Die Gewerkschaften der USA proben die Erneuerung
Wie verhält sich die Gewerkschaftsbewegung in ihrer aktuellen Krise? Sie spaltet sich. Dass eine gespaltene Arbeiterbewegung auf den Angriff der Unternehmerseite wirksam reagieren kann, ist nur schwer vorstellbar – aber genau das glauben die Führer der neuen Organisation namens „Change to Win“ (Wandel für den Sieg). Im September 2005 haben sich sieben US-Gewerkschaften, die zusammen 6 Millionen Mitglieder repräsentieren, aus dem Dachverband AFL-CIO (American Federation of Labour – Congress of Industrial Organizations) verabschiedet und ihre eigene Föderation gegründet. Der Grund war die Unzufriedenheit mit der bürokratischen Trägheit der AFL-CIO, wie sie sich in der Unfähigkeit zu finanziellen Reformen, in veralteten Strukturen und im Fehlen von Strategien gegen den rasanten Mitgliederschwund zeigt.1
Die abtrünnige Gruppe wurde angeführt von Andy Stern, dem Chef der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU (Service Employees International Union). Sie ist mit 1,8 Millionen Mitgliedern die größte und am schnellsten wachsende Einzelgewerkschaft der USA. Die SEIU hatte stets darauf gedrängt, dass sich die AFL-CIO zu einer disziplinierten und koordiniert handelnden Macht entwickeln muss. Sie solle auch ihre Mitgliedsgewerkschaften vehement ermutigen, neue Taktiken und Strategien zu entwickeln mit dem wichtigsten Ziel, Mitglieder hinzuzugewinnen.
Das wollte allerdings auch der derzeitige Präsident der AFL-CIO, John Sweeney, als er 1995 – nach der ersten Kampfabstimmung in der Geschichte des Verbandes – in sein Amt gewählt wurde. Sweeney war zuvor SEIU-Vorsitzender gewesen und hatte versprochen, den Dachverband in mehrfacher Hinsicht zu reformieren. Sein erklärtes Hauptziel war die Mitgliederwerbung, und auch er hielt die einzelnen Gewerkschaften an, dieselbe Priorität zu setzen.
Die schiere Größe einer gewerkschaftlichen Organisation ist in den USA aus drei Gründen wichtig: Erstens kann sich eine Gewerkschaft nur etablieren, wenn sie sich in jedem einzelnen Unternehmen in hart umkämpften Wahlen durchsetzt; zweitens haben mitgliederstarke Gewerkschaften innerhalb ihrer Branche mehr Verhandlungsmacht; und drittens können sie auf regionaler wie auf nationaler Ebene mehr politischen Einfluss ausüben. Sweeney verzeichnete mit seinem Programm durchaus Erfolge. Er verstärkte nicht nur die Mitgliederwerbung, sondern aktivierte auch die lokale Basis, indem er das Netz der seit langem eingeschlafenen Ortsgruppen wiederbelebte.
Schließlich gab die AFL-CIO unter seiner Führung auch ihre konservativ-nationale Ideologie des Kalten Krieges auf und entwickelte sich zu einer eher sozialdemokratischen Bewegung mit einer kritischen Haltung gegenüber den meisten neoliberalen Praktiken und der uneingeschränkten Herrschaft des Marktes.
Jeder AFL-CIO-Vorsitzende hat allerdings ein großes Problem: Die über 60 Einzelgewerkschaften können weitgehend autonom operieren. Sweeney hatte also zu wenig Amtsautorität, um die einzelnen Gewerkschaften auf Reformen verpflichten zu können. Er konnte ihnen lediglich gut zureden, mehr Zeit, Personal und Geld für die Werbung neuer Mitglieder aufzuwenden. Aber für viele Funktionäre der Einzelgewerkschaften lohnt es sich mehr, ihren bereits vorhandenen Mitgliedern, von denen sie schließlich wiedergewählt werden wollen, gute Serviceleistungen zu bieten. Und das ist gewiss kein gutes Rezept für eine dynamische Arbeiterbewegung.
Aus eins mach zwei
Der Kampfgeist, der die US-Gewerkschaften einst auszeichnete, ging durch jahrzehntelange Bürokratenherrschaft verloren, die bei den Funktionären weder Kreativität noch politische Radikalität duldete.
Sieben Einzelgewerkschaften ha- ben sich zu dem neuen „Change to Win“-Verband zusammengeschlossen: die Teamsters (die Transportarbeitergewerkschaft), die Gruppe „Unite Here“ (die in der Textilindustrie, aber auch im Hotel- und Gaststättengewerbe verankert ist), die Laborers (Bauarbeiter), die UFCW (United Food and Commercial Workers, die vorwiegend die Beschäftigten in Supermärkten und im Einzelhandel organisiert), die Carpenters (also die Gewerkschaft der Zimmerleute), die United Farm Workers (UFW, für Arbeiter im landwirtschaftlichen Sektor) und als stärkste Gruppe die bereits erwähnte SEIU (Dienstleistungsindustrie, Gesundheitssektor und öffentlicher Dienst).
In ihrer politischen Orientierung sind die Führungen dieser sieben Gewerkschaften sehr unterschiedlich: SEIU, „Unite Here“ und United Farm Workers sind eher linksgerichtet, die UFCW ist in der Mitte angesiedelt, während die Teamsters und die Carpenters nach rechts tendieren. Die Einheit des neuen Verbandes beruht also nicht auf einer irgendwie geklärten ideologischen Basis.
Was die Koalition eint, ist vielmehr ein Aktionsprogramm, das die gewerkschaftlichen Initiativen entschieden nach außen, auf eine breitere Öffentlichkeit orientiert, um so möglichst viele neue Mitglieder zu gewinnen. Die neue Vorsitzende Anna Burger (ehemalige Schatzmeisterin der SEIU) hat angekündigt: „Unser Kernprinzip ist das intelligente, strategische Organisieren – das ist unser Leitstern. Wir werden unser Geld dort einsetzen, wo es darauf ankommt, das heißt, drei Viertel unserer Mittel werden in eine ganz neuartige Mitgliederkampagne fließen.“
Dieser Plan ist darauf ausgerichtet, die gewerkschaftliche Macht zu bündeln, indem man die finanziellen Mittel gezielt dafür einsetzt, den Organisationsgrad in besonders wichtigen Industriezweigen und Wirtschaftsbereichen zu erhöhen. Jede der sieben Mitgliedsgewerkschaften wird sich – nach einer klar festgelegten Arbeitsteilung – auf bestimmte Branchen und Berufsgruppen konzentrieren. In Branchen mit verschiedenen Berufsgruppen sollen gemeinsame Kampagnen zur Mitgliederwerbung entwickelt werden.
Die Gewerkschafter der „Change to Win“-Koalition haben erkannt, dass ohne Mitgliederzuwachs gar nichts geht. Sie gehören ohnehin zu den Gruppen, die insbesondere in den gewerkschaftlich schwach organisierten Dienstleistungsberufen und hier vor allem unter den Frauen und Immigranten erfolgreich waren. Sie sind aus der AFL-CIO ausgetreten, weil sie einsehen mussten, dass ihr Programm innerhalb derart schwerfälliger Strukturen nicht zu verwirklichen ist.
Unter dem Dach des alten Verbands existieren die unterschiedlichsten Organisationsprinzipien nebeneinander, die einzelnen Gewerkschaften konkurrieren teilweise um dieselben Arbeiter, kommen sich also gegenseitig in die Quere, vor allem aber fehlt ein langfristiger Aktionsplan für den Gesamtverband und eine zentrale Autorität, um einen solchen Plan umzusetzen.
Nun geraten allerdings zentralisierende Bestrebungen innerhalb einer Organisation stets in Konflikt mit dem Prinzip demokratischer Partizipation. Insbesondere der SEIU wurde in linken Publikationen schon früher vorgehalten, dass sie nicht auf Initiativen und Aktivitäten der Arbeiter vertraut, sondern sich eher auf Funktionäre des Organisatorenstabs verlässt.
Dennoch bleibt es eine wichtige Errungenschaft, dass die SEIU während der Sweeney-Ära überhaupt eine vernehmbare linke Position innerhalb der Arbeiterbewegung der USA artikuliert hat. Aber es stimmt auch, dass bei den SEIU-Kampagnen das Urteil der Basis in den Betrieben von den Funktionären in der Zentrale häufig ignoriert wurde und dass die Zentrale örtlichen Gewerkschaftsorganisationen vorübergehend jemanden vor die Nase gesetzt hat, wenn sich die lokal gewählten Funktionäre nicht ausreichend kooperativ zeigten.
Zentralismus kontra Basisdemokratie
Und schließlich muss man eine freiwillige Koalition der Gewerkschaften mit den anrüchigen Teamsters zwangsläufig mit einem gewissen Misstrauen betrachten: Die Transportarbeitergewerkschaft ist bekannt für eine lange Geschichte der Korruption, der Zusammenarbeit mit der Mafia und der autokratischen Führung unter der Hoffa-Dynastie.2
All diese Kritik ist verständlich. Und dennoch hat „Change to Win“ einen realistischen Plan entwickelt, mit dem der Niedergang der Gewerkschaftsbewegung aufgehalten und der Trend umgekehrt werden soll. Und dieser Plan wird auch bereits in die Praxis umgesetzt. So ist es der SEIU in letzter Zeit gelungen, in den als gewerkschaftsfeindlich verrufenen Südstaaten die erfolgreichste Mitgliederaktion seit langem durchzuführen, indem man etwa im texanischen Houston 5 000 Hauswarte und Gebäudereinigungskräfte organisieren konnte.
Dabei bediente sich die Gewerkschaft ganz neuer Taktiken. Zum Beispiel gewann sie Houstons Bürgermeister Bill White, den katholischen Erzbischof der Stadt, Joseph A. Fiorenza, und christliche Gruppen für die Sache der Arbeiter – fast ausschließlich Immigranten, die 5,25 Dollar pro Stunde verdienen, während in New York City bis zu 20 Dollar gezahlt werden.
Oder sie organisierten in anderen Einzelstaaten Sympathiestreiks der Hauswarte für die Kollegen in Houston (seit den 1930er-Jahren hat es keinerlei Solidaritätsstreiks innerhalb der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung mehr gegeben). Sie griffen sogar auf finanzielle Mittel aus den Pensionskassen der öffentlichen Angestellten zurück, um die Hauseigentümer daran zu hindern, eine antigewerkschaftliche Kampagne gegen die Hauswarte zu starten.3
Die langfristigen Auswirkungen der Spaltung der gewerkschaftlichen Dachorganisation AFL-CIO lassen sich nur schwer einschätzen. Bislang gibt es noch keine Anzeichen für eine Feindschaft zwischen den beiden Gewerkschaftsverbänden. Es ist durchaus denkbar, dass ein heilsamer Wettbewerb zwischen den beiden Organisationen auch innerhalb der AFL-CIO neue Kreativität und Experimentierfreude mobilisieren wird.
Rick Fantasia