10.03.2006

Chiracs nukleares Schattentheater

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Chiracs nukleares Schattentheater

Frankreich pocht auf seine Abschreckungsdoktrin – und gefährdet die Politik der atomaren Abrüstung von Jean Klein

Die Rede von Staatspräsident Jacques Chirac, die er am 19. Januar 2006 im Hauptquartier der Luft-, See- und strategischen Streitkräfte auf der Île Longue hielt, gab der Debatte über Mittel und Zweck der von Frankreich seit vierzig Jahren praktizierten Abschreckungspolitik einen neuen Anstoß. Dabei geht die Kontroverse vor allem darum, ob eine ausgreifende Interpretation der vitalen französischen Interessen, die auch einen Nukleareinsatz als Ultima Ratio rechtfertigt, begründbar ist.

Jacques Chirac betonte, dass die „Integrität des Territoriums, der Schutz der Bevölkerung und die freie Ausübung der Souveränität“ zwar die zentralen Interessen sind, aber die Liste sei damit nicht erschöpft. Angesichts der engeren Verflechtung auf EU-Ebene und der zunehmenden Globalisierung gehörten dazu auch die „Sicherung unserer strategischen Versorgung und die Verteidigung verbündeter Länder“.

Zwar räumte der Staatspräsident ein, dass sich „fanatische Terroristen“ durch nukleare Abschreckung nicht zur Vernunft bringen lassen. Doch zugleich erklärte er, dass man Staaten, die den Einsatz terroristischer Mittel oder Massenvernichtungswaffen gegen Frankreich erwägen, von ihrem Vorhaben abbringen könne, wenn ihnen klar sei, dass Paris in einem solchen Fall entschlossen und angemessen reagieren werde. Und diese Reaktion könne dann „konventioneller oder auch […] anderer Art sein“.

Der Extremfall als Vorwand

Diese Auslegung der französischen Nukleardoktrin wurde von manchen Beobachtern und aktiven Politikern als inopportun oder sogar gefährlich beurteilt.1 Von Regierungsseite wurde daher klargestellt, an der Abschreckungspolitik habe sich grundsätzlich nichts geändert und die Überlegungen des Staatspräsidenten bezögen sich nur auf den Fall einer „äußerst schweren internationalen Krise, die die Funktionsfähigkeit unseres Landes bedroht“2 .

Die Frage eines Beitrags der französischen Nuklearstreitkräfte zur Verteidigung Europas steht seit über zehn Jahren zur Debatte und ist ein ständiges Thema zwischen Paris und London. Sobald sich die Europäische Union zu einer wirklich gemeinsamen Verteidigungspolitik entschlossen hat, wird diesen Gesprächen eine wichtige Rolle zukommen. Doch bis es so weit ist, stehen hinter der weiteren Entwicklung und Zielsetzung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch viele Fragezeichen.

Über die Erfolgschancen einer europäischen Abschreckungspolitik, die in den Mitgliedsländern heftig abgelehnt wird, kann man nur Mutmaßungen anstellen. Wobei diese Ablehnung sowohl für Länder mit prinzipiell atomfeindlich gestimmter Öffentlichkeit gilt wie auch für Länder, die sich im Rahmen der Nato mit dem atomaren Schutzschirm der USA zufrieden geben und die militärische Rolle der EWU auf die in der Petersberger Deklaration definierten Ziele beschränken wollen.3

Gleichwohl kann man die nukleare Dimension der Sicherheit Europas nicht länger ignorieren. Angela Merkel konstatierte denn auch bei ihrem Treffen mit Chirac am 23. Januar eine „vollständige Kontinuität“ der französischen Nukleardoktrin. Da die französischen Nuklearwaffen ausschließlich der Abschreckung dienten und nicht für einen Einsatz auf dem Schlachtfeld vorgesehen seien, gebe es für die Deutschen keinen Anlass zu Beunruhigung. Im Übrigen müsse die Atomdoktrin an die weltweiten Veränderungen angepasst werden, wobei eine stärkere Flexibilisierung des militärischen Instrumentariums nicht zwangsläufig die Senkung der atomaren Schwelle bedeute.

Doch die beruhigenden Worte der Bundeskanzlerin lassen viele Fragen offen, vor allem die, wie die Einbindung der französischen (und britischen) Nuklearstreitkräfte in ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem vonstatten gehen könnte.4 Die heftige deutsche Kritik an Chirac, gerade auch aus den Reihen der beiden Regierungsparteien SPD und CDU, lässt in dieser sensiblen Frage keine baldige Annäherung zwischen Paris und Berlin erwarten.

Als inopportun wurden die Überlegungen Chiracs noch aus einem anderen Grund bezeichnet: Wenn Frankreich die nukleare Abschreckung als „grundlegende Garantie für unsere Sicherheit“ und „ultimativen Ausdruck“ einer Konfliktverhütungsstrategie definiere, liefere man gerade jenen Staaten Argumente, die eine eigene Atombewaffnung anstreben. Damit aber könnten die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Nichtverbreitung von Atomwaffen unterlaufen werden.

In diesem Zusammenhang wird auf die Verhandlungen verwiesen, die von den drei EU-Ländern Deutschland, Frankreich und Großbritannien seit 2003 mit dem Iran geführt werden, um Teheran dazu zu bewegen, seine Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag einzuhalten und greifbare Garantien für einen Verzicht auf die militärische Option zu liefern. Diese Verhandlungen traten in eine kritische Phase, nachdem die iranische Regierung beschlossen hatte, die Urananreicherung wieder aufzunehmen, und der Gouverneursrat der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) beantragte, das Iran-Dossier vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen.5

Chiracs Rede wurde denn auch von den christdemokratischen Parlamentariern Andreas Schockenhoff und Eckart von Klaeden wie auch von britischen Abgeordneten mit dem Argument missbilligt, sie könne die Solidarität der drei Atomwaffenstaaten, die eine Verhandlungslösung der Irankrise anstreben, gefährden.6 Doch weder die Klarstellung des französischen Außenministers, dass die Rede nicht auf ein bestimmtes Land ziele, noch die Erklärung des französischen Generalstabschefs General Henri Bentégeat, dass dem Iran keine Militäraktion drohe, konnte solche Bedenken zerstreuen.7

Der US-amerikanische Militäranalytiker John Wolfstahl vom Center for Strategic and International Studies in Washington hat durchaus Recht, wenn er meint, dass „die von Frankreich angesprochene Ausweitung der Rolle von Nuklearwaffen die Argumente der Europäer gegen das Recht des Iran, solche zu erwerben, nur schwächen kann“8 .

Frankreich muss sich also die Frage gefallen lassen, wie sich eine Abschreckungsstrategie mit aktiver Nichtverbreitungspolitik verträgt. In den 1960er-Jahren lehnte die französische Regierung die Philosophie, die dem Nichtverbreitungsvertrag (NPT) zugrunde liegt, noch rundweg ab. Obwohl ihr die Gefahren einer Ausweitung des Kreises der Nuklearmächte klar waren, meinte sie 1964, man könne „den Aufstieg neuer Staaten in den Kreis der Nuklearstaaten nur unter der Bedingung verhindern, dass Letztere auf ihr eigenes Verschwinden hinarbeiten. Wie sollte man anderen verbieten, was man sich selbst gestattet?“9

Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt entschloss sich Frankreich, die Konsolidierung des Nichtverbreitungsregimes aktiv zu unterstützen, sodass sich die französische Position grundsätzlich nicht mehr von der unterscheidet, die andere nach dem NPT gleichgestellte Nuklearmächte vertreten. Die fünf Atomwaffenstaaten wollen keinesfalls auf ihre besonderen militärischen Fähigkeiten verzichten, die international einen privilegierten Status begründen und sie in die Lage versetzen, jede Bedrohung ihrer vitalen Interesse durch Ausspielen der Abschreckungskarte zu parieren. Gleichwohl gehen sie davon aus, dass eine Erweiterung des Klubs das Risiko eines apokalyptischen Konflikts erhöhen würde.

Um dieser Gefahr zu begegnen, bemühen sie sich um die Konsolidierung des Nichtverbreitungsvertrags in der Weise, dass die Nichtatomwaffenstaaten als Gegenleistung für ihren Atomwaffenverzicht die Atomenergie für friedliche Zweck nutzen und Sicherheitsgarantien erwarten dürfen. Nach dieser Logik ist aber das Gleichgewicht der gegenseitigen Verpflichtungen nicht mehr gewahrt, wenn dem Nuklearwaffenverzicht der einen keine entschlossenen Abrüstungsfortschritte der anderen gegenüberstehen.

Auf die UN-Charta kann sich jeder berufen

In seiner Rede auf der Île Longue rief Staatspräsident Jacques Chirac zur Einhaltung des NPT-Vertrags auf und erinnerte daran, dass der Sicherheitsrat die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in einer Erklärung vom 31. Januar 1992 als „Bedrohung für den Weltfrieden und die Weltsicherheit“ bezeichnet hat. Bei Zuwiderhandeln seien daher präventive und repressive Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta gerechtfertigt. Auf der anderen Seite betonte Chirac aber auch, sein Land unterstütze die „internationalen Bemühungen um eine allgemeine und vollständige Abrüstung“, und ließ durchblicken, dass Frankreich seine „Abschreckungsmacht“ einseitig reduziert habe, um dem Geist des Nichtverbreitungsvertrags gerecht zu werden und sich rüstungstechnisch auf das unabdingbare Minimum zu beschränken.

Solche Äußerungen werden aber kaum die Vorbehalte der Staaten zerstreuen, die den diskriminierenden Charakter des Nichtverbreitungsvertrags deutlich empfinden und den Nuklearmächten ständig vorhalten, dass sie sich nicht an ihre 2000 gegebene Zusage halten, eine vollständige Eliminierung ihres strategischen Waffenarsenals anzustreben.10 Im Übrigen treten die Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen seit zehn Jahren auf der Stelle und brachten nur enttäuschende Ergebnisse.11 Die 7. Überprüfungskonferenz im Mai 2005 war von starken Spannungen gekennzeichnet. Während die Nichtatomwaffenstaaten auf dem Zusammenhang zwischen Abrüstung und Konsolidierung des Nichtverbreitungsregimes insistierten, wollten die Atomwaffenstaaten nur minimale Zugeständnisse machen, sind sie doch der Auffassung, ihre Abrüstungsschritte seit dem Ende der bipolaren Welt seien Beweis genug für ihren guten Willen, Artikel VI des NPT umzusetzen.

Die erklärte Absicht Frankreichs, sein Atomwaffenarsenal zu modernisieren, um angesichts der weltweiten Diversifizierung des Risikopotenzials glaubwürdiger zu werden, ist sicher nicht geeignet, dieses Misstrauen zu zerstreuen. Vielmehr müsste Frankreich die Entscheidungsträger ermuntern, in Fragen der Verbreitung von Atomwaffen nicht mehr so präzeptorenhaft zu agieren.12

Letztendlich steht Chiracs Rede vom Januar in der Kontinuität der außenpolitischen Prioritäten Frankreichs seit dem Ende der bipolaren Welt. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht hat uns das Ende des Ost-West-Gegensatzes und das Verschwinden der sowjetischen Bedrohung keine postnukleare Welt beschert, sondern eine „zweite Ära des Atomzeitalters“ eröffnet. Insofern ist es verständlich, dass die französischen Regierungen seitdem bemüht waren, das militärische Instrumentarium zu erhalten und zu modernisieren, das die Verteidigung der vitalen Interessen des Landes gewährleistet, die nationale Identität sichert, einen Beitrag zur regionalen Stabilität leistet und gegen die Unwägbarkeiten der Zukunft wappnet.

Gewiss bleiben viele Fragen, namentlich im Hinblick auf die Definition der „vitalen Interessen“ und der geeigneten Mittel, diese Interessen vor möglichen Bedrohungen zu schützen. Aber auch Fragen hinsichtlich möglicher Fehlentwicklungen einer Strategie der selektiven Gegenwehr und der Perspektiven einer europäischen Verteidigung, die die französische und britische Atomstreitmacht einbeziehen könnte, sobald sich die EU dauerhaft auf gemeinsame Interessen verständigt hat.

Gegenwärtig herrscht über die Grundsätze der französischen Abschreckungsdoktrin ein breiter nationaler Konsens, den der Begriff „strategische Abwartehaltung“ umreißt, der von General Poirier stammt und die Sicherheitserfordernisse angesichts der Europäisierung der Verteidigung beschreibt. Die Voraussetzungen für eine fruchtbare Debatte über alle kontroversen Fragen sind also günstig. Sie ist umso notwendiger, als das Ende der französischen Strategie nicht schon morgen ins Haus steht und die vollständige Abschaffung der Nuklearwaffen noch außer Reichweite liegt. In einer Welt, in der die nukleare Bedrohung latent bleiben wird, weil die Erfindung der Atomwaffe nicht rückgängig zu machen ist, sollte man daher besser auf eine kooperative Sicherheitsstrategie setzen, die auf einem Mindestmaß an Abschreckungsfähigkeit beruht.

Fußnoten: 1 Dazu Louis Gautier, „Nucléaire: clarifier le propos“, Le Monde, 24. Januar 2006. 2 Le Monde, 26. Januar 2006. 3 Der Petersberg-Erklärung der Außen- und Verteidigungsminister der WEU-Mitgliedstaaten vom 19. Juni 1992 zufolge dürfen militärische Einheiten der Mitgliedstaaten für „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben [sowie] Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens eingesetzt werden“. 4 Siehe Stefanie Weiss (Bertelsmann-Stiftung), in: Le Monde, 3. Februar 2006. 5 Siehe Dossier, Le Monde diplomatique, Nov. 2005. 6 Siehe Financial Times vom 20. Januar 2006 sowie Le Monde und Libération vom 21. Januar 2006. 7 Dazu Michaela Wiegel: „Atomschläge als letzte Warnung“, FAZ, 21. Januar 2006. 8 Zit. n. Financial Times, 20. Januar 2006. 9 Parlamentsrede von Maurice Couve de Murville am 3. November 1964. 10 Erklärung der Delegationen der fünf Nuklearmächte auf der Überprüfungskonferenz zum NPT-Vertrag in: Politique Etrangère de la France, Paris (La Documentation française) Mai–Juni 2000. 11 Jean Klein, „Entre maîtrise et développement, une course permanente“, Questions Internationales 13, Paris Mai–Juni 2005. 12 Für ein sensibleres Bemühen um eine „universelle Nuklearkultur“ plädiert General Lucien Poirier in: (zus. mit François Géré) „La réserve et l’attente. L’avenir des armes nucléaires françaises“, Paris (Economica) 2001. Aus dem Französischen von Bodo Schulze Jean Klein ist Politikwissenschaftler und Historiker am Institut Français des Relations Internationales (IFRI), Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Jean Klein