Die Dynamik des islamischen Aufbegehrens
Religion und Nationalismus von Palästina bis Iran von Georges Corm
Man war geneigt, sich verwundert die Augen zu reiben, als im Januar 2006 die politischen Beobachter in aller Welt vom deutlichen Wahlerfolg der Hamas in Palästina überrascht waren. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand hätte man diese Chronik eines angekündigten Sieges schon vorweg aufschreiben können. Was in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten geschieht, ist völkerrechtlich und hinsichtlich der Grundsätze der Menschlichkeit ein Skandal. Während Osttimor die Unabhängigkeit von Indonesien erlangte und die internationale Gemeinschaft sich dafür einsetzte, Bosnien die Unabhängigkeit und dem Kosovo einen Autonomiestatus als Etappe zur Unabhängigkeit zu gewähren, verlieren die Palästinenser Jahr um Jahr mehr von dem, was ihnen an Territorium geblieben ist. Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland werden ständig erweitert, und die illegale Mauer, die für die Bewohner dieses Territoriums ein riesiges Gefängnis schafft, wächst in die Länge.1 Und was den Gaza-Streifen betrifft, so gibt es trotz des triumphal verkündeten Abzugs der israelischen Armee und der Evakuierung von 8 000 Siedlern noch immer keine Sicherheit für die dort lebenden Palästinenser. Die israelischen Luftangriffe fordern täglich neue Opfer unter der Zivilbevölkerung.
In Israel findet sich praktisch kein Politiker mehr, der sich noch auf den im Oktober 1991 in Madrid begonnenen Friedensprozess oder das 1993 geschlossene Osloer Abkommen zwischen der PLO und dem Staat Israel berufen würde. Insofern ist es eine anmaßende Behauptung, die von den Amerikanern initiierte und von der EU, der UN und Russland unterstützte Roadmap wolle den „Friedensprozess konkretisieren“. Die Roadmap ist heute nicht mehr als ein verblasstes, vergessenes Stück Papier. Umso unbegreiflicher sind die westlichen Kommentare, die den Wahlsieg der Hamas als Gefahr für die Fortsetzung eines regionalen Friedensprozesses darstellen, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Die Frage müsste eher umgekehrt lauten: Wie hätte die Hamas diese Wahlen überhaupt verlieren sollen? Die Palästinensische Autonomiebehörde unter maßgeblicher Führung der Fatah, des historisch wichtigsten Teils der PLO, hatte vergebens auf all ihre Trümpfe verzichtet und alle möglichen Konzessionen an den Staat Israel und die ihn unterstützende internationale Gemeinschaft gemacht: Sie hat das Existenzrecht Israels anerkannt, ohne dafür die reziproke Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat zu bekommen; sie hat ihre Charta für „hinfällig“ erklärt, hat auf den bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung verzichtet und die faktische Fortdauer der Kolonialisierung akzeptiert.
Das Wiederaufflammen der Intifada im September 2000, als Reaktion auf die Sackgasse, in der die PLO angesichts der Unnachgiebigkeit Israels festsaß, führte zur erneuten Besetzung des größeren Teils des Westjordanlands und des Gaza-Streifens durch die israelische Armee, zur weitgehenden Zerstörung der überwiegend EU-finanzierten Infrastruktur des Palästinensischen Autonomiegebiets und zur dramatischen Absenkung des Lebensstandards. Die Israelis errichteten zahllose militärische Sperren, was es für die Palästinenser immer schwieriger machte, innerhalb der Gebiete zu reisen, die ihnen von ihrem Land noch geblieben waren.
Für die von allen Seiten im Stich gelassenen Palästinenser begannen nun zwei parallele Entwicklungen. Zum einen griffen bei der Bürokratie der PLO Ineffizienz und Korruption immer weiter um sich, was von allen westlichen Regierungen kritisiert wurde. Dabei schob man alle Schuld auf Jassir Arafat, der in seinem Hauptquartier in Ramallah nicht nur physisch, sondern auch politisch quasi unter Quarantäne gestellt wurde. Zum anderen setzte die Hamas den bewaffneten Kampf fort und trug ihn durch die Selbstmordattentate in die Zentren der israelischen Städte. Das machte sie zum Objekt unverhältnismäßiger israelischer Vergeltungsschläge, die insbesondere in Gaza zahlreiche zivile Opfer forderten.
Die Hamas und das gescheiterte Oslo-Abkommen
Jassir Arafat und sein Nachfolger an der Spitze der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas (von den Palästinensern meist Abu Masen genannt), wurden von Israel, den USA und der EU ständig unter Druck gesetzt, die Hamas – wenn nötig mit Gewalt – zur Räson zu bringen. Die Spannungen zwischen der Fatah und der Hamas verschärften sich immer mehr, und die Autonomiebehörde steckte militante Aktivisten ins Gefängnis. Doch die Palästinenser konnten gerade noch einen mörderischen Bürgerkrieg verhindern, den Israel sich wünscht, um jeder Form von bewaffnetem Widerstand ein Ende zu bereiten.
Die Hamas, die von den Israelis nach ihrer Gründung in den 1980er-Jahren als Gegengewicht gegen die laizistischen Widerstandsbewegungen der Palästinenser unterstützt worden war, sammelte im Lauf der Jahre konkrete Erfahrung an der Basis, und zwar auf sozialer wie auf militärischer Ebene. Dabei profitierte sie vom Scheitern des Osloer Abkommens und einer Kompromisspolitik der PLO, die keine realen Gegenleistungen in Sachen Unabhängigkeit und Einstellung der israelischen Siedlungspolitik gebracht hatte. Auch dank ihrer finanziellen Mittel, die sie für soziale Zwecke, aber auch für den bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht einsetzte, wurde die Hamas in dem Maß populärer, in dem die Politik und das Verhalten der alten, verbrauchten PLO-Führung nur noch mehr Elend und Unterdrückung zur Folge hatten.2
Dazu kam der erfolgreiche bewaffnete Widerstand der libanesischen Hisbollah gegen die israelische Armee, die sich nach 22-jähriger Besatzung im Mai 2000 ohne Gegenleistung aus dem Südlibanon zurückziehen musste. Dies bestärkte sowohl die Hamas als auch viele Palästinenser und Araber in der Idee, dass der bewaffnete Kampf das einzig wirksame Mittel sei, um die israelischen Besatzer zurückzudrängen.
Der israelischen Führung und ihren Freunden im Westen hätte allerdings ohne weiteres klar sein müssen, dass eine so massiv unterdrückte Bevölkerung nicht etwa die Hamas für die blutigen israelischen Vergeltungsmaßnahmen verantwortlich machen würde. Vielmehr wurden die Islamisten bewundert und auf vielfältige Weise unterstützt. Eine Überraschung konnte der Wahlsieg der Hamas nur für Menschen bedeuten, die sich von der Antiterrorrhetorik der Medien und westlichen Außenpolitiker einfangen ließen. Letztere sehen nicht nur über die Realität in der Region hinweg, sondern auch über die damit einhergehenden Leiden.
Das gleiche Szenario kennen wir, in karikaturhafter Zuspitzung, aus dem Süden des Libanon, der von 1978 bis 2000 von Israel besetzt war. Die von den Israelis als Hilfstruppe rekrutierte lokale Miliz spielte sich in den Medien oft als Verteidiger der Unabhängigkeit des Libanon auf – und zwar zuerst gegen die palästinensischen und später gegen die libanesischen „Terroristen“ der Hisbollah, die denn auch von der US-Regierung auf die Liste der internationalen Terrororganisationen gesetzt wurden. Anfang September 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1559 die Entwaffnung der Hisbollah und die Stationierung der kleinen, militärisch schwachen libanesischen Armee an der Grenze zu Israel.
Doch auch nach dem Rückzug Israels aus dem Südlibanon, der allerdings nicht ganz vollständig ist, verletzen die israelischen Streitkräfte fast täglich den Luftraum sowie die Territorialgewässer und manchmal auch das Territorium des Libanon. Zudem halten sie noch zahlreiche ehemalige libanesische Widerstandskämpfer gefangen und hindern die Regierung in Beirut daran, die Wasserresourcen im Süden zu nutzen.
Korrupt, aber wenigstens gemäßigt
Dennoch ist es die Hisbollah, die von den USA und den Vereinten Nationen als destabilisierende Kraft im Libanon und als Bedrohung für die Sicherheit Israels dargestellt wird,3 wobei man ihr häufig auch noch vorhält, die Hamas zu unterstützen. Was für Palästina gilt, trifft auch für den Libanon zu: Die internationale Gemeinschaft hält an einer Doktrin fest, die den Realitäten vor Ort in keiner Weise gerecht wird und die Spannungen noch verschärft.
Wie wenig die internationale Gemeinschaft auf unliebsame Überraschungen vorbereitet ist, hat sich auch im Fall Iran gezeigt, als im Juni 2005 der „Extremist“ Mahmud Ahmadinedschad mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde. Sein deutlich geschlagener Rivale, der frühere Präsident Haschemi Rafsandschani, war zwar ein Symbol der Korruption, die das ganze Land durchsetzt, wurde aber in außenpolitischer Hinsicht als „Gemäßigter“ eingeschätzt.
Daumenschrauben für das syrische und iranische Regime
Auch im Fall Iran war die Welt mit Blindheit geschlagen. Unter Präsident Mohammed Chatami, einem überzeugten Anhänger des Dialogs der Kulturen, hatten die USA nicht nur ihre Politik der politischen und wirtschaftlichen Isolation gegenüber Teheran fortgesetzt, sondern den Iran auch – mit dem Irak und Nordkorea – der „Achse des Bösen“ zugeordnet.
Seit der Wahl von Ahmadinedschad ist es vor allem der Iran, den die USA und Europa ins Visier genommen haben. Unter Berufung auf die hetzerischen Erklärungen des neuen Präsidenten, die man nur verurteilen kann, verstärkte Washington den Druck auf Teheran, um es auf die Einstellung aller Arbeiten an jedweder Form von Nukleartechnologie zu verpflichten.
In derselben Zeit nutzten die USA und Frankreich – begünstigt durch die Libanon-Resolution der Vereinten Nationen und in der Folge durch die dramatische und politisch destabilisierende Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafik Hariri – die im Libanon entstandene Lage aus, um sowohl den Syrern als auch Iran die Daumenschrauben fester anzuziehen.
In diesem Kontext galt die Hisbollah nur noch als verlängerter Arm dieser neuen „Ablehnungsfront“ gegen die Politik des Westens in der Region. Die mittlerweile notorische Kritik am Iran und der libanesischen Hisbollah, aber auch der (durch die labile Situation im Libanon begünstigte) Versuch des Westens, das syrische Regime in die Zange zu nehmen, geben der antiwestlichen Rhetorik in der arabischen und muslimischen Welt nur neue Nahrung. Damit stärkt der Westen den „politischen Islam“ in all seinen Formen, ob moderat, radikal oder dschihadistisch.
US-Präsident George W. Bush zieht dabei eine Verbindung von der dramatischen Entwicklung des Terrorismus im Irak – die ja erst durch die US-Invasion ausgelöst wurde – zu den Attentaten vom 11. September 2001 und den Anschlägen islamistischer Gruppen in Madrid und London. Auch das erklärte Bestreben Ussama Bin Ladens, ein islamisches Kalifat zu errichten, das die Unterwerfung der zivilisierten Welt anstrebt, liefert Bush natürlich neue Munition.4
Im September 2005 legte der Generalsekretär der Vereinten Nationen ein Papier zur Reform der UNO vor, in dem er den „transnationalen Terrorismus“ und dessen Versuch, sich Massenvernichtungswaffen zu beschaffen, als größte militärische und politische Gefahr für die Menschheit bezeichnet. Das bedeutet die uneingeschränkte Übernahme der amerikanischen Doktrin, die den – selbstverständlich „islamischen“ – Terrorismus zum Hauptfeind der Menschheit erklärt.
Die Anhänger der Theorie vom clash of civilizations können sich die Hände reiben. Die großen Macher der internationalen Politik haben nicht nur ihre Ideologie übernommen, sondern tragen dazu bei, ihre düsteren Prognosen wahr zu machen. Die verschiedenen dschihadistischen Bewegungen wiederum hätten sich eine solche Werbung durch den Präsidenten der größten Weltmacht und durch die Vereinten Nationen nicht einmal im Traum vorstellen können. Diese Gruppen entstanden, vom Westen gefördert, in der Zeit des Kalten Krieges und dienten dann als Kanonenfutter gegen die sowjetische Armee in Afghanistan oder kämpften in anderen Regionen der Erde (insbesondere auf dem Balkan und im Kaukasus). Aber jetzt können sie sich freuen, dass der Westen, in dem sie einen barbarischen Gegner sehen, der den Islam und die Muslime ungerecht behandelt, in der Bredouille steckt: Die US-Truppen und ihre westlichen Unterstützer versinken im afghanischen und irakischen Morast. Beide Länder sind inzwischen zum idealen Schlachtfeld geworden, auf dem die „jüdisch-christlichen Kräfte des Bösen“, die die muslimische Welt überfallen haben, den „islamischen Kräften des Guten“ gegenüberstehen, die die Integrität der muslimischen Gesellschaften gegen den äußeren Feind verteidigen.
Diese Logik wird von weiteren objektiven Fakten und Faktoren bedient: dem anhaltenden Unrecht, unter dem die Palästinenser leiden, der allgemeinen Missbilligung und Angst, die der Wahlsieg der Hamas ausgelöst hat, und der Gefahr, dass die Palästinenser durch eine israelische Blockade ausgehungert werden – gar nicht zu reden von dem extraterritorialen Gefangenenlager in Guantánamo Bay oder den skandalösen Misshandlungen der irakischen Gefangenen durch amerikanische Soldaten in Abu Ghraib.
Deshalb konnte es kaum mehr überraschen, dass bei den Wahlen in Ägypten Ende 2005 achtzig Vertreter der Muslimbrüder ins Parlament gewählt wurden. Damit bestätigt sich der Vormarsch der islamistischen Kräfte, die letztlich die arabische Welt erobern wollen. Was würde geschehen, wenn es morgen in Syrien freie Wahlen gäbe? Und haben die Wahlen im Irak nicht, trotz oder wegen der amerikanischen Okkupation, zur Marginalisierung der liberalen und laizistischen Kräfte zugunsten der religiösen Konservativen geführt, und zwar bei den Sunniten wie bei den Schiiten?
In dieser erstickenden Atmosphäre musste sich nun ausgerechnet die Affäre mit den stupiden dänischen Karikaturen ereignen, die den Propheten Mohammed verunglimpfen und ihm die Verantwortung für die terroristischen Aktionen zuschieben. Dass die muslimische Welt so heftig reagiert hat, ist eine Folge zunehmender Frustration und des Gefühls, ungerecht behandelt zu werden. Da sie Palästina oder den syrischen Golan nicht befreien und die harte Hand des Westens in der arabischen und muslimischen Welt (vor allem in Irak, Afghanistan und Palästina) nicht abschütteln können, attackieren die wütenden Massen die diplomatischen Niederlassungen der Länder, in denen die provozierenden Zeichnungen verbreitet wurden.
Der geopolitische Nährboden für die Dschihadisten
Diese islamistische Welle manifestiert sich überall als Ausdruck von nationalistischen Gefühlen, die aus der laizistischen Sprache der Jahre der Entkolonialisierung und des militanten Internationalismus schon längst verschwunden war.5 Wird diese Welle nun anschwellen wie ein reißender Fluss, der durch nichts mehr aufzuhalten ist? Genau das befürchtet der laizistische große palästinensische Dichter Mahmud Darwisch, der kürzlich in einem Interview mit Le Monde meinte: „Wenn es in der arabisch-muslimischen Welt freie Wahlen gäbe, wären die Islamisten überall die Sieger. So einfach ist das! Man erlebt die Ungerechtigkeit und macht den Westen dafür verantwortlich. Dieser wiederum antwortet mit einer Art von ‚Herrschaftsfundamentalismus‘, der das Gefühl der ungerechten Behandlung noch verstärkt.“6
Stehen wir also an der Schwelle tiefgreifender Veränderungen? Könnte angesichts dieser explosiven Lage das nächste gravierende Ereignis schon der Funke sein, der das Pulverfass entzündet? Das ist die Frage, die sich jedem vernünftigen Menschen stellt, zumal angesichts des Autismus der westlichen und der Unfähigkeit der arabischen Führung. Kann es tatsächlich sein, dass der Westen die grausame und absurde Realität im Nahen Osten weiterhin ignoriert? Dass die Palästinenser weiter unter der Besatzung, dem Bau der Sperrmauer und der Fortsetzung der Siedlungspolitik im Westjordanland leiden – 38 Jahre nach dem Ende des Sechstagekriegs von 1967? Dass ein mächtiges demokratisches Land wie die USA unter dem Vorwand der Vergeltung für eine auf seinem Territorium begangene Gewalttat, so verabscheuungswürdig diese auch sein mag, in zwei souveräne Staaten einmarschiert? Dass sich in den Augen des Westens und der Vereinten Nationen der Begriff „Terrorismus“ auf ganz unterschiedliche gewalttätige Bewegungen und Aktionen erstrecken soll, auf den Widerstand gegen die Besatzung ebenso wie auf die Attentate von New York, Madrid und London oder auf die zahlreichen Anschläge, die seit 1995 in muslimischen Ländern wie Ägypten, Jordanien, Marokko, Jemen, Saudi-Arabien, Indonesien und Pakistan verübt wurden?
Bezeichnenderweise wird der „islamische Terrorismus“ nicht mit den traditionellen Polizeimethoden bekämpft, die vor dreißig Jahren in den Industriestaaten erfolgreich etwa gegen die Roten Brigaden in Italien, die RAF in Deutschland, die Action Directe in Frankreich, die Rote Armee in Japan eingesetzt wurden, sondern mit hochgerüsteten Armeen auf mittlerweile vier Kontinenten. Ist es vielleicht dieser asymmetrische Aufwand, der immer mehr junge Menschen in die Gewalt treibt und zu „Märtyrern“ im Kampf gegen die illegitime Besatzung und die „Ungläubigen“ werden lässt? Oder auch eine weitere Asymmetrie: dass die westlichen Vormächte, dass Israel, Indien und Pakistan als Bündnispartner der USA und selbst Nordkorea über Massenvernichtungswaffen verfügen dürfen, dass es aber immer dann zum Konflikt kommt, wenn ein arabisches oder muslimisches Land auch nur entfernt den Anschein erweckt, es könnte irgendwann dieselbe Fähigkeit erwerben?
Wie lange noch wird es als anstößig empfunden, nach dem geopolitischen Nährboden zu fragen, der immer mehr junge Dschihadisten hervorbringt? Wie lange wird es anstößig sein, Mitleid mit den die Palästinensern zu zeigen oder sich über ihre Behandlung zu empören? Und zwar ungeachtet der Antiterrorargumente, mit denen Israel und die USA operieren und inzwischen auch eine EU, die immer stärker ins Fahrwasser dieser beiden Länder geraten ist.
Auch die Regierungen der arabischen Länder sind für diesen Stand der Dinge in hohem Maße verantwortlich. Sie missachten völlig die öffentliche Meinung und erfüllen ausnahmslos alle Wünsche der USA, ohne das Geringste dafür zurückzubekommen – weder eine gerechte Lösung der Palästinenserfrage noch eine ausgewogene Behandlung Israels und der arabischen Staaten in Fragen der Rüstungs- und der Abrüstungspolitik. Die Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten der Länder der Region und die Selbstherrlichkeit der Regierung Bush7 ist eine weitere Verletzung der Würde der Völker, die sich schon seit der Zeit der europäischen Kolonialisierung in ihrer Ehre verletzt fühlen. Und jetzt müssen sie im Streit um die Karikaturen auch noch die Verhöhnung ihrer Religion erleben.
Für die Stabilität der Region wäre es wahrlich besser, wenn sich die am stärksten unter dem Druck Washingtons stehenden arabischen Regierungen widersetzen würden. Dann würden sie womöglich von der eigenen Bevölkerung mehr respektiert und könnten sich auch freie Wahlen leisten, ohne dass die politischen Bewegungen, die sich auf den Islam berufen, zwangsläufig die meisten Stimmen absahnen.
Die Politik der USA und Israels setzt offenbar auf die Abstumpfung der arabischen Öffentlichkeit und auf die Spaltung der Bevölkerung, die zum Teil weiter Widerstand leistet, zum Teil aber auch – aus unterschiedlichen Gründen – ihre eigene Unterwerfung noch schneller vollziehen will, weil sie hofft, dass dann endlich Frieden in der Region einzieht. Und dass anschließend die Diktaturen stürzen, rechtsstaatliche Verhältnisse entstehen und die Länder der Region auch wirtschaftlich aufblühen werden.
Ein neuer Kalter Krieg im Nahen Osten
Dieser Riss, der durch die arabische Welt geht, hat sich noch weiter vertieft, seit der Irak besetzt ist und seit der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1559 vom September 2004 verabschiedet hat, in der die Entwaffnung der Hisbollah und der Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Libanon gefordert wird. Damit ist wieder einmal der Libanon – mit seiner ganzen unglückseligen Geschichte – zum Resonanzboden und Puffer für die Widersprüche in der arabischen Welt geworden. Im Grunde erlebt die Region einen neuen Kalten Krieg, nur eben ohne die Beteiligung der Sowjetunion, die von der Bühne verschwunden ist.
Eines ist jedenfalls klar: Die „Ablehnungsfront“ im Nahen Osten, um die Achse Teheran–Damaskus wird weiter bestehen. Zu ihr gehören auch die unterschiedlichen politischen Bewegungen, die sich auf den Islam berufen. Die Affäre um die dänischen Karikaturen stärkt dieses Lager, denn Schiiten wie Sunniten lehnen die Nahostpolitik des Westens ab. Über den religiösen Diskurs polarisieren die islamischen Bewegungen im Iran und in der arabischen Welt geschickt jene nationalistischen Forderungen, von denen die meisten laizistischen Intellektuellen nach dem Scheitern des Nasserismus und der panarabischen Bewegungen längst Abschied genommen haben.
In diesem neuen Kalten Krieg wollen die USA und die Europäische Union um jeden Preis das Lager der so genannten Demokraten stärken, die für politische Reformen in der arabischen und muslimischen Welt und für das Ende des Widerstands gegen die neuen Realitäten der Globalisierung und der amerikanischen Vormachtstellung eintreten. Für sie hat der Kampf gegen den Terror höchste Priorität, ohne dass sie zwischen dem Widerstand gegen eine Besatzungsmacht und den destabilisierenden Gewaltakten in westlichen, arabischen oder muslimischen Metropolen unterscheiden.
In den vielen Kolloquien, Seminaren, Kongressen, die in diesem Sinne veranstaltet werden, geht es immer wieder um politische Reformen, Transparenz und Good Governance. Und auch die arabischen Regierungen, die ihren guten Willen demonstrieren wollen, führen diese schönen Worte im Munde.8 Mit all dem will man die arabische Intelligenzija für Frieden und Demokratie mobilisieren und Druck auf die arabischen Regierungen ausüben. Doch die Grenzen dieses Handelns sind bei den Wahlen im Iran, in Ägypten und Palästina in aller Klarheit zutage getreten. Die Politik des Westens ist im Grunde nichts anderes als die Politik der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert, die unter dem Vorwand der Modernisierung und Demokratisierung des Osmanischen Reiches und der persischen Monarchie ihre kolonialen Ambitionen verfolgten, indem sie beide moribunden Imperien zerstückelten.
Die Konkurrenz der europäischen Großmächte war der tiefere Grund für den Ersten Weltkrieg, aber der Anlass für seinen Ausbruch waren die in der Balkanregion schwelenden Konflikte. Eine ähnliche Krisenregion ist heute der Nahe und Mittlere Osten, wo die Überzeugung von der Unvermeidbarkeit des „Kampfs der Kulturen“ – sprich der Religionen – immer mehr Anhänger findet. Wenn sich diese Idee zu einer veritablen Ideologie entwickelt, stehen uns noch einige schmerzhafte Überraschungen bevor.