Was lehren Pakistans Koranschulen?
von William Dalrymple
Kurz vor dem 7. Juli 2005, an dem sich vier britische Muslime, von denen drei pakistanischer Herkunft waren, in der Londoner Untergrundbahn in die Luft sprengten, reiste ich den Indus entlang in die nordwestliche Grenzprovinz Pakistans nach Akora Khattak. In dieser Stadt, an der lauten, von donnernden Lastern befahrenen Autobahn Richtung Islamabad, steht die Haqqania, eine der radikalsten jener religiösen Schulen, die man Madrassen nennt.
In dieser Lehranstalt, die zu einer Moschee gehört, wurden viele Taliban-Führer ausgebildet, darunter auch Mullah Omar, der bis 2001 in Afghanistan an der Spitze des Regimes stand. Die hier vermittelte Lehre, heißt es, habe die brutale, ultrakonservative islamische Rechtsauffassung inspiriert, nach der das Taliban-Regime funktioniert hat. Doch in der Haqqania deutet nichts darauf hin, dass man sich seiner Schüler schämt. Im Gegenteil: Maulana (so der übliche Titel eines Madrasse-Lehrers) Sami ul-Haq, der Direktor der Schule, erzählt immer noch voll Stolz, dass er, wann immer die Taliban einen Aufruf zur Rekrutierung neuer Kämpfer erlassen, seine Madrasse einfach zumacht und die Schüler in den Kampf schickt. Akora Khattak steht also in vieler Hinsicht für alles, was US-Politiker in dieser Region am wenigsten mögen und am meisten fürchten: Es ist eine Bastion des religiösen, intellektuellen und manchmal auch militärischen Widerstands gegen die Pax Americana und alles, was sie repräsentiert.
Ein Sandsturm war aufgekommen, als wir unterhalb der mächtigen Festungswälle von Attock, einst Indiens Bollwerk gegen Einfälle aus Afghanistan, den Indus überquerten. Die Straße war von Pappeln gesäumt. In der Ferne stand die blaue Margalla-Bergkette wie ein gezackter Drachenrücken gegen den Horizont. Die Straße führte an einem Friedhof vorbei, auf den Gräbern flatterten grüne Fahnen im Wind. Wenige Kilometer jenseits des Flusses tauchte eine Gruppe heruntergekommener Gebäude auf, alle eine moderne, rohe Betonversion der traditionellen Mogul-Architektur. Auf den Dächern und Veranden der Studentenwohnheime hing Wäsche zum Trocknen; der große Platz zwischen den Gebäuden wimmelte von Islamschülern, alle mit Turban, alle mit dichten Bärten.
Maulana Sami erwies sich wider Erwarten als ein Mann von gepflegtem Aussehen und heiterem Gemüt, den man nicht für eine Verkörperung antiwestlicher Hassgefühle gehalten hätte. Er trug einen blauen Gehrock, der fast aus Dickens’ Zeiten hätte stammen können, und hatte eine leichte Hennatönung im getrimmten Bart. Das zerklüftete Gesicht prägte eine mächtige Hakennase, die Augenwinkel waren voller Lachfalten. Ich wurde ins Büro gebeten und seiner zweijährigen Enkeltochter vorgestellt, die fröhlich mit einem gelben Luftballon spielte. Ich bemerkte, dass die Haqqania nicht unter dem harten Kurs zu leiden scheine, den Präsident Musharraf gegen die Zentren des islamischen Radikalismus verkündet hat. Sami lachte: „Das ist doch nur für die Amerikaner. Nichts als Verlautbarungen für die Presse, passiert ist nichts.“
Madrassen bieten kostenlose Bücher, Kleider, Unterkunft
„Sie finden also das politische Klima zurzeit nicht schwierig?“, frage ich. „Wir haben eine gute, starke Position“, antwortet Sami, „Bush hat die gesamte islamische Welt aufgeweckt. Dafür sind wir ihm dankbar.“ Und fügt mit breitem Lächeln hinzu: „Unsere Aufgabe ist es jetzt, islamische Ideologie zu verbreiten. Wir bieten Ausbildung umsonst, Kleider und Bücher umsonst, sogar freie Unterkunft. Wir sind die Einzigen, die den Armen eine Ausbildung bieten.“ Er macht eine Pause, und das Lächeln weicht aus seinem Gesicht: „Die Menschen hier sind verzweifelt. Sie haben die alten Verhältnisse satt, mit den säkularen Parteien und der Armee. Es gibt so viel Korruption. Musharraf bekämpft nur die Muslime und tut, was der Westen will. Für die Menschen in Pakistan interessiert er sich nicht. Deshalb warten jetzt alle auf islamische Antworten – und wir können mithelfen, sie zu geben. Nur unser islamisches System bietet Gerechtigkeit.“
Man mag es gut finden oder nicht, der Wandel im politischen Klima Pakistans, den Sami ul-Haq in Akora Khattak registriert, hat das ganze Land erfasst. Nach einem Bericht des Innenministeriums, der nach dem 11. September 2001 entstanden ist, gibt es heute 27-mal so viel Madrassen wie im Jahr der Unabhängigkeit: 1947 waren es 245, im Jahr 2001 schon 6 870 solcher Schulen.1
Viele Madrassen werden von oder in Zusammenarbeit mit radikalen islamistischen Parteien wie dem Bündnis Vereinigte Aktionsfront (MMA) betrieben, bei dem Sami ul-Haq als stellvertretender Vorsitzender fungiert. Die MMA hat in der nordwestlichen Grenzprovinz ein talibanähnliches Regime errichtet, das zum Beispiel öffentliche Musikaufführungen und die bildliche Darstellung von Menschen verbietet. Wobei es eine bizarre Ausnahme gibt: das Bild von Colonel Sanders am neuen Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant in Peshawar. Offenbar bleibt es von der sonst überall verordneten Bilderstürmerei verschont, weil der Colonel einen korrekten islamischen Bart trägt.
Die islamischen Parteien wissen genau, welche Vorteile sich aus der Kontrolle von Ausbildungsstätten ziehen lassen. So ist etwa die Zentrale der Dschamaat-i-Islami-Partei in Lahore gleichzeitig eine Madrasse, die 200 Schülern einen entschieden politisierten Koranunterricht bietet. Bei einem Besuch im Sommer 2005 erlebte ich die Predigt eines Maulana, der sich über die Willfährigkeit von Präsident Musharraf gegenüber den USA ausließ und ihn beschuldigte, die Taliban im Stich zu lassen. Und ein Sprecher der Partei erklärte mir ganz unverblümt: „Die politische Transformation durch unsere Madrassen hat für die politische Zukunft Pakistans ungeheure Folgen. Der jüngste Erfolg der islamischen Parteien hat sehr viel mit der Arbeit zu tun, die wir in unseren Madrassen leisten.“
Das religiöse Leben hat sich überall in Pakististan radikalisiert. Die tolerante Tradition der Barelvi-Bewegung, die sich an der Sufi-Lehre orientiert, hat gegenüber den strengeren und politisierten reformistischen Strömungen deutlich an Boden verloren. Neben den wahhabitischen und salafitischen Richtungen erlebt vor allem die von der geistlichen Hochschule (Darul-Ulum) im indischen Deoband ausgehende fundamentalistische Lehre einen rasanten Aufstieg.
Die rapide Ausbreitung der Madrassen in Pakistan begann unter General Zia ul-Haq in den 1980er-Jahren, während des afghanischen Dschihad gegen die Sowjetunion, und wurde vor allem von den Saudis finanziert. Zwar waren einige der damals entstandenen Madrassen nicht mehr als ein einziger Schulraum neben einer Dorfmoschee, aber es wurden auch sehr große und einflussreiche Religionsschulen gegründet. Die Darul-Ulum in Belutschistan beispielsweise beherbergt 1 500 Internatsschüler, zu denen 1 000 weitere Externe kommen. Insgesamt betreuen die pakistanischen Madrassen wohl bis zu 800 000 Schüler – ein umfassendes System kostenloser islamischer Erziehung, das parallel zum heruntergekommenen staatlichen Bildungssektor existiert.
Staatliche Schulen ohne Lehrer, Wasser, Strom
Nur 1,8 Prozent des pakistanischen Bruttoinlandsprodukts werden für das staatliche Bildungswesen ausgegeben. 15 Prozent der Schulen haben keine richtigen Klassenräume, 40 Prozent sind ohne Wasser und 71 Prozent ohne elektrischen Strom. Die Lehrer erscheinen häufig nicht zum Dienst. Viele dieser Schulen existieren gar nur auf dem Papier. Als Imran Khan, der frühere Kapitän des pakistanischen Kricket-Teams, Politiker wurde und die staatlichen Schulen seines Wahlkreises inspizierte, fand er heraus, dass es eine von fünf registrierten Schulen überhaupt nicht gab und über zwei Drittel der existierenden Schulen einen großen Teil der Zeit geschlossen blieben.
In Indien dagegen sind 65 Prozent der Bevölkerung alphabetisiert, mit weiter steigender Tendenz, und die staatlichen Mittel für das Erziehungswesen wurden erheblich aufgestockt. In Pakistan liegt der Alphabetisierungsgrad bei 42 Prozent, mit fallender Tendenz. Statt in die Bildung zu investieren, gibt die Militärregierung Milliarden Dollar für neue F-16-Kampfflugzeuge aus. Weil das staatliche Schulwesen kurz vor dem Zusammenbruch steht, haben gerade die Ärmsten kaum eine andere Wahl, als ihre Kinder dem Madrassen-System auszuliefern, das ihnen eine streng traditionelle, aber immerhin kostenlose Schulbildung garantiert.
Wahrscheinlich spielen die Madrassen heute in keinem anderen Land eine so dominierende Rolle wie in Pakistan, aber der Trend, den wir hier beobachten, ist in der gesamten islamischen Welt derselbe. In Ägypten ist die Zahl der Lehrinstitutionen, die an die islamische Al-Azhar-Universität angebunden sind, zwischen 1986 und 1996 von 1855 auf 4314 gestiegen. Die Saudis stecken immer mehr Geld in die islamische Erziehung; allein in Tansania fördern sie den Bau neuer Madrassen mit einer Million Dollar pro Jahr. Und in Mali besucht inzwischen jedes vierte Kind im Grundschulalter eine dieser Koranschulen.2
Betrachtet man einen Mann wie Sami ul-Haq und seine Madrassen in diesem größeren Zusammenhang, ergeben sich einige wichtige Fragen. Inwieweit sind diese Madrassen die Quelle der Probleme, die in den islamistischen Anschlägen vom 11. September kulminierten? Sind Madrassen schlicht und einfach Terroristenfabriken? Und sollte der Westen auf Klientelstaaten der USA wie Pakistan und Ägypten Druck ausüben, damit sie diese Anstalten einfach verbieten?
In der Panikstimmung nach den Angriffen der Islamisten auf die USA schien die Antwort auf diese Fragen offenkundig. Zwar weiß man inzwischen, dass US-Außenminister Colin Powell und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in außenpolitischen Fragen unterschiedlicher Meinung waren, aber in einem Punkt waren sie sich einig: dass die Madrassen eine Gefahr darstellen. So formulierte Rumsfeld 2003 die Frage: „Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten oder von ihren Taten abhalten, als die Madrassen und die radikalen Geistlichen rekrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?“ Ein Jahr später bezeichnete Colin Powell die Madrassen als Orte, an denen „Fundamentalisten und Terroristen“ herangezüchtet werden.
Seit man weiß, dass sich drei der vier Londoner Selbstmordattentäter vor dem 7. Juli 2005 in Pakistan aufgehalten haben, ist ein Großteil der britischen Presse schnell auf US-Linie eingeschwenkt. So übersetzte der Sunday Telegraph das arabische Wort mit „Ausbildungsstätte“ für Terroristen, obwohl es schlicht „Ort der Erziehung“ bedeutet. Und der Daily Mirror klärte seine Leser quer über eine Doppelseite auf, dass die drei Attentäter alle in pakistanischen „Terrorschulen“ eingeschrieben waren.
Tatsächlich ist bis heute völlig unklar, ob die drei in Pakistan jemals eine Madrasse von innen gesehen haben. Noch weniger gibt es Beweise dafür, dass das Trio in Koranschulen einer „Gehirnwäsche“ unterzogen wurde, wie die britische Presse nach den Attentaten vermutete. Hingegen weist einiges darauf hin, dass die drei an ihrem Wohnort in Yorkshire radikalisiert wurden, und zwar durch islamistische Literatur und Videokassetten, die in der örtlichen islamischen Buchhandlung unter dem Ladentisch zu haben waren.
In diesem wie in vielen anderen Fällen ist die Verbindung zwischen Madrassen und internationalem Terrorismus keineswegs eindeutig. Neuere Studien wecken erhebliche Zweifel an der oft wiederholten, aber fragwürdigen Theorie, dass diese Institutionen nicht viel mehr als Ausbildungsstätten für die al-Qaida seien. Es trifft sicher zu, dass viele Madrassen eine fundamentalistische und buchstabengetreue Auslegung der Schriften pflegen und viele der allerstrengsten Richtung islamischen Denkens anhängen. Nur wenige dieser Schulen versuchen, ihre Schüler auf das Leben in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten.
Sektiererische Schlägertypen für lokale Konflikte
Gewiss kann man einige Madrassen direkt mit radikalen Islamisten und gelegentlich auch mit handfesten Gewalttaten in Verbindung bringen. Aber ebenso gibt es in Siedlungen im Westjordanland Jeschiwas, jüdische geistliche Hochschulen, die für ihre Gewalttaten an Palästinensern bekannt sind, und serbische Klöster, die nach dem Waffenstillstand in Bosnien serbische Kriegsverbrecher aufgenommen haben. In Pakistan schätzt man, dass bis zu 15 Prozent der Madrassen den bewaffneten Dschihad propagieren, darunter einige wenige, die eine klandestine militärische Ausbildung anbieten. So haben Schüler von Madrassen am Dschihad in Afghanistan wie auch in Kaschmir teilgenommen; und wiederholt waren sie an sektiererischen Gewaltaktionen innerhalb des Landes beteiligt, vor allem bei Angriffen auf Moscheen der schiitischen Minderheit in Karatschi.
Inzwischen erkennt man aber immer deutlicher, dass es eine Sache ist, Kanonenfutter für die Taliban zu liefern und sektiererische Schlägertypen für lokale Konflikte auszubilden, eine ganz andere Sache hingegen, einen technisch versierten Al-Qaida-Terroristen auszubilden, der so teuflisch genau vorbereitete Angriffe wie die gegen das US-Kriegsschiff „Cole“, die US-Botschaften in Ostafrika, das World Trade Center und die Londoner U-Bahn ausführt. Weder Bin Laden noch einer der Männer, die die Anschläge in den USA und Großbritannien begangen haben, war Absolvent einer Madrasse oder ausgebildeter Ulema (geistlicher Gelehrter) oder Kleriker.
In der Presse wurden die Attentäter vom 11. September häufig als „mittelalterliche Fanatiker“ dargestellt. In Wahrheit wäre es zutreffender, sie als verwirrte Mittelschichtler mit Universitätsabschluss zu bezeichnen. Mohammed Atta war Architekt; Aiman al-Sawahiri, Bin Ladens wichtigster Mitstreiter, war Kinderchirurg; Ziad Jarrah, einer der Gründer der Hamburger Zelle, studierte Zahnmedizin; Omar Sheikh, der Anfang 2002 den Journalisten Daniel Pearl in Karatschi entführt und ermordet hat, war Absolvent der London School of Economics. Wie Gilles Kepel ausführt, ist die neue Generation globaler Dschihadis nicht etwa ein Produkt der städtischen Armut in der Dritten Welt; diese Gotteskrieger sind vielmehr „die privilegierten Kinder einer merkwürdigen Ehe zwischen Wahhabismus und Silicon Valley, das al-Sawahiri in den 1990er-Jahren auch besucht hat. Sie sind nicht nur die Erben des Dschihad und der Umma, sondern auch der elektronischen Revolution und der Globalisierung amerikanischen Typs.“3
Zum selben Befund kommt die bislang genaueste Analyse der globalen Dschihadisten, die ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter unter dem Titel „Understanding Terror Networks“ vorgelegt hat. Marc Sageman hat die Lebensläufe von 172 Terroristen mit Verbindungen zu al-Qaida untersucht. Zwei Drittel von ihnen stammen aus der Mittelschicht und haben einen Universitätsabschluss; sie haben im Allgemeinen technische Akademikerberufe, manche auch einen Doktortitel. Auch sind sie keine jugendlichen Hitzköpfe: Ihr Durchschnittsalter liegt bei 26 Jahren, die meisten sind verheiratet, viele haben Kinder. Nur zwei von ihnen scheinen psychotisch zu sein. Und selbst die Ideologen, unter deren Einfluss sie stehen, sind keine ausgebildeten Geistlichen: Sayyid Qutb zum Beispiel, der 1966 hingerichtete Ideologe der ägyptischen Muslimbruderschaft, war Journalist. Der islamische Terrorismus ist, wie seine christlichen und jüdischen Vorläufer, ein vorwiegend bürgerliches Unternehmen.
Zu ähnlichen Schlüssen kam Peter Bergen von der Johns Hopkins University in seiner Untersuchung von 75 islamistischen Terroristen, die an Angriffen auf westliche Ziele beteiligt waren. 53 Prozent hatten einen Universitätsabschluss, wohingegen „nur 52 Prozent der US-Bürger ein College besucht haben“4 . Vor diesem Hintergrund dürfte es kaum überraschen, dass die Attentäter von London an Universitäten studierten und dass einer von ihnen Mercedes fuhr.
Nun stimmt es freilich, dass mehrere radikale Islamisten, die sich mit al-Qaida eingelassen haben, Absolventen einer Madrasse sind. Zum Beispiel Maulana Masud Azhar, Führer einer Dschihad-Gruppe namens Jaish-i-Muhammad, der Verbindungen zu Bin Laden hat. Er hatte ursprünglich an der ultramilitanten Binor-Town-Madrasse in Karatschi studiert. Und an dem Bombenattantat auf den Autokonvoi von Präsident Musharraf im Dezember 2003 war ein Mann beteiligt, der seine Ausbildung an einer Madrasse abgebrochen hatte. Die Anschläge in Bali wiederum waren das Werk der Organisation Lashkar-i-Dschihad, die aus einem Verband salafitischer Madrassen Indonesiens hervorgegangen ist.
Insgesamt aber haben Studenten von solchen Koranschulen einfach nicht die nötigen technischen Kenntnisse, um raffinierte Anschläge im Stil von al-Qaida auszuführen. Das Hauptinteresse der meisten Absolventen gilt vielmehr der Einhaltung der traditionellen Vorschriften wie des korrekten Waschens vor dem Gebet oder der richtigen Länge des Bartes – Themen also, die im Curriculum der Madrassen behandelt werden. Die Absolventen wenden sich denn auch gegen alle als unislamisch eingestuften Praktiken wie etwa das Beten an Gräbern von Heiligen oder die Teilnahme am schiitischen Marsiya-Ritus.5 Ihnen geht es also nicht in erster Linie darum, gegen Nichtmuslime oder den Westen vorzugehen – was das zentrale Motiv der globalen Dschihadis ist –, sondern vielmehr darum, im eigenen Lande für eine korrekte islamische Lebensführung zu sorgen.
Die meisten Al-Qaida-Leute haben dagegen nur sehr oberflächliche Kenntnisse des islamischen Rechts oder der einschlägigen Schriften. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Bin Laden die an den Madrassen ausgebildeten Geistlichen wegen ihres engstirnigen juristischen Herangehens an Glaubensfragen verachtet. Seine eigene gewalttätige Version des Islamismus hält er für die weit angemessenere Antwort auf die Probleme der muslimischen Welt.
Dies wurde deutlich, als Bin Laden kurz nach dem 11. September gegenüber Besuchern aus Saudi-Arabien meinte: „Die jungen Leute, die diese Operationen durchgeführt haben, befolgten nicht irgendein fiqh (islamische Rechtslehre) im üblichen Sinne, sie befolgten vielmehr den fiqh, den der Prophet Mohammed gebracht hat.“ Das Zitat ist sehr aufschlussreich, zeigt es doch die Aversion Bin Ladens gegen die auf das Recht zentrierte Ausbildung und die überkommenen Strukturen der islamischen Autoritäten. Die Flugzeugentführer dagegen, scheint er indirekt zu sagen, haben effektiv und praktisch gehandelt, anstatt herumzusitzen und über islamische Gesetzestexte zu disputieren. Damit setzte er sich in Widerspruch zu den Madrassen und den Ulema; die traditionellen Methoden religiöser Unterweisung umgeht er und bezieht seine Leitlinien direkt aus dem Koran. Entsprechend haben Bin Laden und seine Gefolgsleute selbst hoch geachteten Geistlichen und Gelehrten mehrfach vorgeworfen, „Sklaven abtrünniger Regime“ zu sein.6
All dies verweist auf die gewaltigen intellektuellen Defizite in der Debatte um al-Qaida. Denn immer noch bekommen wir ständig zu hören, dass der Terrorismus zum einen der Armut entspringt und zum andern der an den Madrassen vermittelten Koranlehre. Umgekehrt wird beharrlich abgestritten, dass die feindselige Haltung der Islamisten etwas mit der Politik der USA gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten und speziell mit den angloamerikanischen Abenteuern im Irak und in Afghanistan zu tun haben könnte. Die Aussagen von al-Sawahiri wie von Mohammed Sidique Khan, einem der Attentäter von London, besagen das Gegenteil.7
In Wahrheit haben die Al-Qaida-Täter in der Regel eine moderne Ausbildung genossen und formulieren ihre Ziele explizit politisch. Daran hat Bin Laden in seinen Verlautbarungen keinen Zweifel gelassen. Auf dem vor der Präsidentenwahl in den USA veröffentlichten Video merkte er lakonisch an, dass man, wenn al-Qaida gegen „die Freiheit“ kämpfen wollte, Schweden angegriffen hätte. Nein, die Männer, die den 11. September planten, waren nicht das Produkt eines traditionellen islamischen Erziehungssystems und keine Zöglinge der Mullahs, sondern Absolventen westlicher Universitäten.
Die Diskussion über die angeblichen Verbindungen zwischen den Madrassen und dem Terrorismus trägt auch dazu bei, dass die lange Geschichte dieser Koranschulen wie auch die Unterschiede zwischen ihnen aus dem Blick geraten. In der Geschichte des Islam waren die Madrassen jahrhundertelang der wichtigste Ort religiöser und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, so wie es in Europa die kirchlichen Schulen und die Universitäten waren. Zwischen dem 7. und dem 12. Jahrhundert brachten Madrassen freie Denker wie Alberuni, Ibn Sina und al-Khwarizmi hervor. Dasselbe gilt für den Sufi-Mystiker und Verfasser von Liebes- und Sehnsuchtslyrik, Maulana Jalaluddin Rumi, der im 13. Jahrhundert lebte und dessen Gedichte in den USA während der 1990er-Jahre zu Bestsellern wurden. Dieser Poet war ein muslimischer Rechtsgelehrter, der zeit seines Lebens in einer Madrasse im anatolischen Konya lehrte.
Dies sollte eigentlich nicht überraschen. Im gesamten Koran gibt es nur etwa 200 Verse, die eine direkte Anordnung zum Beten darstellen, aber dreimal so viele Verse, die dem Gläubigen auftragen, die Größe Gottes zu betrachten, zu bedenken und zu analysieren, wie sie sich in den Pflanzen, der Natur, den Sternen und im gesamten Sonnensystem offenbart. Die älteste und größte aller Koranschulen, die Al-Azhar-Universität in Kairo, kann wohl mit Recht von sich sagen, dass sie im frühen Mittelalter unter allen Universitäten des Mittelmeerraums das höchste intellektuelle Niveau besaß. Man geht allgemein davon aus, dass die Idee der Universität im modernen Sinne – als ein Ort, an dem Studenten gemeinsam unter Anleitung mehrerer Lehrer mehrere Wissensfelder studieren – zuerst an der al-Azhar entwickelt wurde.
Bezeichnend ist auch, dass die ersten Universitäten des christlichen Abendlands in Städten wie Salerno, Neapel, Bologna und Montpellier entstanden, also unweit der islamischen Reiche von Spanien und Sizilien. Und das allererste europäische Kolleg, das „Collège des Dix-Huit“ in Paris, wurde im Jahr 1180 von Jocius de Londoniis gegründet, als er von einer Pilgerfahrt in den Nahen Osten zurückgekehrt war.8 Während des gesamten Mittelalters bereisten Gelehrte wie Adelard of Bath die islamische Welt, um das fortgeschrittene Wissen zu studieren, das in den Madrassen gelehrt wurde.
Dichtung auf Persisch Vedanta auf Sanskrit
Als die Bildungsinstitutionen der islamischen Kernländer durch die Mongolen zerstört wurden, flüchteten viele Gelehrte nach Delhi, womit der Norden Indiens erstmals zu einem bedeutenden Zentrum der Gelehrsamkeit wurde. Bis zur Epoche des Mogulkaisers Akbar vollzog sich in den indischen Madrassen eine Verschmelzung des Wissens aus dem islamischen Nahen und Mittleren Osten mit den Lehren des hinduistischen Indien. In dieser Zeit studierten Hindus und Muslime gemeinsam den Koran (auf Arabisch), die Sufi-Dichtung eines Sa’adi (auf Persisch) und die Philosophie des Vedanta (auf Sanskrit), aber auch Ethik, Astronomie, Medizin, Logik, Geschichte und Naturwissenschaften.9
Die Absetzung des letzten Mogulherrschers Bahadur Shah Zafar (1858) war für das islamische Selbstbewusstsein auf dem Subkontinent ein harter Schlag. In der Folge gründeten desillusionierte muslimische Gelehrte in Deoband, nördlich von Delhi, eine einflussreiche Madrasse, die eine sehr engstirnige, am Wahhabismus orientierte Koranauslegung pflegte. Es war eine Reaktion auf das, was sie als Degeneration der alten Eliten empfanden. In dieser Anstalt wurde alles, was nach europäischen oder Hindu-Einflüssen aussah, aus dem Lehrplan getilgt.10
Unglücklicherweise haben sich im 20. Jahrhundert vor allem die puritanischen Deobandi-Madrassen in Nordindien und in Pakistan ausgebreitet. In den 1980er-Jahren wurden sie außerdem gezielt von Staatspräsident Zia ul-Haq und seinen saudischen Verbündeten gefördert. Auch die USA trugen maßgeblich dazu bei, die Madrassen im „Heiligen Krieg“, der damals in Afghanistan tobte, einzuspannen. Dabei finanzierte die CIA unter anderem ein Programm der US Agency for International Development, das besonders blutrünstige und militant islamische Schulbücher für die Madrassen produzierte.
In einem dieser Bücher war ein Dschihadi abgebildet, mit abgerissenem Kopf und Gewehr in der Hand. Im dazugehörigen Text werden die Mudschaheddin, die „Allah Gehorsam leisten“, mit den Worten gewürdigt: „Diese Männer opfern ihren Besitz und ihr Leben, um das islamische Recht durchzusetzen.“ Als die Taliban an die Macht kamen, wurden diese Lehrbücher an den afghanischen Schulen verteilt.11
Ohne Zweifel vermitteln viele pakistanische Madrassen völlig überholte Lehren. Das Medizinstudium zum Beispiel orientiert sich noch immer an dem antiken Gelehrten Galenos, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert lebte. Der Koran wird nicht kritisch studiert, sondern mechanisch gelernt, und noch immer gilt als erstrebenswert, ein hafiz zu werden, der den Koran auswendig hersagen kann. Die Deobandi-Madrassen lehren, dass die Sonne um die Erde kreist, und in einigen hat man noch besondere Sitze für die djinns, die unsichtbaren islamischen Geister, reserviert.
Die Darul-Ulum von Karatschi präsentiert sich mit ihren palmengesäumten Rasenflächen wie eine Kreuzung aus Fünfsternehotel und elitärer Campus-Universität. Es gibt gut ausgestattete Unterrichts- und Computerräume, und überall entstehen neue Bibliotheken und Studentenwohnheime. Im Unterricht herrscht konzentrierte Lernatmosphäre. Die Schüler sitzen mit gekreuzten Beinen auf Teppichen und lesen den Koran, der auf einem hölzernen Buchständer vor ihnen liegt. In einigen Räumen hören sie aufmerksam einem älteren maulana zu, der ihnen die Bedeutung von bestimmten Versen des Korans oder des hadith, der Sammlung überlieferter Geschichten über den Propheten, erläutert. In einem Computerraum kämpfen bärtige Männer mit der Urdu- bzw. der arabischen Version von Microsoft Word. Wie man mir erklärt, wird von fortgeschrittenen Studenten erwartet, dass sie ihre Referate mit dem Computer schreiben und ausgedruckt vorlegen. Aber natürlich sind nicht alle Madrassen entsprechend ausgestattet.
Bedroht fühlte ich mich in der Dar-ul-Ulum in keiner Weise. Die Schüler waren fast durchweg freundlich und bemüht, wenn auch etwas angespannt. Als ich einen bärtigen jungen Mann fragte, welche Musik er auf seinem neuen Kassettenrekorder hört, starrte er mich entsetzt an – das Gerät war nur dazu da, Gebete zu hören. Jede Art von Musik ist verboten.
Eine Darul-Ulum erfüllt eine wichtige Aufgabe: Obwohl ihre Erziehungsmethoden häufig rückständig sind, kann die Unterrichtsqualität in traditionellen Fächern wie Rhetorik, Logik und Jurisprudenz ganz hervorragend sein. Die Lehrinhalte sind in der Regel ultrakonservativ, aber nur selten militant. Würde man diese Schulen schließen, ohne zuvor das staatliche Bildungswesen auszubauen, wäre ein Großteil der Bevölkerung zu Unwissenheit verdammt. Und man würde damit den Muslimen sagen, dass sie ihre eigene Religion nicht mehr selbst lehren dürfen.
Im Nachbarland Indien kann man Madrassen finden, die sowohl die pädagogische Rückständigkeit als auch den Extremismus erfolgreich angehen. Obwohl die ultrakonservativen Deobandi-Madrassen ihren Ursprung in Indien haben, sind die indischen Koranschulen von heute strikt apolitisch und haben keine gewalttätigen Islamisten hervorgebracht. Einige von ihnen beweisen eindrucksvoll, wie zukunftsorientiert und dynamisch Madrassen sein können. So betreibt im Bundesstaat Kerala eine Mudschaheddin-Gruppe von Unternehmern und Freiberuflern Bildungsanstalten, die explizit die Kluft zwischen modernen Wissensinhalten und der islamischen Weltanschauung überbrücken wollen. Diese Mudschaheddin-Gruppe kämpft auch an vorderster Front für die Ausbildung muslimischer Frauen. An vielen ihrer Schulen in Kerala werden erheblich mehr Mädchen als Jungen unterrichtet.12
Das indische Beispiel zeigt, dass nicht die Madrassen als solche das Problem sind, sondern vielmehr die militante Atmosphäre und die Indoktrination, die in einigen wenigen Zentren eines ultraradikalen Islamismus vorherrschen. Eine dieser berüchtigten Anstalten ist die Binor-Town-Madrasse in Karatschi. Einige Absolventen dieser Koranschule sind, wie es heißt, aktiv an der Aufstandsbewegung beteiligt, die derzeit im Osten Afghanistans läuft.
Die entscheidende Frage ist jedoch, ob die Regierung von General Musharraf gewillt ist, Reformen durchzusetzen, die auch in Pakistan eine ähnliche Entwicklung wie in Indien herbeiführen könnten. Doch die Versuche, die militanteren Madrassen zu reformieren, fallen bislang bestenfalls halbherzig aus. Unmittelbar nach den Anschlägen in London wurden in pakistanischen Madrassen etwa 250 Männer festgenommen. Auch hat man sich bemüht, die Zahl der ausländischen Studenten zu beschränken. Seit Juli 2005 wurden schätzungsweise 1 400 von ihnen ausgewiesen. Es wird diskutiert, ob die Lehrpläne standardisiert oder ob den Madrassen staatlich empfohlen werden solle, einige moderne Fächer anzubieten. Doch die extremeren Schulen haben sich selbst diesen zaghaften Plänen erfolgreich widersetzt. Einer jüngst erfolgten Aufforderung, sich von den Behörden als Erziehungseinrichtungen registrieren zu lassen, kam weniger als die Hälfte der Madrassen nach.
Die pakistanische Regierung kennt also noch nicht einmal die exakte Zahl der Madrassen im Lande. Noch viel weniger hat sie einen Weg gefunden, die Exzesse der radikaleren Anstalten einzudämmen. Schlimmer noch: Angesichts der engen Allianz der Militärregierung mit den islamistischen Parteien, die inzwischen zwei Provinzen kontrollieren, kann es sich Musharraf nicht leisten, härter gegen die extremistischen Madrassen vorzugehen. Noch keine einzige dieser Anstalten wurde geschlossen.
Allerdings dürften militante Madrassen für die innere Sicherheit Pakistans ein weit größeres Problem darstellen als für die Sicherheit der westlichen Metropolen. Statt mit dem Finger auf die Koranschulen in Pakistan zu zeigen, sollten wir lieber den islamischen Extremismus untersuchen, der an unseren eigenen Universitäten blüht, und uns die Frage stellen, wie die außenpolitischen Exzesse der USA und Großbritanniens vormals gemäßigte Muslime auf so fatale Weise dem Westen entfremden und zu Gewalttaten motivieren können – bei uns selbst wie auch in muslimischen Ländern.