12.03.2010

Gesundheit und ein langes Leben

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Gesundheit und ein langes Leben

von Martine Bulard

Die Regierungen in vielen Ländern der Welt nehmen sich gerade vor, ihr Gesundheitssystem zu reformieren. Auf den ersten Blick ist das ein gutes Zeichen, denn der Status quo ist in der Tat unhaltbar. Und in den nächsten Jahren wird es einen wachsenden Bedarf an medizinischer Versorgung, Pflege und Medikamenten geben. Weltweit steigen Durchschnittsalter und Bevölkerungszahlen. Pandemien breiten sich immer wieder aus.

In den USA, die immer der privaten Krankenversicherung den Vorzug gegeben haben, oder in China, das diese mit dem Eifer des Konvertiten eingeführt hat, wird inzwischen eine flächendeckende Gesundheitsversorgung angestrebt. Dagegen sind Länder wie Frankreich oder Deutschland gerade dabei, die Rolle des Staats zu begrenzen und das Solidarprinzip bei der gesetzlichen Krankenversicherung abzuschaffen. Erstaunliche Gegenläufigkeit der Geschichte: Das US-amerikanische Modell hat sich zwar als nicht tauglich erwiesen, aber die Logik des Markts ist trotzdem richtungsweisend geblieben – auch wenn gelegentlich wieder die Rückkehr zu staatlichen Regulierungen gefordert wird.

Im Jahr 2007 gaben die US-Bürger 15,3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus und standen damit im weltweiten Vergleich auf Platz zwei. Doch in der Kategorie „gesunde Lebenserwartung“1 der Weltgesundheitsorganisation WHO belegen sie mit 70 Jahren nur Rang 30. Sicher lässt sich eine solche Diskrepanz nicht nur auf die schlechte soziale Absicherung zurückführen, doch sie macht noch mehr verständlich, warum Präsident Obama die Gesundheitsreform zum zentralen Anliegen seiner Regierung erklärt hat. Indes ist immer noch unsicher, ob er sich gegen die Reformgegner durchsetzen kann, um endlich 31 Millionen US-Bürgern eine Krankenversicherung zu ermöglichen.2

Erste Krankenversicherung im deutschen Kaiserreich

Erst in der Spätphase der Industriellen Revolution entstanden in Westeuropa staatliche Sozialversicherungssysteme – das erste Krankenversicherungsgesetz wurde 1883 in Deutschland erlassen: Damit der „Soldat der Arbeit“ (Reichskanzler Bismarck) auch im Krankheitsfall versorgt war, wurde eine Versicherungspflicht eingeführt. Die Kosten für die Beiträge zu einer Orts- oder Betriebskrankenkasse übernahm damals zu zwei Dritteln der Arbeitnehmer und zu einem Drittel der Arbeitgeber.

Politik und Wirtschaft im damaligen Kaiserreich verfolgten mit der sozialen Absicherung die gleichen Ziele: Für die ermüdende und körperlich schwere Fabrikarbeit brauchte man gesunde und zufriedene Arbeiter, die nicht gegen die bestehenden Herrschafts- und Besitzverhältnisse aufbegehrten. Mit diesem strategischen Schachzug machte sich Bismarck auch die Forderungen der Sozialdemokratie zu eigen. Als „Zuckerbrot und Peitsche“ geißelten daher die beiden sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Innenpolitik des Reichskanzlers, der die Sozialgesetzgebung vorantrieb – 1884 folgten die Unfall- und 1889 die Alters- und Invaliditätsversicherung –, während zwischen 1878 und 1890 ihre Partei durch die „Sozialistengesetze“ praktisch verboten war. Ihre Anhänger wurden verfolgt und ins Exil getrieben.

Das Argument, dass der soziale Frieden bewahrt werden müsse, begleitete auch die Wiederherstellung beziehungsweise den Neuaufbau der verschiedenen Sozialversicherungssysteme nach dem Zweiten Weltkrieg. So heißt es zum Beispiel im Protokoll der provisorischen beratenden Versammlung Frankreichs (Assemblée consultative provisoire) vom 5. Juli 1945, dass die Sozialversicherung die Aufgabe habe, „den Arbeitern die Sorge um die Unwägbarkeiten Zukunft zu nehmen (…), die bei ihnen das Gefühl der Unterlegenheit entstehen lässt, aufgrund des Klassenunterschieds zwischen den Besitzenden, die sich ihrer selbst und ihrer Zukunft sicher sind, und den Arbeitern, die das Elend beständig vor Augen haben“.3

Das „Recht auf Gesundheit“ – erstmals festgeschrieben in der Satzung der 1948 gegründeten WHO und ergänzt durch die von 184 Staaten verabschiedete Erklärung von Alma-Ata 1978 als „Recht auf Gesundheit für alle“ – ist zwar ein weltweit anerkanntes Versprechen, aber die Ungleichheiten unter den Nationen sind immens: Trotz medizinischer Fortschritte ist in 31 Ländern, darunter Südafrika, Botswana, Gabun, aber auch in Russland und der Ukraine, die Lebenserwartung zwischen 1990 und 2007 gesunken. Schlusslicht ist immer noch Afrika: In Sierra Leone liegt die „gesunde Lebenserwartung“ bei 35 Jahren, in Angola und der Demokratischen Republik Kongo bei 45 Jahren. Am oberen Ende der Skala steht Japan mit durchschnittlich 76 Jahren.

Man darf nicht vergessen, dass in manchen Ländern auch die zahlreichen blutigen Konflikte, Kriege und Naturkatastrophen für den frühen Tod verantwortlich sind. Gerade in Flüchtlingslagern breiten sich schnell Seuchen aus, weil es kein sauberes Trinkwasser gibt. Haupttodesursachen in den Ländern des Südens – in Afrika und einigen Ländern Asiens wie Osttimor, Laos, Bangladesch, Birma etc. – sind jedoch Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose, Durchfallerkrankungen oder Aids (siehe Grafik „Woran die Menschen sterben“), die größtenteils behandelbar wären, wenn es genügend medizinisches Personal, die richtigen Medikamente und praktikable Lösungen für das Abwasserproblem gäbe.4

Steigt der Lebensstandard, gehen epidemisch auftretende Infektionskrankheiten zurück. Diese Entwicklung, die sich in Westeuropa über mehr als drei Jahrhunderte, von etwa 1650 bis 1900, vollzog, bezeichnen die Sozialwissenschaften als „epidemiologischen Übergang“. Heute sterben die Menschen in den Industrie- und Schwellenländern an Krebs, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen oder an Diabetes und anderen chronischen Krankheiten.

Länder wie Ghana, Südafrika oder Pakistan, wo in den letzten Jahren eine Mittelschicht entstanden ist, verzeichnen ebenfalls eine Zunahme sogenannter Wohlstandskrankheiten. Dagegen sind in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tödliche Infektionskrankheiten wie Tuberkulose zurückgekehrt, die in den Industrieländern eigentlich als besiegt galten. Dass die Zahl der Neuerkrankungen hier steigt, liegt unter anderem an dem maroden Gesundheitssystem; so wurden die zuvor üblichen Reihenuntersuchungen zur Tbc-Früherkennung unterlassen, die eine Ausbreitung der Krankheit verhindern können.

90 Prozent der weltweiten Gesundheitsausgaben entfallen auf die 30 Mitgliedsländer der OECD, in denen 20 Prozent der Weltbevölkerung leben. Hier ist die Lebenserwartung am höchsten. In Subsahara-Afrika hingegen, wo 12 Prozent der Weltbevölkerung leben, liegt der Anteil an den globalen Gesundheitsausgaben unter einem Prozent5 – in der Demokratischen Republik Kongo fließen 2,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Gesundheitsausgaben, in Sierra Leone etwa 4 Prozent. Das ist definitiv zu wenig.

Das US-amerikanische Beispiel hingegen zeigt, wie die vorhandenen Mittel einfach falsch eingesetzt werden. Man muss also darüber nachdenken, wie die Gesundheitsausgaben besser verteilt werden können. Erst kürzlich äußerte sich zu diesem Thema Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, der gemeinsam mit Joseph Stiglitz eine von Präsident Sarkozy eingesetzte Kommission zur Bestimmung von Wohlstandsindikatoren leitet: „Alle sollten sich darauf verständigen können, dass Ungerechtigkeiten wie eine mangelhafte medizinische Versorgung und fehlende Medikamente abgeschafft werden könnten. Dazu muss man sich nicht erst darauf einigen, welches die Beste der möglichen Gesellschaftsformen sein könnte (…). Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus wurde einst das Ende der Sklaverei gefordert. Genauso müssen wir uns heute fragen, was an unserem System ungerecht ist.“6

Es lassen sich heute weltweit drei große Formen von Gesundheitssystemen unterscheiden: das aus der Kolonialzeit übernommene, das postsowjetische und schließlich das System der Industrieländer, die von den Schwellenländern in abgewandelter Form übernommen wurden:

Ein Erbe des Kolonialismus ist das Gesundheitswesen in den 79 Mitgliedsländern der Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP), das pyramidenförmig aufgebaut ist: Auf der untersten Stufe sind Ambulanzen, teilweise auch mobile Sanitätsdienste zuständig, als nächste Anlaufstelle fungieren öffentliche Krankenhäuser, und an der Spitze der Pyramide gibt es einige wenige Spezial- und Universitätskliniken. Bis Mitte der 1980er-Jahre ließ sich dieses System aus staatlichen Mitteln und internationaler Entwicklungshilfe einigermaßen finanzieren. Danach büßten jedoch viele Regierungen unter der „schädlichen Arithmetik des IWF“ (Joseph Stiglitz)7 ihre ökonomische Entscheidungsfreiheit ein.

Blinddarm-Operationen als Schwarzarbeit

So heißt es im WHO-Bericht von 2008, dass „die Strukturanpassungen [auf Betreiben von IWF und Weltbank] das staatliche Gesundheitssystem stark beeinträchtigt“ und dazu geführt hätten, dass die Angebote an privaten und staatlichen medizinischen Dienstleistungen weit auseinanderklaffen. Die deregulierte Marktanpassung der Gesundheitssysteme habe diese nicht nur ineffizient und kostspielig gemacht: „Sie verschärft die Ungleichheit und führt zu mangelhaften und mitunter gefährlichen medizinischen Behandlungen.“ Als Beispiel wird die sogenannte chirurgische Safari in der Demokratischen Republik Kongo angeführt: Ärzte gehen zu Patienten – zum Beispiel mit Blinddarmentzündung – nach Hause und operieren sie dort „schwarz“ und gegen teures Geld.

Die internationalen Hilfen durch WHO, Unicef, UNO, bilaterale Programme und große Stiftungen sind natürlich ungeheuer wichtig. Doch wenn viele verschiedene Geldgeber mitentscheiden wollen, wird es manchmal schwierig, ein Projekt umzusetzen. Sichtbare Verbesserungen, wenn überhaupt, betreffen meistens Neubau und Renovierung von Gesundheitszentren und Kliniken. Die folgende Geschichte ist bezeichnend: Bekanntlich versuchen einige Länder seit Anfang des Jahres 2010 ihre überschüssigen Vorräte an H1N1-Impfstoff loszuwerden. Der WHO zufolge würden sie „85 arme Länder dringend brauchen“. Trotzdem haben wegen administrativer Probleme Anfang Januar nur zwei Länder den Impfstoff erhalten.8 Abgesehen davon, dass man an den Hochrechnungen der WHO zur Schweinegrippe-Pandemie Zweifel hegen kann, weil hier sicherlich der Einfluss der Pharmaindustrie eine größere Rolle gespielt hat als die medizinische Wirklichkeit, ist diese Ineffizienz bemerkenswert.

Der Aufbau von Kliniken ist ungemein wichtig, aber für erfolgreiche Behandlungen sind auch andere Faktoren wichtig: „Den medizinischen Einrichtungen und Diensten mangelt es zuweilen an kultureller Sensibilität“, stellt eine Bilanz zum 60. Jahrestag des „Rechts auf Gesundheit“ fest, die in der unabhängigen Fachzeitschrift The Lan-cet erschien.9 In Peru scheiterten zum Beispiel über einen längeren Zeitraum sämtliche Programme zur Bekämpfung der Müttersterblichkeit, bis man darauf kam, die Frauen in der Haltung gebären zu lassen, die sie gewohnt waren, und die medizinische Betreuung entsprechend anzupassen. Das ist nichts als gesunder Menschenverstand.

Die Kolonialmächte exportierten ihre Behandlungsmethoden nach Afrika und Indien, ohne sich um lokale Kenntnisse und Praktiken zu kümmern (wenn sie sie nicht sogar bekämpften). Im China unter Mao Tse-tung ging man den entgegengesetzten Weg, orientierte sich an der traditionellen Medizin, gekoppelt mit westlichen Therapieformen, und konnte so einige Infektionskrankheiten eindämmen.

Der zweite Form der Gesundheitsversorgung findet sich in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Deren Fundament bildeten die großen Krankenhäuser, die sogenannten Sanatorien. Wohnortnahe medizinische Versorgung existierte praktisch nicht. Dieses System war bereits zu Sowjetzeiten wenig effizient, es kollabierte vollends, als mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und dem Übergang zum Marktliberalismus die staatlichen Mittel ausblieben.

Verarmung und der Verlust des kollektiven Rückhalts führten verstärkt zu Risikoverhalten (Gewalt, Alkoholismus etc.). Gleichzeitig standen immer weniger Mittel für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung: Es gab keine kostenlosen Medikamente mehr, die Geräte veralteten, die Krankenhäuser wurden privatisiert. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland sank von 69 Jahren 1990 auf 66 Jahre (die „gesunde Lebenserwartung“ auf 60) im Jahr 2007; in der Ukraine sank sie von 70 auf 68 Jahre und in Kasachstan von 65 auf 64 Jahre (hier liegt die „gesunde Lebenserwartung“ bei 56 Jahren).

Aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung tauchten in den letzten Jahren vermehrt Krankheiten auf, die von mutierten Erregern ausgelöst werden, wie die multiresistente Tuberkulose. Sie grassiert besonders in den überfüllten Gefängnissen Russlands, wo Promiskuität und falsche Behandlung die Ansteckungsgefahr erhöhen. Doch die Anstrengungen, in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion mehr Kliniken für die medizinische Grundversorgung einzurichten und ein funktionierendes Sozialversicherungssystem aufzubauen, waren bislang nicht sonderlich erfolgreich.

Bleiben die Industrieländer, wo ein breites Angebot an Allgemeinärzten, Fachärzten, Krankenhäusern und hochspezialisierten Kliniken zur Verfügung steht. Innerhalb dieser Gruppe lassen sich noch einmal drei Typen von Gesundheitssystemen unterscheiden: 1. nationale, staatlich finanzierte Gesundheitsdienste (in Australien, Dänemark, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Island, Irland, Italien, Kanada, Neuseeland, Norwegen, Portugal, Spanien und Schweden); 2. Sozialversicherungssysteme mit gesetzlichen oder privaten Kassen. Hier teilen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Beitragskosten (in Deutschland, Frankreich, Japan, Luxemburg, in den Niederlanden, Österreich und – teilweise – der Schweiz, wo die obligatorische Grundsicherung über einkommensunabhängige Kopfpauschalen finanziert wird); 3. Systeme, die vorwiegend privat organisiert sind und in denen es keine gesetzliche Versicherung gibt (in den USA und einigen mitteleuropäischen Ländern).

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt in Westeuropa der Grundsatz, dass jeder seinen Einkünften und nicht seinem Gesundheitszustand entsprechend in das System einzahlen, aber seinem Gesundheitszustand und nicht seinen Einkünften entsprechend behandelt werden soll. Dieses großzügig gedachte Prinzip wurde im Lauf der Zeit schwer beschnitten.

Viel Geld ausgeben macht nicht gesünder

So merkwürdig es scheinen mag: In all diesen Ländern entspricht die Höhe der Gesundheitsausgaben nicht dem Gesundheitszustand und der Lebenserwartung der Bevölkerung. Er reicht anscheinend nicht, mehr Geld auszugeben, um länger zu leben. So investieren die Japaner, wo die gesunde Lebenserwartung bei 76 Jahren liegt, nur 8,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Gesundheitsausgaben – weniger als die Franzosen (11 Prozent bei einer gesunden Lebenserwartung von 73 Jahren), Deutschen (10,6 Prozent/73 Jahre), die Schweizer (10,8 Prozent/73 Jahre), Schweden (9,2 Prozent/74 Jahre) oder Briten (8,2 Prozent/72 Jahre). Die gesunde Lebenserwartung hängt eben auch davon ab, wie man lebt, arbeitet und sich ernährt.

Auf die Kosten eines Gesundheitssystems wirken sich unmittelbar folgende Faktoren aus: Preiskontrolle bei Arzneimitteln, die Organisation der Beziehungen zwischen Arzt und Patienten und der Stellenwert von Vorsorgeuntersuchungen. Die US-Amerikaner geben mit Abstand am meisten für pharmazeutische Produkte aus (doppelt so viel wie die OECD-Länder im Durchschnitt), vor Kanada, Griechenland und Frankreich (hier verbindet sich ein großer Verbrauch mit einem hohen Preisniveau). Ein Spitzenreiter im Verschreiben von Medikamenten ist China mit dem weltweit zweitgrößten Pharmamarkt. Die schlecht bezahlten chinesischen Ärzte dürfen nämlich die Arzneimittel, die sie verschreiben, selbst verkaufen, und eine großzügige Rezeptgestaltung ist eine beliebte Methode, um das Einkommen aufzubessern.

In Schweden, Norwegen und Großbritannien gibt es eine garantierte Kostenfreiheit auf Basisleistungen. Die medizinischen Einrichtungen sind öffentlich. Die meisten Ärzte beziehen daher vom Staat oder der Kommune ein festes Gehalt. In diesem System gibt es etwa halb so viel niedergelassene Ärzte wie in Frankreich oder Deutschland, die nach einem Leistungskatalog honoriert werden. Es liegt auf der Hand, dass in Zeiten schrumpfender öffentlicher Haushalte die Wartelisten für medizinische Behandlungen immer länger werden: 2001 bekamen in Großbritannien 22 Prozent der Patienten erst nach mehr als drei Monaten (13 Wochen genau) einen Sprechstundentermin im Krankenhaus, und 27 Prozent warteten ein halbes Jahr auf ihre Operation.10 Seitdem hat die Labour-Regierung, wenn auch zögerlich, die Mittel für das Gesundheitssystem aufgestockt (mehr Stellen für Ärzten und Krankenschwestern, Gehaltserhöhungen, Investitionen). Die Situation hat sich gebessert, ist aber nach wie vor schlechter als in Schweden oder Norwegen, wo es eine hochwertige medizinische Versorgung für alle gibt.

Also führt – entgegen der Auffassung, dass es der Markt ist, der alles richtet – nicht etwa das staatliche System als solches zum Desaster, sondern die Untätigkeit desselben. Außerdem sind die gesamten Gesundheitskosten eines Landes häufig niedriger, wenn gesetzliche Krankenkassen die Regel sind und der private Anteil (gezahlt von den Privathaushalten und/oder Privatversicherungen) an den Gesamtausgaben möglichst gering ist, wie etwa in Schweden mit 18,3 Prozent oder in Japan mit 18,7 Prozent im Vergleich zu Deutschland mit 23,1 Prozent und den USA mit sogar über 50 Prozent.

Das Gesundheitssystem in den USA, das bekannt ist für sein serienmäßiges Versagen, so dass zuweilen sogar von einem „Nichtsystem“ gesprochen wird, führt es vor: Für die arbeitende Bevölkerung hängt die Versicherung am Arbeitgeber, der die mit einer privaten Gesellschaft ausgehandelten Leistungen mitträgt. Zwei Drittel der Arbeitnehmer ist auf diese Weise versorgt. Selbständige, Teilzeitbeschäftigte oder Angestellte in kleinen Unternehmen müssen sehr viel teurere individuelle Versicherungen abschließen und verzichten daher häufig ganz auf einen Versicherungsschutz.

Die Logik ist grausam: Außerhalb eines Unternehmens gibt es keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen. Mit den steigenden Arbeitslosenzahlen, die mittlerweile die 10-Prozent-Marke weit überschritten haben, verschärft sich das Problem. Rentner ab 65 Jahren können zwar der staatlichen Krankenversicherung Medicare beitreten, die eine medizinische Minimalversorgung gewährleistet. Und die ärmsten Mitbürger können Medicaid beantragen, ein Fürsorgeprogramm für Geringverdiener, Kinder und behinderte Patienten, das allerdings in jedem Bundesstaat anders organisiert ist. Für diejenigen aber, die in keine der Kategorien passen, gibt es nichts. So steht ein Sechstel der US-Bevölkerung ohne Versicherungsschutz da. Gegen diesen Notstand will Barack Obama angehen.

Die Ungleichbehandlung ist – trotz der hochspezialisierten Medizin – gewaltig: In den USA haben weiße Frauen aus den reichsten Wohnvierteln eine Lebenserwartung von 86 Jahren, während schwarze Frauen aus den ärmsten Vierteln kaum das 70. Lebensjahr erreichen.11 Ein Unterschied von immerhin 16 Jahren. Die WHO hat ausgerechnet, dass es „zwischen 1991 und 2000 886 202 Tote weniger hätte geben können, wenn die Sterblichkeitsrate der Afroamerikaner auf dem gleichen Niveau läge wie die der weißen Amerikaner“, während, so die WHO-Studie weiter, „durch den medizinischen Fortschritt 176 633 Menschenleben gerettet wurden“.12 Ein anderes Beispiel aus der Studie: Im schottischen Glasgow beträgt die Lebenserwartung in manchen armen Vierteln 54 Jahre, das ist niedriger als in manchen Teilen von Indien.

Solche niederschmetternden Zahlen haben aber nicht nur gesundheitspolitische oder finanzielle Ursachen. Gerade in den sozial schwachen Bevölkerungsgruppen häufen sich die Benachteiligungen: „Mangelhafte Ausbildung, fehlende soziale Einrichtungen, Arbeitslosigkeit, unsichere Arbeitsverhältnisse, schlechte Arbeitsbedingungen, gefährliche Wohnviertel und die Auswirkungen all dessen auf das familiäre Zusammenleben.“ Hinzu kommen ein mangelndes Selbstwertgefühl und Zukunftsängste. In den reichen Ländern arm zu sein, schadet ernsthaft der Gesundheit.

Erschrocken über ihren eigenen Befund nehmen die in ihrer Wortwahl sonst eher diplomatischen WHO-Experten kein Blatt vor den Mund: „Diese Ungleichheit ist keinesfalls ein ‚natürliches‘ Phänomen; sie ist das Ergebnis einer Politik, die die Interessen einer mächtigen und reichen Minderheit gegenüber den Interessen einer mittellosen Mehrheit bevorzugt.“

Selbst die OECD, die die allgemeine Deregulierung vorangetrieben hat, muss zugeben, dass die Privatisierung im Gesundheitswesen die Situation verschlechtert hat: „Inzwischen sind nur noch ein paar unverbesserliche Neoliberale der Auffassung, dass Wettbewerb die geeignete Lösung bietet.“13 Deren Experten gehen sogar so weit, zu erwägen, ob „die Gesellschaft, um die Missstände zu beheben, möglicherweise marktregulierende Maßnahmen ergreifen und im Extremfall vielleicht sogar den Markt aufgeben muss, um eine andere Verteilung der Mittel zu erreichen“.

Zu rosigen Träumen jedoch gibt es keinen Anlass. In den Vereinigten Staaten hat die privaten Versicherungsbranche eine gute Lobby und auch bei den Demokraten genügend Fürsprecher, so dass sie hoffen kann, ihre Privilegien zu retten.14

In Deutschland und Frankreich schreitet die Privatisierung der Krankenhäuser immer weiter voran – bis 2012 sollen in den öffentlichen Krankenhäusern im Großraum Paris insgesamt 4 000 Stellen eingespart werden. Frankreichs gesetzliche Krankenversicherung kam 1980 für bis zu 76,5 Prozent der Gesundheitsausgaben auf, inzwischen trägt sie nur noch 73,9 Prozent. Das ist ein Durchschnittswert: Die Therapiekosten für Schwerkranke (Krebs etc.) werden noch fast vollständig von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, wohingegen die Behandlung häufiger Kurzerkrankungen, von denen der Großteil der Bevölkerung betroffen ist, nur noch zu 55 Prozent übernommen wird.15 Die Privatisierung der Gesundheitsversorgung schreitet also fort.

Fußnoten: 1 Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2009: www.who.int/whosis/whostat/2009/en/index.html. „Gesunde Lebenserwartung“ ist die Lebenserwartung ohne schwerwiegende Krankheiten. Sie ist niedriger als die allgemeine Lebenserwartung. 2 Der Gesundheitsgipfel vom 25. Februar 2010, zu dem Präsident Obama vor laufender Kamera die Republikaner eingeladen hatte, hat die Positionen eher verhärtet. 3 „La Sécurité sociale. Son histoire à travers les textes“, Bd. III, 1945–1981, unter der Leitung von Alain Barjot, Association pour l’étude de l’histoire de la sécurité sociale, Ministère du travail et des affaires sociales, Paris 1997. 4 Siehe Maggie Black, „Klos für die Welt. Lösungen für das globale Abwasserproblem“, Le Monde diplomatique, Februar 2010. 5 Weltbank-Angaben aus dem Jahr 2006. 6 Interview auf France Inter, 13. Januar 2010. Siehe „L’Idée de justice“, Paris (Flammarion) 2010. 7 Siehe Joseph Stiglitz, „Die schädliche Arithmetik des IWF. Warum Äthiopien nicht in neue Schulen und Kliniken investieren durfte“, in: „Afrika. Stolz & Vorurteil“, Edition Le Monde diplomatique, Nr. 5, Berlin (taz Verlag) 2009. 8 Siehe Donald G. McNeil Jr., „Poor nations still getting little flu vaccine“, International Herald Tribune, 19. Januar 2010. 9 „Health systems and the right to health: an assessment of 194 countries“, The Lancet, London, 13. Dezember 2008. Es gibt inzwischen auch eine deutsche Lancet-Initiative, die unter www.thelancet.de wöchentliche Zusammenfassungen der wichtigsten Veröffentlichungen im Lancet auf Deutsch veröffentlicht. 10 Bruno Palier, „La réforme des systèmes de santé“, neue Ausgabe, Paris (Que sais-je) 2009. 11 Richard G. Wilkinson, „The impact of inequality. How to Make Sick Societies Healthier“, New York, London (The New Press) 2005. 12 „Closing the Gap in a Generation: Health Equity through Action on the Social Determinants of Health“, WHO-Report 2008. 13 „Achieving Better Value for Money in Health Care“, OECD, 2009. 14 Siehe auch: Olivier Appaix, „Jung sterben in der Neuen Welt“ in: „USA. Das vermessene Imperium“, Edition Le Monde diplomatique, Nr. 3, Berlin (taz Verlag) 2008. 15 Die Differenz kann von Zusatzkassen und -versicherungen übernommen werden. Nach einer Allensbach-Umfrage von 2008/09 haben in Deutschland 29 Prozent der Befragten (18 310 Personen) eine private Zusatzversicherung.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Martine Bulard ist stellvertretende Chefredakteurin von Le Monde diplomatique, Paris. Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Olivier Appaix und Ilka Vari-Lavoisier.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Martine Bulard