10.03.2006

Der Joghurtkönig

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Der Joghurtkönig

Der Präsident von Madagaskar führt den Staat wie ein Unternehmen von Fanny Pigeaud

Ein Joghurtbecher und die Bibel könnten emblematisch die Macht des Präsidenten von Madagaskar darstellen. Marc Ravalomanana besitzt das Monopol an der industriellen Herstellung von Molkereiprodukten. Das hatte ihm zum einen das nötige Polster verschafft, um sich Ende 2001 als Präsidentschaftskandidat in den Wahlkampf zu stürzen. Zum anderen nutzte ihm sein offensives Bekenntnis zum protestantischen Glauben, das ihm die Unterstützung der in der Inseltradition sehr einflussreichen christlichen Kirchen sicherte.1

Die Anhänger des Industriellen präsentierten ihren Kandidaten als „Messias“, der erschienen sei, um die Insel aus dem Chaos zu retten, in das Präsident Didier Ratsiraka sie gestürzt hatte. „Fürchtet euch nicht, glaubet nur“, dieses Motto aus dem Markus-Evangelium führte er ständig im Munde.

Seine Wahlversammlungen begannen immer mit einem Gebet: „Die Vertreter des Kirchenrats waren anwesend. Es wurde ein paar Minuten gebetet, man sang einige Lieder. Aber sehr schnell konzentrierte sich die Versammlung auf andere Dinge, und es ging zur Sache“, erinnert sich eine Universitätsprofessorin. Ihrer Ansicht nach spiegelte sich im religiösen Eifer vor allem die Verzweiflung der Leute.

Wegen des knappen Ausgangs der Wahl weigerte sich Ratsiraka lange Zeit, seine Niederlage anzuerkennen, schließlich ging er nach Frankreich ins Exil. Die ungewöhnliche Allianz des „Joghurtkönigs“ mit den Kirchen funktioniert schon seit fast vier Jahren. Er dachte sogar bereits öffentlich über eine „Theokratie“ nach, obwohl die Verfassung des Landes die Trennung von Staat und Kirche vorschreibt.

Im August 2004 wurde Ravalomanana im Amt des Vizepräsidenten der reformierten Christen (FJKM) bestätigt, einer der vier im Rat der christlichen Kirchen von Madagaskar (FFKM) zusammengeschlossenen Kirchen. Der Präsident der Nationalversammlung, Jean Lahiniriko, ist Mitglied der Regierungspartei TIM (Tiako i Madagasikara, Ich liebe Madagaskar) und Schatzmeister der lutherischen Kirche. Auch die anderen Konfessionen streben nach politischen Ämtern. „Die Berufung des katholischen Premierministers Jacques Sylla erfolgte auf Vorschlag von Kardinal Armand Razafindratandra“, berichtet Madeleine Ramaholimihaso, Mitbegründerin des überparteilichen Nationalkomitees zur Beobachtung der Wahlen (CNOE). Ravalomanana nutzte die landesweite Versammlung der reformierten Prediger der FJKM im April 2005, um den Teilnehmern zu erklären, er wolle sie zu „Entwicklungshelfern“ im Dienst des Staates machen.

Viele Madagassen fragen sich, worauf ihr Präsident hinauswill. Möchte er die Kirchen in den Dienst des wirtschaftlichen Aufschwungs stellen, oder benutzt er den Volksglauben, um seine Macht zu festigen? Manche, wie die Organisation Sefafi („Beobachtung des öffentlichen Lebens“), sind besorgt über die Häufigkeit christlicher Kulthandlungen bei offiziellen Eröffnungszeremonien oder am Arbeitsplatz in staatlichen Institutionen. Beunruhigend findet man außerdem die massive staatliche Finanzhilfe für bestimmte Konfessionen, die Gegenleistungen versprechen. Andere stören sich an den Pflichtgebeten in den Grundschulen, bei denen die Flagge gehisst wird.

Doch inzwischen sind die kirchlichen Kreise gespalten. Viele Mitglieder der katholischen Kirche kritisieren die Unterstützung, die der Kardinal dem Staatschef zuteil werden lässt. Pater Rémi Ralibera, Generalsekretär des FFKM, hält „die enge Zusammenarbeit mit der politischen Macht“ für gefährlich. „Die Kirche wird nicht unbeschadet daraus hervorgehen. So wie die Dinge stehen, spielt die Trennung von Staat und Kirche keine Rolle“, sagt er. Und Pater Sylvain Urfer befürchtet, dass das Eintauchen des FFKM in die Politik vor allem ein wunderbarer Nährboden für Sekten sei. „Das erlaubt ihnen, zu sagen: ‚Schaut die Kirchen, wie sie Politik machen. Wir tun das nicht, kommt zu uns!‘ Und das funktioniert!“ Auf Madagaskar gehen immer mehr missionierende Rundfunkstationen auf Sendung. Diese schwer zu kontrollierende Entwicklung scheint die Behörden zu beunruhigen. Anfang des Jahres 2005 hat die Regierung drei religiöse Vereine als Sekten eingestuft und verboten.

Die heutige Verquickung von Kirche und Staatsgewalt ist ungewöhnlich. „Vergessen wir nicht, dass die Kirche vor allem auf dem Land verwurzelt ist. Und von dort kommt Ravalomanana“, sagt Solfo Randrianja, der Geschichte an der Universität von Toamasina lehrt. Für viele Madagassen spielt das Gedenken an die Toten eine wichtige Rolle in ihrem religiösen Alltag. Nur die Hälfte bekennt sich zum Christentum. „Das Leben ist nur ein Abenteuer, ein notwendiger Übergang, der erduldet werden muss“, beschreibt der madagassische Fotograf Pierrot Men die Philosophie seiner Landsleute. „Das wahre Leben beginnt erst nach dem Tod, im Reich der Vorfahren und ihrer Geister. Warum also die Ordnung der Dinge in Frage stellen? Lieber abwarten.“

Großunternehmer, Kirchenmann, Staatsoberhaupt

Ravalomanana ist Staatsoberhaupt, führender Kirchenmann und außerdem Großunternehmer. Das bringt ihn immer wieder in Interessenkonflikte. Er ist Direktor der Agrarunternehmensgruppe Tiko, die 1981 mit Hilfe eines günstigen Kredits der Weltbank gegründet wurde. Wie der Kirchenrat ist Tiko mit dem Staat eng verquickt: Die so genannten Tiko Boys sind Abgeordnete oder Verwaltungsbeamte geworden. Solofonantenaina Razoarimihaja, der Vorsitzende der Regierungspartei TIM und Vizepräsident der Nationalversammlung, ist ein ehemaliger Geschäftsführer der Tiko. Umgekehrt kamen verschiedene Maßnahmen, die Ravalomanana als Präsident der Republik entschieden hatte, vor allem seiner Unternehmensgruppe zugute. Seit 2005 braucht die Tiko Oil Group für das von ihr vertriebene Rohöl keine Steuern mehr zu bezahlen, während das von der Konkurrenz importierte raffinierte Öl mit 20 Prozent besteuert wird. Nach Einschätzung mehrerer Wirtschaftsbeobachter, die die Undurchsichtigkeit der madagassischen Geschäftsmethoden beklagen, soll das Tiko-Konsortium seinen Umsatz seit den Wahlen von 2002 mindestens verdreifacht haben.

„Man kann sagen, dass sich Ravalomanana sehr viel stärker bereichert hat als sein Vorgänger“, sagt der Politikwissenschaftler Richard R. Marcus von der Universität Huntsville, Alabama. „Aber während Ratsiraka Staatsgelder für sich abzweigte, missbraucht Ravalomanana seine politische Position. Er bereitet für seine Firmen den Boden, damit diese ihren Rivalen wichtige Verträge wegschnappen oder im Zuge der Privatisierung öffentliche Unternehmen billig aufkaufen können.“ Die Tiko-Gruppe erstreckt sich mittlerweile auf die verschiedensten Wirtschaftsbereiche. Neben einer Rundfunkstation und einem Fernsehsender, dem Madagascar Broadcasting System (MBS), vertreibt sie nun auch eine Zeitung, Le Quotidien. Tikos Unternehmen stellen Tiernahrung, Joghurt, Eis, Butter, Öl, Getränke und andere Lebensmittel her, zwei Tochterunternehmen sind im Hoch- und Tiefbau aktiv. „Der Präsident ist gezwungen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Tiko ist das einzige Mittel, über das er verfügt“, entgegnet der TIM-Präsident denen, die der Tiko-Gruppe „Gefräßigkeit“ vorwerfen, denn „viele Superreiche von hier sind noch mit den alten Machthabern verbandelt und verweigern die Zusammenarbeit“.

Manche, wie Professor Solofo Randrianja, betonen eher, was der Tiko-Chef für das Land tut: „Ravalomanana ist ein Bourgeois im klassischen Sinne. Seine Unternehmen sind auf die Existenz eines nationalen Marktes angewiesen. Die Schaffung dieses Marktes aber wirkt als integrative Kraft. Wenn Ravalomanana Straßen bauen lässt, kann er die Produkte seiner Gruppe natürlich leichter in Umlauf bringen, aber die Verkehrswege dienen auch der Allgemeinheit. Ratsiraka dagegen war ein reiner Parasit.“ Seit 2002 hat die Regierung die Infrastruktur verbessert: die Häfen von Toliara und Mahajanga wurden erneuert, insgesamt 1 500 Kilometer Verbindungsstraßen zwischen der Hauptstadt Antananarivo und den wichtigsten Orten der sechs Provinzen saniert. Die Nationalstraße von Antananarivo nach Toamasina, die sich in beklagenswertem Zustand befand, ist brandneu.

Die Regierung Ravalomanana scheint bei der internationalen Gemeinschaft große Anerkennung zu finden. Madagaskar ist der erste Nutznießer der Fonds für die UN-Millenniums-Entwicklungsziele; der französische Senat hat Ravalomanana 2005 mit dem Prix Louise Michel für „die Verteidigung republikanischer Werte“ ausgezeichnet. Im Oktober 2004 gewährten die internationalen und bilateralen Kreditgeber Madagaskar einen teilweisen oder vollständigen Schuldenerlass. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert sich auf Hilfe bei der Bewältigung der Umweltprobleme und beim Schutz und der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen.

Trotz der ausländischen Hilfe ist die Wirtschaftskraft des Landes schwach. 70 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Das Wirtschaftswachstum sollte 2005 auf 7 Prozent steigen, es stagniert aber bei 5,1 Prozent. Die Inflation führt zum stetigen Verfall der madagassischen Währung. Seit Juni 2005 gibt es täglich Stromunterbrechungen: der nationale Elektrizitätsversorger, das Staatsunternehmen Jirmana – dessen Management im Januar 2005 der deutschen Gesellschaft Lahmeyer übertragen wurde –, steht kurz vor dem Bankrott.

„Wir erleben seit 2002 einen maßlosen Liberalismus“, sagt Pater Sylvain Urfer. „Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, und die Armen gehen dabei drauf.“ Madagaskar steht im Human Development Index des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) auf Platz 146 von 177. 60 Prozent der Madagassen leiden an Unterernährung. Die Löhne sind so gut wie nicht gestiegen. Den Besuch im öffentlichen Krankenhaus kann sich nur noch der Mittelstand leisten, seit der Preis pro Untersuchung im Februar 2005 von 1 200 auf 15 000 Ariary gestiegen ist.2 Für die Ärmsten ist das öffentliche System nicht mehr zugänglich. Daher wenden sie sich an volkstümliche Heiler, bestätigt ein Arzt.

Die Gratisvergabe des von der Weltbank finanzierten Schulbedarfs scheint doch eher ein Notbehelf zu sein. „Werden hier wirklich die Ursachen der Armut angepackt oder nur ihre Folgen gemildert?“, fragt eine Lehrerin aus einem Vorort von Antananarivo.

Auf dem Land, wo 70 Prozent der Madagassen leben, hat sich die Lage nicht merklich verbessert. Der Reispreis hat sich zwischen April und Dezember 2004 verdreifacht, was nur dazu geführt hat, dass einige Großerzeuger ihre Gewinne steigern konnten. Am anderen Ende der Kette hat die Bevölkerung, für die Reis das Grundnahrungsmittel ist, schwer darunter gelitten. „Unter Ratsiraka wurde Reis subventioniert, um den Preis künstlich niedrig zu halten. Ravalomanana hat diese Subvention gestrichen“, berichtet Richard R. Marcus. Die NGO Solidarität mit Madagaskar warnt vor der wachsenden Armut, da die Hilfsorganisationen nicht in der Lage seien, den Staat in den Bereichen des Gesundheitswesens oder der Ernährung zu ersetzen.3

Der Präsident führt die Staatsgeschäfte wie ein Firmenchef. Aufbrausend und nachtragend hat er schon mehrere Minister und Berater, die ihm nicht „effizient“ genug waren, entlassen. Die meisten sind sofort zur Opposition übergelaufen. Im Namen der „Effizienz“ fühlt er sich auch dem parlamentarischen Abstimmungsverfahren nicht immer verpflichtet. „Die Steuerbefreiungen von August 2003, ein Ergebnis persönlicher Überlegungen des Präsidenten der Republik, wurden im Alleingang beschlossen und auf der Stelle umgesetzt, noch ehe sie dem Parlament zur Verabschiedung vorlagen“, beklagt die Organisation Sefafi.

Andere finden hingegen, dass die persönlichen Freiheiten unter Ravalomanana besser geschützt werden. Eine Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als vier von fünf Madagassen der Meinung sind, sie hätten größere Freiheit als vor einigen Jahren, „ohne Druck zu entscheiden, wen sie wählen“, und dass 76 Prozent der Bevölkerung glauben, „die Freiheit, zu sagen, was man denkt“, werde mehr respektiert.4

In die Opposition hat man auch kein Vertrauen

Trotz aller Kontroversen ist die Wiederwahl Ravalomananas im nächsten Jahr so gut wie sicher. Zur Opposition hat man weniger Vertrauen als zum Präsidenten. „Die Opposition hat nur eins im Sinn: Sie will wieder an die Macht und an die großen Gelder“, sagt ein Einwohner von Antananarivo.

„Man kann nicht von heute auf morgen Resultate sehen“, meint ein Unternehmer aus der Hauptstadt. „Viele Dinge sind verwirklicht worden. Auf dem Land zeigt sich, dass es nicht mehr wie früher ist, als jeder vor sich hin wurstelte. Alles wird straffer gelenkt, die Bauern schließen sich zu Verbänden zusammen, und die kleinen Händler wissen, an wen sie sich zu wenden haben.“

Ein auf die ländlichen Verhältnisse spezialisierter Soziologe ist weniger optimistisch. Die in Regierungskreisen oft erwogene Idee, eine Agroindustrie aufzubauen, scheint ihm völlig abwegig, weit entfernt von der Realität der madagassischen Landwirtschaft, die größtenteils aus kleinen Familienbetrieben besteht. 2005 hatte der Staat gegen vielerlei Bedenken tausend neuseeländische Milchkühe importiert, um die Bauern für die Milchindustrie zu gewinnen. Das Projekt scheiterte. Denn welcher kleine Bauer kann sich schon eine Kuh leisten, die etwa 4 Millionen Ariary (ca. 1 500 Euro) kosten soll?5

Dennoch sind die internationalen Geldgeber mit Ravalomananas neoliberaler Politik zufrieden, und damit, dass ein Oberster Rat zum Kampf gegen die Korruption (CSLCC) und das Unabhängige Antikorruptionsbüro (Bianco) installiert wurden. Aber warum akzeptieren sie, dass der Staatspräsident von Madagaskar einen Steuererlass beschließt, der ihren Prinzipien total widerspricht, während sie früher schon aus geringerem Anlass mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätten?

Inzwischen sind die großen Finanzinstitutionen auf Madagaskar allgegenwärtig. „Man hat den Eindruck, dass Ravalomanana nicht mehr frei ist. Alles wird von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds diktiert. Die Intellektuellen, die sich kompetent fühlen, werden ausgeschlossen. Die Berater des Präsidenten sind Ausländer, ungefähr wie unter der Ersten Republik, als hinter jedem Madagassen ein Franzose stand“, berichtet die Soziologieprofessorin Janine Ramamanjisoa von der Universität Antananarivo.

Die Band Mahaleo jedenfalls füllt dreißig Jahre nach ihrem ersten Erfolg mit kritischen Songtexten immer noch die Stadien. „Ich fürchte, es hat sich nichts geändert. Die Gegenwart ist nur ein Abklatsch der Vergangenheit. Wie Museumsstücke ohne Kratzer, aber voller Schimmelpilz“, sangen die Protestsänger Anfang der 1980er-Jahre. Und ihr Lied ist heute so beliebt wie damals. Doch die Anhänger des Präsidenten raten denen, die an der eingeschlagenen Richtung zweifeln, zur Geduld. „Es ist kein leichter Weg“, sagt Solofo Randrianja, „denn es gilt nicht nur, für Transparenz in der Staatsverwaltung zu sorgen, sondern es müssen auch Privilegien und Netzwerke ins Visier geraten, die seit der Unabhängigkeit existieren.“

Fußnoten: 1 Vgl. Sylvie Brieu, „Der Einfluss der Kirchen auf die ‚Große Insel‘ “, Le Monde diplomatique, Okt. 1995. 2 Im Dezember 2004 wurde der madagassische Franc durch den Ariary ersetzt. Er ist nicht konvertierbar. 1 Ariary ist 5 madagassische Franc wert. 1 Euro entspricht 2 500 Ariary. 3 Madagasconsortium.free.fr. 4 Diese Untersuchung wurde im Auftrag des Forschungsinstituts für Entwicklung (IRD) in Zusammenarbeit mit Coef und Dial durchgeführt. www .afrobarometer.org/madagascar.htm. 5 Mindestlohn: 52 000 Ariary (21 Euro) im Monat. .Aus dem Französischen von Grete Osterwald Fanny Pigeaud ist freie Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Fanny Pigeaud