die dem Religiösen seine Autonomie und damit die Bedingungen für seine Ausbreitung gegeben hat. Säkularisierung und Globalisierung haben die Religionen gezwungen, sich von der Kultur abzulösen, sich als autonom zu begreifen und sich in einem Raum neu zu konstituieren, der nicht mehr territorial und damit nicht mehr der Politik unterworfen ist.

Die politische Form des Religiösen, das heißt der Islamismus als Theokratie, ist gescheitert, weil sie mit der Säkularisierung auf ihrem Terrain konkurrieren wollte. Dieses Terrain ist der politische Raum, den Nation, Staat, Bürger, Verfassung, Rechtsordnung konstituieren. Eine solche Politisierung des Religiösen bedeutet immer eine Säkularisierung, weil es sich mit der Alltagspolitik einlässt, weil es jedem Zugehörigkeit und Freiheit zugleich zuschreibt. Das Religiöse in politischer Form ist zwischen zwei Imperativen gefangen: Unglauben darf nicht sein, aber der Glaube kann nur individuell sein. Das Religiöse in politischer Form funktioniert nach dem Prinzip, dass jeder gläubig sein muss, aber es kann den Glauben seinerseits nicht gewährleisten und muss deshalb dafür sorgen, dass zumindest der Schein gewahrt wird, was wiederum in der Folge verhindert, dass sich das politisch Religiöse als ein Glaube präsentieren kann, der von der ganzen Gemeinschaft geteilt wird.

Es besteht ein enges Band zwischen Säkularisierung und religiösem Wiedererweckungsglauben; Letzterer ist nicht Abwehr der Säkularisierung, sondern ihr Produkt. Die Säkularisierung bringt das Religiöse hervor. Es gibt keine „Rückkehr“ des Religiösen, sondern eine Veränderung. Diese Veränderung ist nichts weiter als ein Augenblick, ein Moment: Sie führt nicht notwendigerweise in ein neues religiöses Zeitalter.

Religion als Kultur oder als Glaube

Eine Frage stellt sich vorab dennoch: Können wir aus der zunehmenden Sichtbarkeit des Religiösen, seinem Gewicht in den Medien und in der Politik, wirklich auf ein Mehr an religiöser Praxis schließen? In Europa ist das nicht so: Das Pontifikat Johannes Pauls II. verkörperte die mediale Moderne des Religiösen, aber während sich über 20 Jahre hinweg immer mehr junge Leute aufmachten, um bei den Weltjugendtagen den Papst zu treffen, ging im selben Zeitraum die Zahl der Priesteranwärter in den katholischen Seminaren immer weiter zurück. Müssen wir daraus folgern, dass die Jugendlichen desto weniger Lust haben, Priester zu werden, je mehr sie vom Papst sehen? Oder, vorsichtiger formuliert, dass ihre spirituelle Nachfrage sich nicht mehr mit dem Angebot der traditionellen Kirche deckt?

Die Europäer haben während der Jahrzehnte der vermeintlichen „Rückkehr des Religiösen“ immer weniger ihren Glauben praktiziert. In Spanien regelt ein von der Kirche gebilligtes Gesetz aus dem Jahr 1987, dass der Staat eine auf freiwilliger Basis erhobene religiöse Steuer (0,52 Prozent von der Einkommensteuer) einzieht, die dann an die Kirche abgeführt wird. Von 1993 bis 2001 ist die Zahl der Steuerhaushalte, die das entsprechende Kreuz setzen, von 42,73 Prozent auf 34,32 Prozent gesunken. In Großbritannien verliert die Religionsausübung generell an Bedeutung mit Ausnahme von drei Gruppen: den Polen (50 Prozent von ihnen besuchen den Gottesdienst), den Pfingstlern und den Muslimen.2

All jene, die eine Rückkehr des Religiösen zu erkennen glauben, sagen, dass Europa eine Ausnahme darstelle, und betonen, auf anderen Kontinenten sei das Phänomen viel ausgeprägter. Obwohl es schwierig ist, religiöse Praxis zu messen, so ist klar, dass wir heute nicht Zeugen einer Explosion der Praxis, sondern eher von neuen Formen der Sichtbarkeit des Religiösen sind. In den Vereinigten Staaten ist der Prozentsatz derjenigen, die sagen, sie seien nicht gläubig, von 1990 bis 2001 von 7 Prozent auf 13 Prozent gestiegen, während zwischen 1965 und 2002 die Zahl der katholischen Seminaristen von 4 900 auf 4 700 gefallen ist, und das, obwohl gleichzeitig die Zahl der Katholiken durch die Hispanisierung der Bevölkerung zugenommen hat.3 Auch bei den Protestanten wächst die Zahl der Theologiestudenten, während gleichzeitig der Prozentsatz derjenigen abnimmt, die Pfarrer werden wollen.4 Die zunehmende Zahl orthodoxer Juden in Israel ist hauptsächlich eine Folge des Bevölkerungswachstums und nicht einer plötzlichen Zunahme der Zahl der „Wiedergeborenen“ (bal teshuva).

Oft ist von einem Niedergang des Christentums die Rede, der angeblich parallel zur Ausbreitung des Islam stattfinde. Aber tatsächlich ist weltweit der christliche Pfingstglaube neben dem Mormonentum am meisten auf dem Vormarsch. Die Religionsausübung der muslimischen Minderheit in Europa wirkt sehr viel sichtbarer, aber das hat vor allem damit zu tun, dass sie praktisch bei null begonnen hat; die Rituale, etwa die Gebete, scheinen von den einzelnen Gläubigen nicht viel häufiger eingehalten zu werden als in den anderen Religionen.5 Der Islam hat sich weniger durch zahlreiche Konversionen ausgebreitet als vielmehr infolge eines demografischen Zuwachses der muslimischen Bevölkerungsgruppen. Und dieses Wachstum wurde vor kurzem abrupt gestoppt: Praktisch alle muslimischen Gesellschaften erleben heute einen demografischen Einbruch mit der Folge, dass ihre Geburtenziffern sich den europäischen Werten annähern oder noch darunter fallen.6

Wunsch nach mehr Sichtbarkeit

Andererseits schwingt in der Formulierung „Rückkehr des Religiösen “ mit, dass die alten Religionen nach einer Phase des Rückzugs wieder so in Erscheinung treten, wie sie vormals waren. Sind die heute in Umlauf befindlichen Religionen tatsächlich dieselben – von Etiketten wie Christentum oder Islam einmal abgesehen – wie die, welche einst die großen Zivilisationen begründet haben? Derzeit erleben wir einen Übergang von traditionellen Formen des Religiösen (Katholizismus, muslimischer Hanafismus, klassische protestantische Bekenntnisse wie Anglikanismus oder Methodismus) zu fundamentalistischen und charismatischeren Formen der Religiosität (Evangelikalismus, Pfingstlertum, Salafismus, Tabligh, Neosufismus).

Diese Bewegungen sind relativ neu. Der Salafismus geht auf den Wahhabismus zurück, der Ende des 18. Jahrhunderts begründet wurde. Die evangelikalen Bewegungen gehören in die Tradition protestantischer „Erweckungen“, die im 18. Jahrhundert entstanden sind, und die Pfingstbewegung entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Formen des Buddhismus und Hinduismus, die heute Zulauf haben und Verbreitung finden, sind jüngeren Datums und erst Ende des 19. beziehungsweise im 20. Jahrhundert entstanden (Soka Gakkai, Falun Gong, Hare Krishna, aber auch der politische Hinduismus der indischen BJP und der Theravada-Buddhismus in Sri Lanka). Die Strömungen, die in Frankreich „Sekten“ heißen und in den Vereinigten Staaten „cults“ oder universalistischer als NRB („neue religiöse Bewegungen“) bezeichnet werden, florieren: Die Mormonen und die Zeugen Jehovas, die ebenfalls im 19. Jahrhundert entstanden sind, erlebten Ende des 20. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung, und zwar weltweit.

In diesem Sinn ist die „Rückkehr“ des Religiösen nur eine optische Täuschung: Besser sollten wir von einer Mutation sprechen. Das Religiöse ist zwar deutlicher sichtbar, aber zugleich ist es häufiger im Niedergang begriffen. Wir haben es eher mit einer Neuformulierung des Religiösen als mit einer Rückkehr zu Praktiken von einst zu tun, von denen man sich während der Parenthese der Säkularisierung abgewandt hatte. Diese Tendenzen gehen mit dem Wunsch nach größerer Sichtbarkeit im öffentlichen Raum einher und zielen oft sogar auf einen offensichtlichen Bruch mit den herrschenden Praktiken und Kulturen. Das Religiöse stellt sich als solches zur Schau und will nicht länger auf den Status eines symbolischen Systems neben anderen reduziert werden.

So ändert sich das Verhältnis zwischen Religion und öffentlichem Raum. Denn die Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum erfolgt nicht mehr in Form einer kulturellen Selbstverständlichkeit, sondern vielmehr als Zurschaustellung des „reinen“ Religiösen oder rekonstruierter Traditionen. Die in alle Richtungen stattfindenden Übertritte zu anderen Glaubensrichtungen sind ein gutes Indiz dafür, wie sich das Band zwischen Kultur und Religion verwirrt. Aber ganz eindeutig gewinnen in allen Fällen die sogenannten „fundamentalistischen“ oder „charismatischen“ Formen der Religion am meisten, ob es sich um evangelikale protestantische Bekenntnisse handelt oder um den muslimischen Salafismus. Die gleiche orthodoxe Verhärtung erfasst die katholische Kirche und das Judentum, selbst den Hinduismus. Der Fundamentalismus ist die am besten an die Globalisierung angepasste Form des Religiösen, weil er seine eigene Dekulturation akzeptiert und daraus seinen Anspruch auf Universalität ableitet.

Fußnoten: 1 Cécile Chambraud, „L’Église catholique espagnole perd sa dotation publique“, Le Monde, 24. September 2006. 2 Stephen Bates, „Devout Poles Show Britain How to Keep the Faith“, The Guardian, 23. Dezember 2006. 3 „Americans May be More Religious than They Realize“, Washington Post, 12. September 2006. 4 „Students Flock to Seminaries, But Fewer See Pulpit in Future“, Washington Post, 17. März 2006. 5 Es gibt natürlich das Problem, wie man die religiöse Praxis objektiv definiert. Beim Katholizismus ist es leicht, weil da die von einem Priester gespendeten Sakramente im Zentrum stehen (Messe, Beichte, Eucharistie). Hingegen ist die Praxis bei den Protestanten und besonders bei den Muslimen eine sehr viel individuellere Angelegenheit. Es scheint, dass bei den Muslimen in Frankreich die rein religiösen Praktiken (fünf Gebete am Tag) eine geringe Rolle spielen, während die mit einem kulturellen, festlichen Marker verbundenen Praktiken wie Ramadan stärker beachtet werden. Siehe dazu Sylvain Brouard und Vincent Tiberj, „Français comme les autres? Enquête sur les citoyens d’origine maghrébine, africaine et turque“, Paris (Presses de Sciences Po) 2005. 6 Philippe Fargues, „Générations arabes. La Chimie du nombre“, Paris (Fayard) 2001.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Gekürztes Kapitel aus: Olivier Roy, „Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“, München (Siedler) 2010. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Siedler Verlag, München; Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Olivier Roy