10.03.2006

Ein cleverer Deal

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Ein cleverer Deal

Die Pläne zur Sanierung des Autozulieferers Delphi zeigen, wie die Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten ihre Rechte verlieren von Rick Fantasia

Der Deal, den die Delphi Corporation im Oktober vorigen Jahres ihren gewerkschaftlich organisierten Arbeitern vorschlug, ist mehr als dreist. Die Manager des Autozulieferers unterbreiteten ihren Mitarbeitern einen Plan, der die US-amerikanischen Betriebe des Unternehmens vor der Insolvenz retten sollte, die sie selbst verschuldet hatten. Der Vorschlag lief auf Folgendes hinaus: „Ihr gebt uns zwei Drittel eures Einkommens zurück, und dafür werden wir das unsere um ein Drittel erhöhen. Was meint ihr dazu?“

Nach diesem Plan sollten die Löhne von 24 000 gewerkschaftlich organisierten Arbeitern um mehr als 60 Prozent gekürzt und ihre Betriebsrenten radikal zusammengestrichen werden. Dagegen sollten die vier Topmanager der Firma über 50 Millionen Dollar in Form von Gehältern, Leistungszulagen, Bonuszahlungen und Aktienoptionen erhalten und 486 leitende Angestellte Leistungsprämien in Höhe von 30 bis 250 Prozent ihres Gehalts beziehen. Für den Fall, dass diese Angestellten aus dem Unternehmen ausscheiden (was allerdings bei solchen Gratifikationen der reine Wahnsinn wäre), bot man ihnen Abfindungen in Höhe von insgesamt 145 Millionen Dollar an.1

Delphi Corporation ist nach Bosch der weltweit zweitgrößte Zulieferbetrieb für die Autoindustrie mit Hauptsitz in Troy, Michigan, und gehörte bis 1999 zu General Motors. In den USA beschäftigt Delphi 50 000 Mitarbeiter, weltweit 185 000.

Das Verblüffende an dem Delphi-Plan ist, dass er als Strategie zur Rettung vor der Insolvenz präsentiert wurde. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass die Republikaner nur wenige Monate zuvor im Kongress eine Verschärfung des Konkursrechts durchgebracht hatten. Seitdem haben es verschuldete Verbraucher deutlich schwerer, die Ansprüche von Gläubigern (also vornehmlich von Firmen) abzuwehren.

Als die Presse die schmutzigen Details dieses Plans publizierte, gab sich das Management des Unternehmens auf einmal reumütig. Delphi-Chef Robert S. Miller, den man als Spezialisten für „radikale Unternehmensumstrukturierung“ geholt hatte, um die Firma durch das Konkursabwendungsverfahren zu steuern, kündigte an, dass 20 Topmanager eine Kürzung ihrer Bezüge um 10 Prozent hinnehmen würden. Und er selbst werde ab Januar 2006 auf ein komplettes Jahresgehalt verzichten. Um sich nicht dem Vorwurf übertriebener Bescheidenheit auszusetzen, fügte Miller allerdings hinzu, damit fühle er sich aber nicht verpflichtet, die 3 Millionen Dollar zurückzugeben, die ihm das Unternehmen im Dezember 2005 als Einstiegsbonus ausgezahlt hatte.2

Was das Delphi-Management auf den Tisch gelegt hat, ist ein Angebot, das die Gewerkschaft nicht ablehnen kann. Würde sie diese Vereinbarungen nicht akzeptieren, würde nämlich ein Konkursrichter den Haustarifvertrag aufheben. Damit könnte das Unternehmen glattweg seine Drohung wahr machen, die Rentenkasse der Gewerkschaftsmitglieder zu plündern. Dieses betriebliche Rentenprogramm hatte Delphi vom früheren Mutterkonzern General Motors übernommen.

Der machte nun vor, wie man Kürzungen durchsetzt: Nur wenige Tage nach der Ankündigung des smarten Plans der Delphi-Spitze ließ General Motors auf einer Pressekonferenz verlauten, man habe eine provisorische Vereinbarung mit der Automobilarbeitergewerkschaft UAW (United Auto Workers Union) geschlossen. Danach sollen einerseits die Ansprüche der Arbeiter an die betriebliche Krankenkasse um jährlich 3 Milliarden Dollar, andererseits die Beiträge des Unternehmens zur Gesundheitsversorgung ihrer Pensionäre um 24 Prozent gekürzt werden.

Doch das reichte nicht aus, um die Wall Street zufrieden zu stellen: Wenige Wochen später verkündete General Motors, man plane den Abbau der Belegschaft um 10 Prozent innerhalb des kommenden Jahres, was den Verlust von 30 000 Arbeitsplätzen bedeutet.

Das Sozialabbaufieber griff bald auf die ganze Branche über. Ford erhöhte die Beiträge, die seine Lohnarbeiter zur firmeneigenen Krankenversicherung zahlen müssen, nachdem die Konzernleitung zuvor schon beschlossen hatte, zehn Betriebe in den USA zu schließen und im Lauf der nächsten fünf Jahre 30 000 Automobilarbeiter und 4 000 Angestellte zu entlassen. Und Chrysler hat sich bereits mit der UAW geeinigt, die Leistungen der betrieblichen Krankenversicherung für etwa die Hälfte seiner gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu reduzieren.

Die Zähmung der Arbeiterbewegung

Damit werden die rapide ansteigenden Kosten eines nichtöffentlichen Systems der Krankenversicherung immer stärker auf die noch aktiven Arbeiter und die Ruheständler abgewälzt. In den USA sind die Beschäftigten darauf angewiesen, dass die Arbeitgeber für eine Krankenversicherung sorgen. Aber das tun heute nur noch 60 Prozent aller Unternehmen, gegenüber 69 Prozent im Jahr 2000, und diese Zahl sinkt weiter. Bei einem Staat, der so wenig Sozialleistungen bietet, sind die Leistungen für den Krankheitsfall – wie alle anderen Sozialleistungen – von den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt oder von der kollektiven Macht der Arbeiter abhängig. Das bedeutet in der Regel, dass die Unternehmen Gesundheits- und andere nichtmonetäre Leistungen nur bieten, um Arbeiternehmer anzuwerben und bei der Stange zu halten, auf die sie nicht verzichten können.

Diese Situation ist vor mehr als sechzig Jahren entstanden. In der Atmosphäre nationaler Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte die Arbeiterbewegung noch über beträchtliche institutionelle Macht. Die Gewerkschaftsführer versuchten deshalb, per Gesetz ein allgemeines bundesweites System der Krankenversicherung durchzusetzen. Doch es gelang ihnen nicht. Stattdessen wurde bald darauf ein drakonisches neues Arbeitsrecht beschlossen, das die militantesten Formen des gewerkschaftlichen Kampfes untersagte und radikale Gewerkschaftsführer unter dem Vorwand, den Kommunismus zu bekämpfen, isolierte oder ausschaltete. Das Ergebnis war eine gezähmte Arbeiterbewegung, die alle Versuche, ein allgemeines sozialstaatliches Sicherungssystem aufzubauen, aufgab. Die Gewerkschaften setzten fortan auf zunehmend bürokratisch geführte Tarifverhandlungen. Sie fanden sich mit einem System unternehmerischer Sozialleistungen ab, das schrittweise ausgebaut, also auf immer mehr Unternehmen und immer mehr Arbeitsplätze ausgeweitet werden sollte.

Seitdem beruhen die Sozialleistungen für US-amerikanische Arbeitnehmer in der Regel auf individuellen Arbeitsverträgen, die von den Gewerkschaften für die organisierten Arbeiter auf der Ebene von einzelnen Unternehmen ausgehandelt werden anstatt branchenweit oder in Form nationaler Vereinbarungen. Für die US-amerikanischen Arbeiter ist also die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft so etwas wie der Pass des Sozialbürgers, der ihm den Zugang zu allen Sozialleistungen verschafft, die in Tarifvereinbarungen zwischen Gewerkschafts- und Unternehmerseite ausgehandelt werden.

Das hat dazu geführt, dass die verschiedenen Branchen ein sehr uneinheitliches Bild bieten. So gibt es die Arbeiter in den überwiegend gewerkschaftsfreien Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistungen, die mit ihren Löhnen an der Armutsgrenze liegen, nur wenige nichtmonetäre Leistungen beziehen und vor der Willkür ihrer Arbeitgeber nur minimal geschützt sind. Und dann gibt es andererseits industrielle Branchen (wie die Auto-, Stahl-, Elektro- oder Reifenproduzenten), in denen die Belegschaften früher zu fast 100 Prozent organisiert waren. Das versetzte die starken Gewerkschaften in die Lage, Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder zu sichern, die etwa den europäischen Standards entsprechen.

Was die Altersversorgung betrifft, so gibt es in den USA ein öffentliches Rentensystem, das 1935 im Rahmen des Roosevelt’schen New Deal eingeführt wurde. Aber das garantiert nur eine Mindestrente, die durch eine vom Unternehmen finanzierte Betriebsrente ergänzt werden muss, wenn die Menschen nicht in die Altersarmut abrutschen sollen. Diese Betriebsrenten werden mittlerweile, wie die Krankenversicherung auch, von der Arbeitgeberseite regelmäßig zusammengestrichen, sodass heute nicht einmal mehr jeder zweite im Privatsektor Beschäftige eine Betriebsrente beziehen wird.3

Streiken für die Rentenkassen

Auch im staatlichen und kommunalen Sektor sind die Leistungen der Krankenversicherungen und der Rentenkassen immer stärker gefährdet.

Deshalb blieb 33 000 Beschäftigten der New Yorker Verkehrsbetriebe vor kurzem kaum etwas anderes übrig, als einen illegalen Streik zu veranstalten. Sie waren damit erfolgreich, denn sie konnten die Forderung abwehren, höhere Beiträge zu ihrer Altersversicherung zu zahlen.4 Genauso bedeutsam ist, dass sie sich weigerten, die gewerkschaftliche Solidarität aufzukündigen. Denn sie lehnten einen neuen Arbeitsvertrag ab, der neu eingestellten Arbeitskräften höhere Beiträge zur Krankenversicherung und weitaus geringere Altersbezüge zumuten wollte als den schon länger Beschäftigten. Unternehmen in den USA versuchen auf diese Weise immer wieder, jüngere gegen ältere Arbeitnehmer auszuspielen.

Überlebenskampf der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sind nicht nur in New York, sondern im ganzen Lande gefordert, den Lebensstandard ihrer Mitglieder mit Nachdruck zu verteidigen. Doch im öffentlichen Sektor sind nur 16 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung beschäftigt, und die öffentlichen Arbeitgeber haben ein relativ geringes Interesse, den Konflikt mit ihren Arbeitern und Angestellten bis zum bitteren Ende durchzufechten. Das sieht in dem viel umfangreicheren privaten Sektor ganz anders aus. Weil hier ein Großteil der Lohnkosten und der Sozialleistungen auf privatrechtlichen Vereinbarungen beruht und verhandelbar ist, können sich die Unternehmen mit einem Sieg über die Gewerkschaften einen gewaltigen Konkurrenzvorsprung verschaffen. Deshalb ist der Privatsektor zum Hauptschauplatz einer Auseinandersetzung geworden, die seit mehr als 30 Jahren geführt wird und für die Gewerkschaftsbewegung zu einem Überlebenskampf geworden ist.

In Unternehmen wie dem Einzelhandelsriesen Wal-Mart5 , die keine Gewerkschaften dulden, unterhält das Management eine Eingreiftruppe von Juristen und Unternehmensberatern. Sie wird aktiviert, sobald sich in der Belegschaft der kleinste Hinweis auf gewerkschaftliche Betätigung zeigt. Diese Leute sind Experten im Manipulieren der notorisch schwachen Schutzrechte, die den Belegschaften wie den Gewerkschaften zur Verfügung stehen.

Aber sie greifen häufig auch zu unverhüllten Zwangsmethoden: In den USA werden jährlich rund 10 000 Beschäftigte auf illegale Weise gefeuert, weil sie auf legale Weise versucht haben, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Diese Methoden sind so illegal wie preisgünstig, denn die Bußgelder für die Unternehmen sind nicht hoch, und die Einschüchterung der nichtorganisierten Belegschaft zahlt sich langfristig aus.

In Branchen wie der Autoindustrie, wo die Gewerkschaften seit Jahrzehnten verankert sind, fahren die Unternehmen andere Strategien. Sie verlagern Arbeitsplätze ins Ausland, machen Arbeiter durch Einsatz neuer Technologien überflüssig und versuchen auf jede Weise, die Arbeitskosten zu drücken.

Der Erfolg dieser Strategien ist am gewerkschaftlichen Organisationsgrad abzulesen, der im Privatsektor inzwischen auf 8 Prozent zurückgegangen ist, während er insgesamt, also für den privaten und öffentlichen Sektor, bei 12,5 Prozent liegt. Da in den USA vor fünfzig Jahren noch 35 Prozent der abhängig Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert waren, ist der Trend offensichtlich – und das in einer Gesellschaft, in der Einkommen wie Arbeitsbedingungen maßgeblich vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad abhängen.

In den wichtigsten Branchen der verarbeitenden Industrie (wie der Automobilbranche) ist die Zahl der Arbeitsplätze in den letzten dreißig Jahren um über 50 Prozent gesunken. Diese Entwicklung bedeutet zugleich eine systematische Pauperisierung der Arbeiterklasse.

Im Januar dieses Jahres berichteten internationale und US-Medien ausführlich über die zwölf Bergleute, die bei einer Explosion in einem Kohlebergwerk in West Virginia umkamen. Aber fast nirgends wurde erwähnt, dass es in diesem Betrieb keinerlei gewerkschaftliche Vertretung gab. Die Bergleute hatten also keine Macht und fast gar keinen Schutz – und das in einem Unternehmen, dem innerhalb der letzten zwei Jahre über 270 Verstöße gegen die Sicherheitsbestimmungen vorgeworfen worden waren. Dabei bezogen sich allein neun Beschwerden innerhalb des letzten Jahres auf das Fehlen eines angemessenen Ventilationssystems, das Feuer und Explosionen unter Tage verhindern soll. Für sämtliche Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen hatte das Unternehmen, dem das Bergwerk gehört, Strafgelder in Höhe von nur 24 000 Dollar zahlen müssen. Dividiert man diese Summe durch zwölf, weiß man, wie viel das Leben eines Bergmanns in diesem Land wert ist.

Fußnoten: 1 Gretchen Morgenson, „Oohs and Ahs At Delphi’s Circus“, New York Times, 13. November 2005 (Sunday Business Section). 2 Auch bei General Motors erklärten im Februar 2006 der Unternehmenschef, die leitenden Manager und die Aktionäre ihre Zustimmung zu einer Kürzung ihrer Bezüge bzw. Dividenden. 3 Siehe George Ross, „Jeder Rentner ist sich selbst der Nächste“, Le Monde diplomatique, Juni 2005. 4 Im Staat New York sind Streiks im öffentlichen Dienst gesetzlich verboten. Ein Richter hat deshalb die Gewerkschaft zu einer Geldstrafe in Höhe von 3 Millionen Dollar und jeden einzelnen Streikteilnehmer zu einem Bußgeld von 1 000 Dollar verurteilt. Doch die finanziellen Vorteile, die sich aus der erkämpften Vereinbarung ergeben, wiegen diese Summen bei weitem auf. 5 Siehe Serge Halimi, „Wal-Mart: Am Anfang waren Wassermelonen“, Le Monde diplomatique, Januar 2006. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Rick Fantasia ist Professor für Soziologie am Smith College, Northampton, Mass. Sein jüngstes Buch (zusammen mit Jim Voss): „Hard Work, Remaking the American Labor Movement“, University of California Press 2004.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2006, von Rick Fantasia