Der Körper des Duce
Das Grab von Mussolini ist heute eine Pilgerstätte für Faschisten von Amos Elon
Predappio ist eine ruhige Kleinstadt mit etwa 6 000 Einwohnern in der reichen italienischen Provinz Emilia-Romagna. Bekannt ist sie vor allem wegen ihres alljährlich stattfindenden Singvogelmarkts und weil hier 1883 Benito Mussolini geboren und – lange nach seinem gewaltsamen Tod im Jahr 1945 – in einer fürstlichen unterirdischen Gruft begraben wurde. Dreimal im Jahr kommen heute in Predappio seine unverbesserlichen Anhänger zusammen, um ihres Helden zu gedenken.
Erbaut haben die Gruft die beiden Architekten Florestano di Fausto und Cesare Bassani im Jahr 1930, in einer Zeit, als der Duce große Popularität genoss – soweit sich das beim Führer eines Einparteienstaates, in dem keine Pressefreiheit besteht, überhaupt ermessen lässt. Der Duce wurde damals sowohl von Winston Churchill als auch von Adolf Hitler hofiert. Der Papst nannte ihn einen „Mann der Vorsehung“, der Präsident der New Yorker Columbia University verglich ihn mit Oliver Cromwell, und der Bostoner Kardinal O’Connell erklärte, er sei „ein Genie in der Kunst des Regierens und von Gott gesandt“.1
Dass Mussolini an die Macht kommen konnte, hat verschiedene Gründe, eine maßgebliche Rolle spielte jedoch die Gewalt – und die Angst vor noch mehr Gewalt. Nachdem der Faschistenchef Ende Oktober 1922 mit zehntausenden seiner Schwarzhemden den „Marsch auf Rom“ durchgeführt hatte, übertrug ihm der verängstigte König Viktor Emanuel III. das Amt des Ministerpräsidenten. Vor den Abgeordneten des italienischen Parlaments drohte Mussolini: „Ich hätte dieses taube, graue Haus zum Biwak für meine Legionen machen können. Ich hätte dieses Parlament einfach zumachen und eine Regierung nur aus Faschisten bilden können. Ich hätte es tun können, aber ich wollte das nicht, oder zumindest noch nicht.“2
So begann sein Aufstieg zum Diktator, der auch ohne faschistische Parlamentsmehrheit möglich wurde, weil Mussolini seine wichtigsten politischen Gegner einschüchterte und umbringen ließ. Einige wurden eingesperrt oder auf einsame Inseln verbannt, andere flohen ins Ausland. Seinen mächtigsten Gegner, den Sozialisten Giacomo Matteotti, ließ er im Juni 1924 von einem faschistischen Stoßtrupp entführen und ermorden.
Wie andere Diktatoren auch ließ Mussolini Straßen und Brücken bauen, Sümpfe trockenlegen und Brachland urbar machen. Er stabilisierte kurzfristig die Währung und die Wirtschaft –, führte Italien aber in die vielleicht schlimmste Katastrophe, die das Land seit dem Einfall der Hunnen erlebt hatte: über 500 000 Tote, Städte in Schutt und Asche, vernichtete Infrastrukturen, zerstörte historische Denkmäler und Kunstwerke. Den Albanienfeldzug, mit dem alles anfing, begann er gegen den Rat seiner Generäle, die wussten, wie schlecht die Armee ausgerüstet und ausgebildet war. Seine Kriegsschiffe waren schnell und prächtig anzusehen, aber nur unzureichend gegen Torpedos und Granaten gepanzert. Seine Luftwaffe war veraltet und hatte für nur 60 Tage Treibstoffreserven. Und er hatte nicht die behaupteten 8 Millionen Soldaten, sondern nur knapp 2 Millionen.
Dass ein solcher Mann sechzig Jahre nach seinem erbärmlichen Ende noch immer Bewunderer findet, ist schwer zu erklären. Seit 1946 kamen in Predappio und anderen Städten Italiens zu den üblichen Gedenktagen merkwürdige Menschen zusammen: Männer in dunklen Anzügen und Krawatten, die behaupten, Mussolini sei „ein großer Mann“ gewesen, Skinheads, neugierige Touristen und Nekrophile. Der Ansturm hält die Polizei auf Trab und bringt die Stadt in Verruf. Am letzten Geburtstag, dem 29. Juli 2005, beklagte sich die Stadtverwaltung auf der Titelseite der führenden Regionalzeitung über den ständig wiederkehrenden Albtraum.
1945 hieß es, vor Mussolinis Tod seien die meisten Italiener Faschisten gewesen, tags darauf überzeugte Demokraten. In Wirklichkeit tobte zwischen 1943 und 1945 ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den Faschisten und verschiedenen antifaschistischen Kräften: Kommunisten, Katholiken, Sozialisten, Liberalen und Monarchisten. Nach 1945 begann ein zweiter Bürgerkrieg, der offenbar noch traumatischer war als der erste und bis 1947 dauerte. In Norditalien und im „Todesdreieck“ Modena–Reggio–Bologna verstanden die kommunistischen Partisanen den antifaschistischen Widerstand als Klassenkrieg.
Der italienische Kommunismus war immer revolutionär gewesen und hatte immer einen gewaltsamen Umsturz angestrebt. Die kommunistischen Partisanen bekämpften folglich nicht nur faschistische Honoratioren, sondern vornehmlich Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Industrielle, Grundbesitzer, Bauern und Priester. Diesen Säuberungsaktionen fielen hunderte, wenn nicht sogar tausende von „Klassenfeinden“ zum Opfer. Endgültig eingestellt wurden sie erst 1947, als am Vorabend der allgemeinen Wahlen der Anführer der kommunistischen PCI, Palmiro Togliatti, in einer berühmt gewordenen Rede in Reggio mahnte, dass diese Aktionen den Ruf der Partei schädigten.
Die Nachwirkungen dieses Bürgerkriegs sind in der Politik und Kultur Italiens bis heute spürbar. Mussolini hatte eine ganze Generation so nachhaltig geprägt, dass er noch weit über seinen Tod hinaus ein wichtiger Bezugspunkt blieb. Weder die extreme Rechte noch die kommunistische Linke (PCI) boten Italien ein glaubwürdiges Modell demokratischen Regierens. Und auch die Christdemokraten (Democrazia Cristiana, DC) konnten diese Rolle nur zum Teil ausfüllen, weil die Mehrzahl ihrer Wähler einst mit den Faschisten zumindest sympathisiert hatte. Anders als in Deutschland blieben in der neuen italienischen Republik fast alle Präfekten und Staatsanwälte im Amt. Wann immer es um das faschistische Erbe Italiens ging, leisteten sich die christdemokratischen Regierungen eine Peinlichkeit nach der anderen.
Die Leute in Predappio reagieren mit gemischten Gefühlen auf die Mussolini-Verehrer, die drei- oder viermal im Jahr in voll besetzten Bussen und Autos angereist kommen – die meisten sehen sie als Belästigung. Bei den jüngsten Kommunalwahlen haben trotzdem immerhin 19 Prozent für die Alleanza Nationale (AN) gestimmt, also für die – vornehmlich aus wahltaktischen Gründen – reformierte Nachfolgepartei des Movimento Sociale Italiano (MSI), der noch eine offen neofaschistische Partei war. Gianfranco Fini, der Vorsitzende der Alleanza, war bis zur Auflösung des MSI 1995 dessen Vorsitzender gewesen. Heute ist er Außenminister in der Regierung Berlusconi.
Auch Fini pilgerte vor seinem gut zehn Jahre zurückliegenden demokratischen Erweckungserlebnis gern nach Predappio. Noch 1994 bezeichnete er Mussolini als den größten europäischen Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile hat er eingeräumt, dass der großartige Mann auch ein paar Fehler gemacht habe, vor allem mit den Rassengesetzen von 1938 – wofür sich Israel mit offiziellen Ehren erkenntlich zeigte. Und Ariel Scharon feierte Fini als Israels besten Freund in einem zunehmend antisemitischen Europa.
Mehr als 100 000 Menschen besuchen die Gruft jedes Jahr, erzählt die Dame im Informationsbüro von Predappio, aus anderen Gründen komme kaum jemand hierher. Viele Besucher sehnen sich nach der Zeit zurück, als Italien noch, wie sie sagen, von „richtigen Männern“ regiert wurde. Andere reisen an, um gegen den angeblichen Ansturm der Arbeitsmigranten aus Albanien, Afrika und dem Nahen Osten zu protestieren. Sie tragen schwarze T-Shirts mit einem Mussolini-Konterfei und dem Slogan „Proteggi il tuo simile, distruggi tutto il resto“ (Beschütze deinesgleichen – vernichte den Rest). Dann gibt es noch die verdrossenen Kriegsveteranen in dunklem Anzug, die Brust mit Kriegsorden voll gehängt. Und die lärmenden Haufen von brutalen Schlägertypen, teils mit glatt rasiertem Kopf, tätowierten Muskeln und Piercing in der Nase. Sie tragen die Schwarzhemden, die in Souvenirläden verkauft werden und Aufschriften wie „Viva Italia!“, „Viva il Duce!“ oder „Skinheads d’Italia“ tragen. Wenn sie das Mausoleum betreten, knallen sie die Hacken zusammen und strecken den Arm zum Faschistengruß in die Luft; und wenn sie vor dem Grab des Duce stehen, legen sie die Hände an die Hosennaht.
Der Faschistengruß ist in Italien verboten, aber das betreffende Gesetz wird kaum angewandt. Letztes Jahr hat Paolo Di Canio, der Kapitän der Fußballmannschaft von Lazio Rom, seine Fans auf den Tribünen mit hochgerecktem Arm gegrüßt und dafür lediglich ein paar hundert Euro Geldstrafe kassiert, die angeblich Finis Ehefrau und zwei Parlamentarier der Alleanza Nazionale bezahlt haben.
Die linke Koalition, die im Stadtrat von Predappio seit 1949 die Mehrheit behauptet, konnte die Pilgerflut zwar nicht eindämmen, aber sie hat dem breiten Boulevard, der zum Grab hinführt, den Namen „Via Martiri della Libertà“, „Straße der Märtyrer des Friedens“ gegeben, um die Partisanen als entschlossenste Gegner des Duce zu ehren.
Am Tag vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte ein Partisanentrupp Mussolini gefangen genommen, als dieser, bekleidet mit einem deutschen Militärmantel und tief ins Gesicht gezogenem Hut, fliehen wollte. Der Mann, der einmal geschrieben hatte: „Se avanzo, seguitemi, se indietreggio, uccidetemi!“ (Wenn ich voranschreite, folget mir; wenn ich den Rückzug antrete, tötet mich!), hatte Frau und Kinder zurückgelassen und war in Begleitung seiner Geliebten Claretta Petacci auf der Flucht in Richtung Schweiz, beladen mit Goldbarren, Juwelen, Schweizer Franken, britischen Pfund und US-Dollars, die er sich von der italienischen Nationalbank geholt hatte, im heutigen Gesamtwert von umgerechnet rund 2 Milliarden Dollar. Niemand weiß, wo dieser Schatz abgeblieben ist. Gerüchte behaupteten, die Kommunisten hätten damit ihre Partei finanziert.
Der Kommandeur dieser Partisanengruppe, Walter Audisio, der nach dem Krieg für die kommunistische PCI im Parlament saß, erschoss Mussolini und Petacci vor der Einfahrt einer Luxusvilla am Comer See. Am darauffolgenden Morgen brachten Audisios Leute die Leichen in das befreite Milano und luden sie wie Müllsäcke auf der Piazza Loreto ab, wo zwei Tage zuvor die Nazis mit den Leichen erschossener Partisanen dasselbe gemacht hatten. Jetzt kamen Mailänder Männer und Frauen, trampelten auf den beiden Leichen herum. Eine Frau versuchte, den Schädel des Duce mit einem Hammer zu zertrümmern. Schließlich wurden sie kopfüber am Vordach einer Tankstelle aufgehängt, die Hände hingen wie in einer Geste der bedingungslosen Kapitulation nach unten. Bei der anschließenden Autopsie ließ man die Türen des Leichenschauhauses bewusst offen, damit jeder, der wollte, zusehen konnte – wie die Krankenschwestern sich Mussolinis Leber zuwarfen. Der amerikanische Kulturkritiker Edmund Wilson, der ein paar Wochen später nach Mailand kam, vermerkte in seinem Tagebuch, der Gestank dieser Leichenschändung hänge noch immer über der Stadt: „Immer wieder wird man in den Cafés von Italienern angesprochen und bekommt Fotos gezeigt, die sie von der Szene gemacht hatten.“3
Der Leichnam Mussolinis wurde hastig in ein nicht gekennzeichnetes Grab entsorgt. Wenige Monate danach gelang es dem späteren neofaschistischen Abgeordneten Domenico Leccisi, den halb verwesten Leichnam Mussolinis aus dem anonymen Grab in Milano zu entwenden.
Leccisi hatte seine Karriere mit Beiträgen für die faschistische Zeitung Lotta Fascista begonnen, er hatte Plakate für Roberto Rossellinis Antikriegsfilm „Roma, Città Aperta“ angezündet und sich immer neue Dinge einfallen lassen, um den toten Duce in die Medien zu bringen. Einer seiner Komplizen bei der Entwendung der Mussolini-Leiche war Pater Parini, bekannt auch als Beichtvater älterer Damen der Mailänder Gesellschaft. Er hatte Leccisi geholfen, den Leichnam Mussolinis mehrere Monate in einer kleinen Truhe ausgerechnet in der wunderbaren Certosa di Pavia, einem der beliebtesten Touristenziele Italiens, zu lagern.
Leccisi wurde schließlich verhaftet, allerdings nur, weil er Falschgeld in Umlauf gebracht haben soll. Wenig später hat der damalige kommunistische Innenminister Palmiro Togliatti ihn zusammen mit anderen prominenten Faschisten amnestiert. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde Leccisi zu einem Volkshelden. Auch dem Priester sah man seine Beihilfe zur Entwendung von Mussolinis Leichnam am Ende nach.
Erst 1957 wurde das, was von dem Leichnam nach zwölf Jahren und mehrfacher Verlegung noch übrig war, in die Gruft von Predappio verbracht, wo Mussolinis Witwe Rachele einen riesigen steinernen Sarkophag hatte aufstellen lassen. Jahrelang hatte sie die Regierung im Namen christlicher Nächstenliebe gebeten, Mussolini endlich „heimkehren“ zu lassen. Die Regierung wollte Mussolinis Leiche nicht an seine Witwe aushändigen und auch keine öffentliche Beerdigung zulassen. So verschwand der Leichnam wieder, und zwar in einem nahe gelegenen Kapuzinerkloster, wo ihm heimlich ein christliches Begräbnis zuteil wurde.
Dass die Regierung Jahre später dem Drängen der Witwe nachgab, war Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Die christdemokratische Minderheitsregierung unter Adone Zoli brauchte, um ein Misstrauensvotum zu überstehen, die Unterstützung neofaschistischer Abgeordneter. Und die entscheidende Stimme kam damals von keinem anderen als Domenico Leccisi.
Als der Sarg Mussolinis 1957 überführt wurde, strömten Tausende nach Predappio. Ihre Reisebusse wurden auf der Hauptstraße von den Einheimischen mit Steinen beworfen. Dennoch riss der Strom über Wochen nicht ab. Damals wurden die Mussolini-Anhänger von der Polizei gezwungen, die Schwarzhemden abzulegen, bevor sie den Friedhof betraten. Deshalb kamen viele nur im Unterhemd oder mit nacktem Oberkörper – ein Anblick, der an frühere Mussolini-Bilder erinnerte. Denn der Duce hatte sich mit nackter Brust und einem Spaten in der Hand abbilden lassen oder wie er beim Ausheben eines Entwässerungsgrabens anpackte, hoch zu Ross über eine Hecke setzte oder einen Kopfsprung in ein Schwimmbecken vollführte, er hatte als Bauer, Motorradfahrer oder Pilot posiert, einen Tag den Don Juan gegeben und tags darauf den treuen Gatten im Kreise seiner Kinder.
Die Neofaschisten klebten Plakate auf die Häuserwände von Predappio, die verkündeten, dass der Geist des Duce bald von den Toten auferstehen werde. Die politische Kultur des Faschismus war schon immer von einer großen Todesfaszination geprägt. Über ebendiese Faszination lagen, wie der Turiner Historiker Sergio Luzzatto in seinem Buch „Il Corpo del Duce“ (1998) schreibt, die beiden Seelen Italiens nach Ende des Krieges in ständigem Widerstreit.
Was Luzzatto über das Nachwirken des Duce in der italienischen Nachkriegszeit berichtet, ist eine traurige und bisweilen schauerliche Geschichte. Die beiden antagonistischen Erinnerungskulturen prägten das politische Leben der jungen, demokratisch unerfahrenen Republik, „hin- und hergerissen zwischen Unversöhnlichkeit und Nachsicht, Radikalismus und Opportunismus, der Pflicht zur Erinnerung und der Kunst des Vergessens“4 . Eine historische Studie über das Schicksal des Duce-Leichnams ist für ihn schon deshalb bedeutsam, „weil auf dieser Leiche die neue Republik gründete“5 .
Als Luzzattos Buch 1998 herauskam, wurde es in Italien als bedeutsame und zeitgemäße Darstellung gewürdigt. Ein Rezensent des Mailänder Corriere della Sera vermerkte bedauernd, dass sich die Nachkriegsregierungen vor dem Hintergrund der Geschichte – Italien entstand als Staat erst Mitte des 19. Jahrhunderts, hatte keine richtigen Gründerväter und nur einzelne einheitsstiftende Symbole – gezwungen gesehen hätten, den toten Körper des Duce jahrelang zu verstecken, um, so wörtlich, ihr „politisches Überleben“ zu sichern.
Leo Valiani, Symbolfigur der Resistenza und Mitbegründer der heutigen Republik Italien, war beim Anblick der schrecklichen Szene auf der Piazza Loreto der Gedanke durch den Kopf gegangen, ob nicht der Mob, der auf Mussolini herumtrampelte, derselbe war, der ihm ihn besseren Tagen zugejubelt hatte. Der Gedanke hat ihn zutiefst beunruhigt, legte er doch nahe, dass „der demokratische Widerstand eine Bewegung der Minderheit gewesen war“6 . Dass er mit dieser Befürchtung richtig lag, hätte Valiani in seiner eigenen Parteizeitung Italia Libera nachlesen können, die in einer Sonderausgabe die Gewaltorgie auf der Piazza Loreto geschickt, aber gewiss nicht arglos in eine würdige Trauerbekundung umdichtete: Die Mailänder seien „in einer stillen, beherrschten Menschenreihe“ an den Leichen derer vorbeigegangen, die für den Ruin des Landes verantwortlich waren.7
Der Kommunistischen Partei Italiens ist es nach 1945 gelungen, das Andenken an den Widerstand für sich zu okkupieren, obwohl die Kommunisten wahrscheinlich nicht die Mehrheit der Partisanen gestellt hatten. Nach 1989 begann eine bis heute andauernde Kritik des „Antifaschismus“,8 die einhergeht mit rationalisierenden und beschönigenden Darstellungen des Diktators Mussolini. Einige Autoren behaupten sogar, die Resistenza sei bloß eine kommunistische Erfindung der Nachkriegszeit. In diesen „revisionistischen“ Chor stimmte auch Ministerpräsident Berlusconi mit der frivolen Bemerkung ein, dass Mussolinis größte Missetat darin bestanden habe, politische Gegner für lange Sommerwochen an hübsche Ferienorte zu verschicken.
Zu Mussolinis Geburtstag im Juli 2005 fuhr ich mit einem Freund aus den USA nach Predappio. Als wir uns in die überfüllte Gruft drängten, wussten wir beide nicht, ob wir diesen Auflauf für eine ernsthafte Sympathiebekundung oder für eine lächerlich-groteske Inszenierung halten sollten – und nur die möchte der junge stellvertretende Bürgermeister Giorgio Frassinetti, der im Stadtrat von Predappio für das „historische Erbe“ zuständig ist, darin sehen.
Die Stadtverwaltung hatte versucht, einen neofaschistischen Aufmarsch zu verhindern, doch der örtliche Polizeichef hatte sich über den Beschluss hinweggesetzt und die Veranstaltung für den darauffolgenden Sonntag genehmigt. Die Mussolini-Verehrer marschierten dann tatsächlich zu dem monumentalen Grabmal und legten dort ihre Kränze nieder. Auf die Frage, wie Predappio mit diesem politischen Erbe zurechtkommt, sagt Frassinetti nur: „Es ist sehr schwer.“
Die Gruft, die Mussolinis Architekten in den felsigen Untergrund hineingebaut haben, erreicht man über eine schmale Treppe. Am Kopfende des großen steinernen Sarkophags steht eine überlebensgroße Büste des Duce. Die schiere Dimension lässt die beherrschenden Gesichtszüge, die viele Menschen so beeindruckt haben, noch stärker hervortreten: die hohe Stirn, das entschlossen vorgereckte Kinn. Fast sieht man ihn lebendig vor sich stehen: mit rollenden Augen, die Beine gespreizt, die Arme in die Hüften gestemmt. Die Gruft ist mit verdeckten Lampen dramatisch illuminiert. Aus unsichtbaren Lautsprechern dringt Trauermusik.
Selbst im Tod bleibt Mussolini ein Mann der Show. Die Historiker sind übereinstimmend der Meinung, dass er ein großer Showman war. Er hatte nie eine „Ideologie“, sondern nur eine Rhetorik und einen vage formulierten Kult der „direkten Aktion“ à la Sorel. Den Krieg bezeichnete er als gesunde und erbauliche Betätigung („Krieg ist für Männer, was Mutterschaft für Frauen ist“). Seine Show war darauf angelegt, seine absolute Macht zu erhalten – und das funktionierte auch, jedenfalls bis September 1943, als derselbe König, der ihn zum Ministerpräsidenten berufen hatte, ihn kurzerhand wie einen Dienstboten entließ und seine Verhaftung anordnete.
Mussolinis Stimme, mit der er sich in Rom von seinem Balkon an der Piazza Venezia an die zehntausendköpfige Menge wandte, war ohne Zweifel äußerst wirkungsvoll. Wer heute alte Aufnahmen von ihm sieht und hört, schreibt Luzzatto, finde sowohl seine Stimme, erst recht aber sein übertriebenes Gestikulieren irgendwie lächerlich.
Als wir an jenem Morgen die Gruft betraten, war der Raum voll von „Schwarzhemden“. Irgendwo stand ein alter Mann, der sich mit der einen Hand auf einen Stock stützte und mit der anderen eine Regimentsfahne hochhielt. Es wurde eine Broschüre verteilt, die angeblich auf dem „Letzten Willen und Testament“ Mussolinis beruht. (Luzatto hält sie für eine Fälschung.) Darin heißt es, Mussolini sei vor seiner Exekution noch zum frommen Christen geworden, er habe seine Sünden gebeichtet und die Absolution empfangen.
Finis postfaschistische Alleanza Nazionale mag inzwischen für Frieden und Demokratie eintreten, der Attraktivität der Mussolini-Gruft hat das jedoch keinen Abbruch getan. Nach den eifernden Kommentaren im Gästebuch 2005 zu urteilen, war bis Anfang Juli letzten Jahres schon weit mehr als die Hälfte der durchschnittlichen Besucherzahl der Vorjahre gekommen. Dort stand beispielsweise die folgende Eintragung: „Glorreicher Duce, mach, dass unsere Regierung das dreckige Pack von Niggern, rumänischen Huren und albanischen Gaunern vernichtet, die sich über die offenen Grenzen in unser schönes Land stehlen und es zugrunde richten.“
Das heutige Predappio hat vor 70 Jahren noch gar nicht existiert. Es war ein Geschenk Mussolinis an das heute weitgehend verschwundene Dorf Varano di Costa, in dem er am 29. Juli 1883 geboren wurde. Das zweistöckige Haus, in dem der Duce seine Jugend verbrachte, ist heute ein Kunstmuseum. Die Familie lebte in zwei Zimmern im ersten Stock. Unten waren die Schmiede von Mussolinis Vater Alessandro und der provisorische Schulraum seiner Mutter Rosa, einer Grundschullehrerin. Beide Eltern waren glühende Sozialisten, wie Mussolini selbst in jungen Jahren.
Das heutige Predappio ist in den 1930er-Jahren entstanden. Es gibt eine imposante Stadthalle, eine hübsche Kirche, ein solides Schulhaus. Alle Gebäude sind aus dem ortsüblichen braunroten Sandstein. Die Anlage der neuen Stadt erinnert mit ihren rechtwinklig verlaufenden Straßen an ein römisches Militärlager. Über der protzigen früheren Casa del fascio9 erhebt sich ein monumentaler Glockenturm, den die Architekten als Symbol für die „Potenz“ der Partei verstanden haben wollten. In Rocco delle Carminate, auf dem Hügel über der Stadt, der einen schönen Blick über die Weingärten bietet, hatten Freiwillige aus Forli und Bologna ein Landhaus für Mussolini gebaut. Am Fuß des Hügels entstanden neue staatliche Wohnsiedlungen, die Häuser wurden preiswert an treue Parteimitglieder vermietet. Gleich daneben baute man für die Carabinieri ein trutziges neues Hauptquartier, um sicherzustellen, dass die Bewohner politisch auf Linie blieben. Vor dem Faschismus war die Emilia-Romagna eine Hochburg der demokratischen Sozialisten gewesen. Predappio wurde schon 1944, das heißt noch vor der Ankunft der Amerikaner, von den Partisanen befreit.
In den Souvenirgeschäften an der Hauptstraße kann man unter anderem Mussolini-Figürchen und -Ölbilder erwerben, ebenfalls im Angebot sind neofaschistische „Klassiker“ wie die Publikation „Mussolini, der zögerliche Rassist“ von einem angeblich jüdischen Autor namens Nicola Spinoza, sowie jede Menge Krimskrams, Becher und Hemden mit faschistischen Slogans. Wer will, kann sich auch einen kräftigen lokalen Rotwein in Zwölferkartons mit Mussolini-Kopf auf dem Etikett kaufen.
Der Wein wird auf dem Anwesen einer ehemaligen Villa der Familie Mussolini angebaut, in der seine Witwe bis zu ihrem Tod gelebt hat, nachdem sie 1955 aus ihrem erzwungenen Exil auf Ischia zurückgekehrt war. Die Villa ist heute ein Museum, in dem das Andenken Mussolinis glorifiziert wird. Sie liegt inmitten einer gepflegten Gartenanlage mit lauter Duce-Statuen. Anders als die übrigen Häuser Mussolinis wurde diese Villa nach dem Krieg nicht beschlagnahmt, weil er sie noch vor seiner Machtergreifung gekauft hatte.
Während wir das Museum besuchten, fand auf dem Gelände die Versammlung einer neu gegründeten faschistischen Splitterpartei statt. Zu den paar hundert Aktivisten sprach die Parteivorsitzende, Mussolinis Enkeltochter Alessandra, die im Europäischen Parlament sitzt und neuerdings von Ministerpräsident Berlusconi hofiert wird, der ihr ein Bündnis anbietet, nachdem er feststellen musste, dass er im laufenden Wahlkampf gegenüber Romano Prodi, dem Kandidaten der Mitte-links-Koalition, in Rückstand geraten ist.
Auf der organisierten Führung durch die Villa zeigte man uns Mussolinis mit Büchern angefülltes Arbeitszimmer, das Esszimmer und das Schlafzimmer, wo eine seiner Kniehosen auf dem Doppelbett liegt und hinter Glas, wie eine Reliquie, einer der zerfetzten Stiefel aufbewahrt ist, die er in seiner letzten Stunde getragen haben soll.
Als wir an den Marmorbüsten von Mussolinis Idolen Vilfredo Pareto10 und Julius Cäsar vorbeikamen, deutete der Führer auf Cäsar und rief: „Mussolinis größter Vorgänger!“ Hinter uns sagte ein Mann in elegantem Seidenanzug ganz leise zu seiner ebenso elegant gekleideten jungen Frau: „Einen so großen Mann wie ihn könnten wir in Italien heute wieder brauchen.“