10.03.2006

Tunesien hat seine Unabhängigkeit vergeudet

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Tunesien hat seine Unabhängigkeit vergeudet

Vom französischen Protektorat zur modernen Diktatur von Kamel Labidi

Der 84-jährige Historiker Mohamed Talbi erinnert sich: „In der Zeit des französischen Protektorats mussten die Menschen natürlich viele Demütigungen hinnehmen, aber damals wurde die von Bourguiba geführte Opposition wenigstens nicht zum Schweigen gebracht. Sie hatte ihre Parteien, Vereinigungen, Gewerkschaften und Zeitungen. Ohne den Kolonialismus schön reden zu wollen – man muss doch festhalten, dass davon heute nichts mehr übrig ist.“ Talbi war Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Tunis. Er hat sich sein Urteilsvermögen und seine kämpferische Haltung bewahrt.

Es gibt nicht mehr viele tunesische Intellektuelle wie ihn. Mohamed Talbi hat noch die französische Herrschaft erlebt, er war dabei, als das Land am 20. März 1956 die Unabhängigkeit feierte und sich die Menschen begeistert an den Aufbau eines neuen Tunesien machten, das lange Zeit als Musterbeispiel eines modernen Staates galt. Doch dann musste er miterleben, wie Tunesien am Ende zu einer der vielen arabischen Diktaturen verkam. Der Niedergang begann, als Habib Bourguiba, der „Oberste Kämpfer“, seine persönlichen Machtbefugnisse immer mehr ausweitete. Bourguibas Nachfolger General Zine El-Abidine Ben Ali, der ihn im November 1987 entmachtete, hielt am politischen Kurs seines Vorgängers fest.1

Spätestens beim Weltinformationsgipfel, der im November 2005 in Tunesien stattfand, wurde das Ausmaß der aktuellen Repression in Tunesien offensichtlich. Ein Hungerstreik von acht oppositionellen Politikern machte auch die internationalen Medien auf die tunesischen Zustände aufmerksam.

Nach der Unabhängigkeit wurden die bürgerlichen Freiheiten, an die Talbi erinnert, immer weiter beschnitten. Diese hatten es einst Habib Bourguiba erlaubt, in Zeitungen wie La Voix du Tunisien seine Opposition gegen das seit 1881 bestehende französische Protektorat zu artikulieren. 1932 gründete Bourguiba die Action tunisienne, zwei Jahre später den Neo-Destur – eine moderne politische Bewegung, die sich, nach dem Vorbild europäischer sozialistischer und kommunistischer Parteien, den Sturz der Machthaber und den gesellschaftlichen Wandel auf die Fahnen geschrieben hatte.2

Die unabhängigen Gewerkschaften entstanden in den 1920er-Jahren, noch unter der Kolonialherrschaft. Seit sie sich 1946 zum Gewerkschaftsbund Union générale tunisienne du travail (UGTT) zusammengeschlossen hatten, waren sie für die Neo-Destur-Bewegung der wichtigste Verbündete im Befreiungskampf und beim Aufbau des neuen Staatswesens. Doch schon in den ersten Monaten nach der Unabhängigkeit versuchten die Machthaber mit allen Mitteln, diese Einheitsgewerkschaft – die in ganz Afrika und der arabischen Welt als Vorbild galt – auf Linie zu bringen.3

Doch Bourguiba genoss damals in Tunesien wie international einen ausgezeichneten Ruf, der vor allem darauf beruhte, dass er nach der Unabhängigkeit die Emanzipation der Frauen gefördert und den Kampf gegen Armut und Analphabetismus aufgenommen hatte. Sympathien brachte ihm auch sein Vorschlag von 1965 zur Lösung des arabisch-israelischen Konflikts, der an den 1947 von den Vereinten Nationen beschlossenen Plan einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat anknüpfte.

Großes Lob aus Washington

Als Bourguiba im Mai 1961 seinen Antrittsbesuch bei John F. Kennedy machte, verglich ihn der US-Präsident mit George Washington, dem Gründervater der Vereinigten Staaten. Sein Nachfolger Ben Ali ist bislang noch nicht zu einem Staatsbankett im Weißen Haus eingeladen worden. Als er 2004 einen kurzen Staatsbesuch in den USA absolvierte, musste er sich von Präsident George W. Bush in durchaus arrogantem Ton ermahnen lassen, die Pressezensur zu lockern.

In den 1960er-Jahren hatte die Einheitspartei „Parti Socialiste Desturien“ (PSD) nahezu alle öffentlichen Einrichtungen des Landes im Griff. Nur die Universität von Tunis bot ein Forum, auf über die Demokratie und die Zukunft des Landes diskutiert werden konnte. Hier war auch Kritik an Bourguibas politischem Kurs möglich – etwa an seiner Unterstützung der US-Militärintervention in Vietnam. Soviel Gedankenfreiheit gab es damals an kaum einer Universität der arabischen Welt.

Ende der 1960er-Jahre reagierte das Regime mit harten Maßnahmen gegen die meist jugendlichen Kritiker der Einheitspartei, die Bourguibas Vision einer modernen tunesischen Gesellschaft ernst nahmen und gegen die Denkverbote der Partei aufbegehrten. In dieser Periode vollzog sich auch die Hinwendung des Regimes zur freien Marktwirtschaft.

Einige Oppositionelle, die damals aus politischen Gründen ins Gefängnis wanderten, gründeten später die Tunesische Menschenrechtsvereinigung (LTDH) und die tunesische Sektion von amnesty international – als erste derartige Organisationen in der arabischen Welt. 1969 wurde die Verurteilung des Ministers Ahmed Ben Salah zum Auftakt einer Säuberungsaktion gegen den liberalen Flügel der Einheitspartei. 1974 ließt sich Habib Bourguiba zum Präsidenten auf Lebenszeit ausrufen. Doch die Zivilgesellschaft machte immerhin viele kleine Fortschritte. Ende der 1970er-Jahre galt Tunesien nach wie vor als eines der freiheitlichsten Länder der arabischen Welt.

Damals ließ die Einheitspartei PSD im Rahmen der wirtschaftlichen Liberalisierung auch einige zivile Freiheiten zu. Die Einheitsgewerkschaft UGTT testete mit der Gründung ihrer Wochenzeitung Eschaab (Das Volk) den Spielraum für die Meinungsfreiheit und die politischen Bürgerrechte. 1977 entstanden die Menschenrechtsvereinigung LTDH und die unabhängige Tageszeitung Errai (Die Meinung).

Im Januar 1978 wurden bei einer Demonstration von Gewerkschaftern der UGTT von Polizei und Miliz etwa 100 Menschen erschossen. Dies nahm Bourguiba zum Vorwand, die Gewerkschaft zu entmachten. Im Januar 1980 versuchte ein aus Algerien und Libyen eingeschleustes Untergrundkommando tunesischer Oppositioneller, einen Aufstand in der Bergarbeiterstadt Gafsa im Süden Tunesiens anzuzetteln. Obwohl unabhängige Zeitungen wie Errai oder das islamistische Blatt al-Maarifa (Das Wissen) ständig zensiert wurden, kam es zur Gründung immer neuer Medien, wie Le Phare, Démocratie, L’Avenir, al-Mojtama’a (Die Gesellschaft, ein islamistisches Blatt) und 15–21 (gemäßigt islamistisch).

1981 schien die Aufhebung des Verbots der Kommunistischen Partei Tunesiens (PCT) die Rückkehr zum Mehrparteiensystem anzukündigen. Doch die Hoffnungen wurden rasch enttäuscht. Im November fälschte das Regime die Resultate der Parlamentswahlen, an denen neben der PSD auch die PCT und zwei neue Gruppierungen teilgenommen hatten – die Bewegung sozialistischer Demokraten (MDS) und der spätere Parti de l’Unité Populaire (PUP). 1981 wurden auch die Führer der Islamisten verhaftet, die versucht hatten, die kleinen politischen Freiräume zu nutzen.

Dass die Herrschaft Bourguibas zu Ende ging, zeigte sich in der blutigen Niederschlagung der „Brotrevolte“ vom Dezember 1983, in den Machtkämpfen innerhalb der UGTT und der Verhaftung ihres langjährigen Vorsitzenden Habib Achour. Immer häufiger setzte das Regime auf Gewaltmethoden, um die sozialen Problemen in den Griff zu bekommen oder den Einfluss der Islamisten zu bekämpfen. Der „Oberste Kämpfer“ war alt und schwach geworden und durchschaute die Intrigen seiner engsten Berater nicht mehr.

Viele Beobachter halten es für Bourguibas größten politischen Fehler, dass er im Oktober 1987 Innenminister Ben Ali zusätzlich das Amt des Ministerpräsidenten übertrug. „Bourguiba war intelligent“, meint Mohamed Talbi, „aber an diesem Tag beging er eine gewaltige Dummheit – ein Diktator, der seinem Henker die Schlinge in die Hände legt.“

Der Staatsstreich vom 7. November 1987 fand in den politischen Kreisen Tunesiens viel Beifall. „Ein bedauerlicher und bitterer Fehler“ meint heute Scheich Rached Ghannouchi, der Führer der islamistischen Bewegung Ennahda (Wiedergeburt). Damals hatte er öffentlich bekundet, die Islamisten setzten großes Vertrauen „in Gott, und in den Herrn Präsidenten“. Religiöse Parteien waren bei der Parlamentswahl 1989 nicht zugelassen, aber mit der Ennahda verbündete Einzelkandidaten erhielten damals immerhin 14 Prozent der Stimmen. Doch ab 1990 wurden laut amnesty international mindestens 8 000 Mitglieder der Organisation verhaftet, von denen viele zu Tode gefoltert wurden. Unter dem Eindruck der damaligen Schauprozesse ging Ghannouchi ins Exil.

Den Vertretern der laizistischen Opposition, die auch an die Demokratieversprechen des Nationalen Pakts von 1988 geglaubt hatten, erging es nicht besser. Wer bei der gnadenlosen Verfolgung von Islamisten und anderen Regimegegnern und den Repressalien gegen deren Familien noch weggeschaut hatte, dem wurden wenige Jahre später die Augen geöffnet – wenn er sich selbst auf dem Polizeirevier, im Gefängnis oder im Exil wiederfand.4 Diese Ignoranz nutzten die Berater des Präsidenten, um die meisten der Oppositionszirkel zu diskreditieren, indem sie diese in das Wahltheater einbanden, das politischen Pluralismus vorspiegelte. Die Folge war, dass die Bürger das Interesse an der Politik verloren.

Inzwischen halten auch prominente Vertreter von Parteien und Gewerkschaften, Juristen, Journalisten und Akademiker den Mund, die früher durchaus mutig Kritik geübt hatten. Ein besonders drastisches Beispiel ist der MDS-Gründer Ahmed Mestiri, der nach den gefälschten Wahlen von 1989 seinen Abschied aus der Politik erklärte.

Gestützt auf einen Stab von alten Gefolgsleuten, aus seiner Zeit in der Armee und im Innenministerium, erlangte Präsident Ben Ali die Kontrolle über alle öffentlichen Institutionen. Das Programm, das er 1988 direkt nach seinem Putsch großspurig angekündigt hatte – Demokratisierung, Abschaffung der Präsidentschaft auf Lebenszeit –, blieb ein leeres Versprechen, das er nach mehreren Wahlfarcen sogar explizit zurücknahm. Denn die Verfassungsreform von 2002 ermöglichte nicht nur seine Wiederwahl im Jahr 2004, sondern verschaffte ihm auch erweiterte Machtbefugnisse und überdies eine lebenslange Immunität.

Im September 2005 verabschiedete das Parlament in einer Sondersitzung ein Gesetz über die Leistungen, die „dem Präsidenten der Republik nach seinem Ausscheiden aus dem Amt“ zustehen. Dass dieses Gesetz auf höchst obskure Weise durchgepeitscht, von Ben Ali unverzüglich unterzeichnet und im Amtsblatt veröffentlicht wurde,5 gab den Spekulationen über den Gesundheitszustand des Präsidenten neuen Auftrieb. Neben anderen Fragwürdigkeiten findet sich in diesem Text auch eine Bestimmung, die den Kindern des Präsidenten Sonderrechte außerhalb der Verfassung zugesteht: Sie beziehen Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln bis zum 25. und nicht nur bis zum 20. Lebensjahr, wie es für die Kinder aller übrigen pensionierter Staatsdiener gilt.

Seit der Unabhängigkeit des Landes wurde der Grundsatz der gleichen Rechte und Pflichten wie auch der Chancengleichheit niemals eklatanter verletzt als heute. Immer deutlicher wird auch, wer bei der Privatisierung der Staatsbetriebe, bei zweifelhaften Bank- und lukrativen Schwarzmarktgeschäften am meisten abgesahnt hat – nämlich die „Herrscherfamilie“, wie man die Eltern, Geschwister und engen Vertrauten von Ben Ali und seiner Gattin Leila Trabelsi inzwischen allgemein nennt.

Viele dieser Günstlinge nutzen ihren Einfluss im öffentlichen wie im privaten Sektor zur persönlichen Bereicherung. Sie betätigen sich zum Beispiel als Vermittler sogar auf dem Arbeitsmarkt, der den wachsenden Zustrom junger Arbeitssuchender nicht mehr aufnehmen kann. Der Volkswirtschaftler Hassine Dimassi, ehemals Dekan der juristischen Fakultät an der Universität in Sousse, ist überzeugt, dass die Zahl unbeschäftigter Hochschulabsolventen doppelt so hoch liegt wie die 40 000 der offiziellen Statistik: „Der Staat gibt Unsummen für die Ausbildung von halben Analphabeten aus, die niemals Arbeit finden.“ Wenn man dem Niedergang des Bildungswesens weiter untätig zusehe, wird man hunderttausende junge Arbeitsloser produzieren, befürchtet Dimassi.

Die Mehrheit der jungen Tunesier will von den Werten ihrer Eltern nichts mehr wissen: von der Bereitschaft, dem Land zu dienen, vom Bildungshunger und den Idealen, die nach der Unabhängigkeit hoch im Kurs standen. Nur weil es ihre Eltern wünschen, besuchen sie die Bildungseinrichtungen, die von Günstlingen des Regimes geleitet werden. Und machen sich dann auch noch häufig über die Wenigen lustig, die tatsächlich etwas lernen wollen.

Ihren Eltern stellen sie die Frage: „Was haben euch eure Bildung und eure Grundsätze gebracht?“ Natürlich ist das Missverhältnis nicht zu übersehen: Die Elterngeneration mit all ihren Diplomen und ihren Wertvorstellungen lebt von der Hand in den Mund, während eine Schicht von Neureichen in kurzer Zeit ungeheure Vermögen erworben hat.

In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit war gerade das Bildungssystem eine Stärke des neuen Systems, das großen Anteil an der Hebung des Lebensstandards hatte. Glaubt man den Aussagen von Lehrern und besorgten Eltern, dann stehen die Bildungseinrichtungen heute kurz vor dem Bankrott (siehe Seite 19). Das zeigt auch der jüngste Versuch des Regimes, sich beliebt zu machen, indem es die Anforderungen bei der Abiturprüfung einfach immer weiter absenkt.

Ein junger Assistent an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Manuba, der anonym bleiben will, fällt ein klares Urteil: „Früher sah man in den Lehrenden Vorbilder, und die Bildungseinrichtungen boten nicht nur guten Fachunterricht, sondern auch Kenntnisse auf dem Gebiet der Kultur, der Politik und der Gewerkschaftsbewegung. Heute kann von Bildung kaum noch die Rede sein. Diskussionen über Ideen und neue Vorstellungen finden so gut wie nicht statt. Vielmehr herrscht unter den Lehrenden ein bedrückendes Klima der politischen Intrigen und der Resignation.“

Weil sie für sich keine Zukunft sehen, kehren tausende junge Menschen dem Land den Rücken, das Frankreichs Präsident Jacques Chirac gern das „tunesische Wunder“ nennt. Hunderte sind in den vergangenen Jahren ums Leben gekommen, weil sie sich an Bord eines Seelenverkäufers begaben, um die italienische Küste zu erreichen.

Weniger bekannt ist, dass hunderte junge Leute langjährige Gefängnisstrafen verbüßen, weil sie – in extrem unfairen Gerichtsverfahren – wegen „Bandenbildung“ verurteilt wurden. Angeblich wollten sie in Tunesien Terroranschläge verüben oder sich dem Widerstand im Irak anschließen. Aber viele von ihnen, wie etwa die fünf im Februar 2003 festgenommenen „Jugendlichen von Zarzis“, hatten wohl nur im Internet gesurft – und hier greift das Regime immer wieder ein, indem es Websites und E-Mail-Adressen sperrt. 2003 hat es auf Drängen der USA und ihrer europäischen Verbündeten ein „Antiterrorgesetz“ verabschiedet, das nun dazu dient, junge Leute ins Gefängnis zu bringen, die lediglich Meinungsfreiheit fordern.

Es fehlt an Foren des freien Meinungsaustauschs. Nur das Theater hat noch Künstlerpersönlichkeiten wie Fadhel Jaïbi und Jalila Baccar, die versuchen, sich auf der Bühne mit „der politischen Gewalt auseinander zu setzen, mit den Fundamentalismen der Linken wie der Rechten und mit den Schwierigkeiten, als freier Mensch zu leben“. Ihr jüngstes Stück („Corps otages“) erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus wohlhabender Familie, die mit der Linken sympathisiert, sich dann aber von den Parolen des radikalen Islamismus verführen lässt. „Ich habe diese Inszenierung gemacht, weil meine Tochter nicht gezwungen sein soll, den Schleier zu tragen“, meint der Regisseur, der 1956 zehn Jahre alt war. Er hegt, im Unterschied zu seiner Frau Jalila, tiefstes Misstrauen gegen die Islamisten.

Tunesien galt lange als das arabische Land, in dem die Trennung von Staat und Religion am entschiedensten realisiert wurde. Heute hat die Repression ein Ausmaß erreicht, das sogar Politiker im Protest gegen das Regime vereint, die sich bis vor kurzem in zutiefst verfeindeten Lagern gegenüberstanden. Der Hungerstreik von acht prominenten Sozialisten, Islamisten und Unabhängigen und die Übergriffe tunesischer Polizeiagenten auf französische und belgische Journalisten im November 2005 auf dem Weltinformationsgipfel in Tunis, fanden große Aufmerksamkeit bei den internationalen Medien und bei Menschenrechtsaktivisten wie der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi.

Die Machthaber diffamierten die Annäherung prominenter Vertreter der laizistischen Opposition wie Néjib Chebbi, Generalsekretär des Parti Démocratique Progressiste (PDP), und Hamma Hammami, Generalsekretär der Kommunistischen Arbeiterpartei (PCTO) an die Islamisten. Heftige Proteste gegen diese Annäherung erhoben aber auch unabhängige Politiker und Persönlichkeiten aus den Reihen der extremen Linken im Umkreis der Ettadjid-Bewegung.

Zu den Befürwortern einer Zusammenarbeit mit der islamistischen Ennahda gehört auch Moncef Marzouki, Gründer des (offiziell nicht anerkannten) Congrès pour la République (CPR). Er ruft inzwischen zur Bildung einer „demokratischen Einheitsfront“ auf, in der nur für jene Islamisten kein Platz sein soll, „die Gewalt befürworten, die Geltung der Scharia fordern und sich gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau aussprechen“. Marzouki sieht die Aufgabe einer solchen Formation vor allem darin, „eine friedliche Revolution nach dem Vorbild der Ukraine oder Georgiens“ vorzubereiten.

Die staatlichen Übergriffe und der Ansehensverlust der tunesischen Führung im eigenen Land wie im Ausland haben inzwischen selbst einige alte Weggefährten von Habib Bourguiba zu deutlichen Stellungnahmen bewogen. Obwohl er von vielen als entschiedener Gegner einer Demokratisierung gesehen wird, meint zum Beispiel Mohamed Sayah, Historiograf und einstiger Manager der Partei des „Obersten Kämpfers“: „Wenn es keine Regeln der Demokratie und der öffentlichen Auseinandersetzung gibt, dann verliert eigentlich auch die Unabhängigkeit ihren Sinn.“

Die entscheidende Frage, die vielen Kopfzerbrechen macht, lautet nach wie vor: Was kann man tun, damit das Land nicht noch weiter in Willkürherrschaft, Korruption und Günstlingswirtschaft versinkt?6 Wie kann man den jungen Tunesiern neue Hoffnung geben, die sich in ihrer Verzweiflung zunehmend zu Gewalttaten hinreißen lassen oder dem Islamismus zuwenden?

Ermutigend ist immerhin, dass sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr Tunesier entschlossen, gegen alle Widerstände ihr Recht auf Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit einzufordern. Der Historiker Rauf Hamsa fordert in diesem Zusammenhang, „kleine Räume der Reflexion“ zu schaffen, in denen man über die Formen des Widerstands weiter nachdenken kann.

Scheich Ghannouchi hat den Hungerstreik vom November als „Wiedergeburt“ der Opposition bezeichnet. Aber der entscheidende Impuls für die Gesellschaft kann nur von einem gemeinsamen Programm für den Aufbau eines Rechtsstaats in Tunesien ausgehen. Und nur so wären die westlichen Partner des Regimes von Ben Ali davon zu überzeugen, dass die Gegner der Diktatur in Tunesien ein ernst zu nehmender Faktor sind.

Fußnoten: 1 Über den Abbau von Bürgerrechten geben zwei Berichte der Organisation IFEX von 2005 Auskunft: http://campaigns.ifex.org/tmg/about.html. 2 Intellektuelle wie Tahar Haddad (1899–1935), ein Reformer und Vorkämpfer der Frauenemanzipation, oder der Dichter Abul Kacem Chebbi (1909–1934) waren Vorbilder in der Zeit vor und nach der Unabhängigkeit. 3 Siehe die Aussagen des ehemaligen Ministers Ahmed Ben Salah und des früheren Generalsekretärs der UGTT, Taleb Baccouche, publiziert von der Temimi-Stiftung für Forschung und Information. Die Arbeit der Stiftung (www.temimi.refer.org/fondationtemimi) leidet unter der staatlichen Zensur. 4 Siehe „La Tunisie de Ben Ali“, hrsg. von Olfa Lamloun und Bernard Ravenel, Paris (L’Harmattan) 2002. Siehe auch Michel Camau und Vincent Geisser, „Le Syndrome autoritaire“, Paris (Presses de Sciences Po) 2003, sowie Sihem Ben Sedrine und Omar Mestirir, „L’‘Europe et ses despotes“, Paris (La Découverte) 2004. 5 Siehe das Gesetz 2005-88 vom 27. September 2005 „bezüglich der Vergütungen für den Präsidenten der Republik nach seinem Ausscheiden aus dem Amt“. 6 In der negativen Weltrangliste der Korruption von Transparency International stürzte Tunesien jüngst von Platz 39 (2004) auf Platz 43 (2005) ab. Siehe www.transparency.org. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Kamel Labidi ist freier Journalist in Tunesien.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Kamel Labidi