10.03.2006

Wie Weißrussland Lukaschenko wählt

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Wie Weißrussland Lukaschenko wählt

Jeder weiß, dass bei den Präsidentschaftswahlen manipuliert wird. Dennoch hoffen viele Weißrussen auf ein baldiges Ende der letzten Diktatur in Europa von Alexandre Billette und Jean-Arnault Derens

Dieses Regime ist einfach perfekt“, meint die junge Studentin resigniert, während sie ihr Auto über den mehrspurigen Boulevard von Minsk steuert. Rechts und links ziehen Stalinbauten vorüber. Die Straßen der weißrussischen Hauptstadt vermitteln den Eindruck von Ordnung und Sicherheit. Von McDonald’s abgesehen sieht man keine Werbung für westliche Markenprodukte. Aber kurz vor den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 19. März sind auch keine Plakate der Opposition zu entdecken. Präsident Lukaschenko hat bereits verkündet, er wolle das Schicksal des Landes nicht den „Ratten und Schmeißfliegen der Opposition“ oder dem „räudigen Gesindel“ der Privatunternehmer überlassen.

Vor zwölf Jahren war Lukaschenko zum ersten Mal gewählt worden, mit mehr als 80 Prozent der Wählerstimmen. Ein westlicher Diplomat hatte sich damals schon besorgt über „das unklare Programm“ des 39-jährigen Kandidaten geäußert und den ehemaligen Chef einer Sowchose als „ausgemachten Populisten ohne jede Regierungserfahrung“ beschrieben. Aleksander Lukaschenkos Regierungsstil war von Anfang an autoritär.

Im Mai 1995 verschaffte er sich über ein Referendum, das zusammen mit den ersten Parlamentswahlen seiner Präsidentschaft abgehalten wurde, das Recht auf Parlamentsauflösung. In zwei weiteren Plebisziten wurde Russisch neben Weißrussisch zur zweiten Amtssprache gemacht und ein Programm der wirtschaftlichen Integration mit dem russischen Nachbarn verabschiedet. In einer dritten Volksabstimmung wurde der Vorschlag abgelehnt, die weiß-rote Flagge von 1990, die sich der neue Staat Belarus gegeben hatte, durch die alte Fahne zu ersetzen. Aber Lukaschenko setzte das alte Symbol der Sowjetherrschaft dennoch durch. Über ein weiteres Referendum im November 1996 wurden die Befugnisse des Präsidenten erneut ausgebaut.1

Viele Oppositionelle bezeichnen heute 1996 als das erste schwarze Jahr, erzählt Peter Martsew, Chefredakteur der unabhängigen Belarusskaja Delovaja Gazeta, die mittlerweile nicht mehr über den staatlichen Zeitungsgroßhandel vertrieben werden darf.

Nicht besser ist die Lage der Menschenrechtsorganisationen in Weißrussland. Vesna (Frühling) operiert aus einer Privatwohnung heraus. Jeder Besucher wird am Eingang genau überprüft. Einer der Köpfe der unabhängigen Bürgerinitiative Charta 97 ist nur zu einem vertraulichen Treffen im Café bereit. Das Regime merke allmählich, dass Bewegung in die Gesellschaft gekommen ist, deshalb habe Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen von Juli auf März vorgezogen: „Doch die Angst der Menschen ist sehr groß – am Arbeitsplatz und zu Hause. Vor allem wegen der Gesetzesänderungen in diesem Jahr.“

Gesetzesänderungen schüren ein Klima der Angst

Seit Anfang Januar können Vergehen, die bisher als einfache Verwaltungsdelikte behandelt wurden, strafrechtlich verfolgt werden. Gleichzeitig wurde das Strafgesetz um neue Paragrafen erweitert. Auf Äußerungen, die als „Diskreditierung der Republik Belarus“ (§ 369-1) geahndet werden, stehen Gefängnisstrafen von sechs Monaten bis zu zwei Jahren. Diese popavki (Gesetzesänderungen) schüren ein Klima der Angst und bringen selbst Organisationen zum Schweigen, die nicht im Verdacht stehen, gegen Lukaschenko zu sein.

So verbietet die Minsker Führung den Aktivisten der Union der republikanischen Jugend in Belarus (BRSM) – auch Lukamol (in Anlehnung an die sowjetische Jugendorganisation Komsomol) genannt – Interviews mit ausländischen Journalisten. Im Regionalbüro der BRSM in Grodno bekommt man selbst über unverdächtige Angebote wie Tanztees keine Auskunft. „Die meisten Jugendlichen werden wegen materieller Vorteile Lukamol-Mitglied“, sagt ein NGO-Vertreter. „In der Provinz bekommen sie zum Beispiel Freikarten für die Disko.“

Anders als Vater und Sohn Alijew in Aserbaidschan oder Nursultan Nasarbajew in Kasachstan praktiziert Lukaschenko keinen Personenkult. Zwar ist er im Fernsehen ständig präsent, doch in den Straßen sieht man keine Porträts des Staatschefs. Keine der Parteien im Parlament vertritt offiziell sein Programm. Die meisten der 110 Abgeordneten sind formell parteilos oder unabhängig. Doch neben der parlamentarischen Gefolgschaft des Präsidenten gibt es auch Dissidenten wie die Kommunisten und die Liberaldemokraten (Rechtextremisten, die Wladimir Schirinowski in Russland und Le Pens Front National in Frankreich nahe stehen).

Wie lässt sich dieses politische System genauer qualifizieren? „Lukaschenko reproduziert nicht das sowjetische System; er wahrt nur den Schein, um ein eigenes etatistisches Regime zu etablieren“, meint ein ehemaliger Universitätsprofessor, heute Leiter eines halb klandestinen Forschungszentrums. „Stabilität und Wohlstand“ sind die Lieblingsvokabeln des Präsidenten. Im Vergleich zu dem ukrainischen und dem russischen Nachbarn scheint es der Wirtschaft in Weißrussland relativ gut zu gehen.

Im Dezember 2005 betrug das Durchschnittseinkommen 250 Dollar. Die Löhne werden sofort und in bar ausgezahlt. Das Gleiche gilt für die Renten, die über 100 Dollar liegen. Mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 1,5 Prozent herrscht in Weißrussland praktisch Vollbeschäftigung. „In Wahrheit allerdings“, sagt Alexander Jaraschuk, Vorsitzender des Verbands unabhängiger Gewerkschaften, „gibt es eine hohe latente Arbeitslosigkeit, denn viele Menschen sind unterbeschäftigt.“

Nach offiziellen Angaben leben 20 Prozent der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums – in Russland gehören 41,4 Prozent zu diesen Ärmsten der Armen. In Grodno, 40 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, blüht der kleine Grenzhandel. Grundnahrungsmittel sind im polnischen Bialystok deutlich billiger. Am Busbahnhof gibt es einen regelrechten Shuttle-Service: Für ein paar Belarus-Rubel fährt man zum nächsten polnischen Supermarkt.

Das weißrussische „Wirtschaftswunder“ ist erklärungsbedürftig. Für den ehemaligen Gouverneur der Zentralbank, Stanislaw Bogdankewitsch, profitiert die Wirtschaft des Landes von den russischen Energieeexporten. Sie stützt sich auf nur wenige Pfeiler: die Durchleitung und Verarbeitung von russischem Gas und Erdöl, die Metall- und die Düngemittelindustrie. Die aus UdSSR-Zeiten überkommene industrielle Infrastruktur blieb erhalten, und dank der von Moskau gewährten Vorzugstarife für Energie kann das System funktionieren. „2004 schätzte der IWF, dass Weißrussland diesen direkten Geschenken aus Moskau Einnahmen in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar verdankt. Das Bruttoinlandsprodukt beläuft sich auf 22 Milliarden. Diese beiden Zahlen verdeutlichen, wie abhängig das Land ist“, erläutert Bogdankewitsch. Nachdem 1996 ein Abkommen über eine politische und Wirtschaftsunion mit Russland unterzeichnet wurde, sind beide Länder durch eine Zollunion verbunden. Allerdings gibt es bislang weder Fortschritte bei der Einführung einer gemeinsamen Währung noch in Richtung einer politischen Union. Das könnte an einem gewissen Misstrauen zwischen den Präsidenten Lukaschenko und Putin liegen. Weißrussland ist eine Art„strategischer Vorposten“ Russlands an der Grenze zur EU.

Die Propaganda spricht von Vollbeschäftigung

Der relative Wohlstand des Landes basiert auch auf den Waffenverkäufen aus dem früheren sowjetischen Arsenal: Weißrussland steht weltweit auf Rang 13 der Exporteure konventioneller Waffen.2 Nach wie vor sind einige Großunternehmen in staatlicher Hand. Die übrigen wurden offiziell privatisiert, in der Regel hält der Staat jedoch mehr als 99 Prozent der Kapitalanteile. Auch die „Vollbeschäftigung“, mit der sich die Regierung brüstet, ist nur die halbe Wahrheit: Seit einem Jahr gibt es in allen Wirtschaftsbereichen nur noch Zeitverträge. Die meisten Arbeitnehmer haben heute Ein- oder Zweijahresverträge. Außerdem hat das angeblich „soziale“ Regime dafür gesorgt, dass zehntausende Mitglieder unabhängiger Gewerkschaften entlassen wurden. Die Stickstofffabrik von Grodno mit 6 000 Beschäftigten war eine Bastion des unabhängigen Gewerkschaftsverbands. Doch aus Angst vor Entlassung sind seit Dezember 350 ihrer 850 Mitglieder ausgetreten, berichtet der Vorsitzende Syarhei Antusewitsch.

Verbissen bekämpft die Regierung auch kleine Privatunternehmen. Schätzungsweise 7 000 Kleinstunternehmer sitzen aufgrund von „Wirtschaftsdelikten“ im Gefängnis, zumeist wegen kleiner Schmiergeldzahlungen. Stolz präsentiert Alexander Wasiliew seine Visitenkarte, auf der steht: „Ehemaliger politischer Gefangener, in Haft vom 7. September 2004 bis zum 7. Juli 2005“. Der gebürtige Russe und frühere Stabsoffizier der Roten Armee ließ sich nach seiner Rückkehr aus der ehemaligen DDR in Grodno nieder. Er gründete eine Schreinerei, musste jedoch bald Konkurs anmelden. Man verhaftete ihn als Initiator einer Protestbewegung von Kleinunternehmern, nachdem er eine Gegenveranstaltung zu den Feiern zum Ersten Mai organisiert hatte. „Die Regierung hat die Unternehmer durch legislative Maßnahmen in die Ecke gedrängt und zu Gegnern gemacht. Wir haben heute eine Art modernen Kommunismus hier, nur ohne Partei und ohne Ideologie.“

Pawel Sewirenets, Vorsitzender der rechtsgerichteten nationalistischen Bewegung Jugendfront mit Beziehungen zur Weißrussischen Volksfront, verbüßt eine zweijährige Haftstrafe unter Hausarrest in einem Holzfällernest, wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Nachdem man ihn bei den Demonstrationen nach den Wahlen von 2004 festgenommen hatte, wurde er 2005 für die Teilnahme an einer 21-minütigen Verkehrsblockade mit Verbannung bestraft.

Angesichts derartiger Repressionen einigten sich etwa ein Dutzend Oppositionsparteien auf einen gemeinsamen Kandidaten. Bei der Abstimmung auf dem Kongress der Demokratischen Kräfte am 5. Oktober 2005 siegte völlig unerwartet der parteilose und der Volksfront nahe stehende Alexander Milinkewitsch. Alle beteiligten Parteien akzeptierten die Entscheidung; der charismatische Milinkewitsch genießt ihre uneingeschränkte Unterstützung. Als Repräsentant eines breiten Bündnisses musste Milinkewitsch ein möglichst integrationistisches Programm entwerfen. Hinter ihm steht sowohl die Partei der Kommunisten als auch die Volksfront mit ihrer konservativen Gesellschaftspolitik und ihrem liberalen Wirtschaftsprogramm. Entsprechend äußert sich das Bündnis nicht zu strittigen Fragen, wie etwa zur Einbindung des Landes in einen europäischen oder nordatlantischen Kontext (eine Forderung der Volksfront) oder zum Ruf nach einer „starken Zentralregierung“ (die sich die Kommunisten wünschen).

„Eine Spaltung wegen solcher Meinungsverschiedenheiten käme nicht in Frage“, sagt Syarhei Kaliakine, Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Der ehemalige sowjetische Apparatschik ist heute Wahlkampfmanager von Alexander Milinkewitsch, einem Akademiker, der sich eindeutig am Westen orientiert.

Auch die Vereinte Bürgerpartei, die ebenfalls dem liberalen Bündnis angehört, hofft auf den neuen starken Mann der Opposition. „Aber Europa muss sich stärker engagieren“, erklärt ihr Vorsitzender Anatol Lebedzka. Die EU-Mitgliedstaaten Polen und Litauen, die Nachbarn von Weißrussland, kennen die Probleme. Deshalb haben sie mehreren Oppositionsgruppen Zuflucht geboten. Doch die Hilfe des Auslands, die vom Regime heftig kritisiert wird, spielt für die demokratischen Kräfte in Weißrussland allenfalls eine ergänzende Rolle. „Wir brauchen Taten, nicht nur Worte“, sagt der Chef der Vereinten Bürgerpartei. „Andernfalls befürchte ich einen gewaltsamen Untergang des Regimes, wie im Rumänien Ceausescus. Unsere Chance ist die Straße. Dort können wir den Sieg erringen.“

Vor dem staatlichen Kaufhaus GUM am Boulevard der Unabhängigkeit fühlt man sich an eine Klassenfahrt erinnert. Rund hundert Jugendliche haben sich per Internet oder SMS spontan zum „Flash Mob“ verabredet. Orange war die Farbe der Ukraine. Hier setzt man auf Jeansblau. Stoffbänder werden an Bäumen oder an der eigenen Kleidung befestigt. Die Stimmung ist gut, trotz der demonstrativen Präsenz von Polizeibeamten in Zivil.

Der Initiator der Aktion ist die Widerstandsbewegung Zubr (Bison), die Verbindungen zur serbischen Otpor, zur Kmara in Georgien und zur ukrainischen Pora hat.3 „Wir sind ein Netzwerk von 2.000 Aktivisten, von denen etwa 50 bereits von der Universität verwiesen wurden“, erzählt Alexander, ein Vertreter der 2001 gegründeten Organisation. Kann die Opposition das Regime bedrohen? Man erwartet nicht nur eine direkte Manipulation der Wahlen am 19. März, auch im Vorfeld wird schon Druck auf die Wähler ausgeübt. Beim letzten Mal wurden die Direktoren der Kolchosen entlassen, die in ihren Wahlkreisen nicht mindestens 60 Prozent Lukaschenko-Stimmen liefern konnten.

Die Opposition wird wahrscheinlich Demonstrationen organisieren, aber zu massenhaften Kundgebungen wird es schwerlich kommen. Einige westliche Diplomaten in Minsk schließen ein „Katastrophenszenario“ nicht aus. Der Präsident, der so sehr auf „Stabilität“ setzt, kann bestimmt nicht ewig so weiterregieren. Doch der Schlüssel zum Wandel liegt wohl eher in Moskau als in Minsk. Nach der „Revolution in Orange“ in der Ukraine wurde Lukaschenko für den Kreml erst recht zu einem wichtigen Mann. Aber wenn es zu einer Neubestimmung des geopolitischen Gleichgewichts im postsowjetischen Raum kommt, ist die Existenz dieses Regimes keinesfalls garantiert.

Fußnoten: 1 So kann der Präsident Verfassungsrichter nominieren und regionale Verwaltungschefs ernennen. 2 Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), www.sipri.org/contents/armstrad/app10A 2005.pdf/download. 3 Vgl. Régis Genté und Laurent Rouy, „Spontan und gründlich geplant. Demokratische Umstürze in Serbien, Georgien und der Ukraine“, Le Monde diplomatique, Januar 2005. Aus dem Französischen von Lilian-Astrid Geese Alexandre Billette und Jean-Arnault Derens sind Chefredakteure von Courrier de la Biélorussie.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Alexandre Billette und Jean-Arnault Derens