Flut der Erinnerungen
Vergangenheitsbewältigung auf algerisch von Pierre Daum
Die palmengesäumte Straße im Zentrum von Algier heißt noch immer Boulevard Victor Hugo, wie schon zu Kolonialzeiten. In dieser Straße liegt, nahe der Rue Didouche Mourad (ehemals Rue Michelet), die Buchhandlung Kalimat, was auf Arabisch „Wörter“ bedeutet.
Herzlich lächelnd begrüßt die Buchhändlerin Amel Paar ein älteres Ehepaar, beide weit über sechzig. Auf die Frage, was es diese Woche Neues gibt, meint Amel: „Die Erinnerungen eines Hauptmanns, ein Buch über Abane Ramdane und einen Bericht von einem ehemaligen Offizier der Befreiungsarmee, der im Krieg beim Geheimdienst war.“ Der Mann sagt: „Gut, die nehmen wir alle!“ Es folgt die Frage: „Haben Sie schon das Buch von Pierre und Claudine Chaulet gelesen, die Erinnerungen von Pieds-noirs1 , die nach der Unabhängigkeit in Algerien geblieben sind?“ Die schnelle Antwort: „Das hatten Sie letztes Mal nicht mehr da. Wenn Sie jetzt ein Exemplar haben, wäre das großartig!“
Laut Fatiha Soal, der Besitzerin von Kalimat, gibt es viele solcher Kunden. „Die wollen alles lesen, was über die Geschichte Algeriens herauskommt. Über den Krieg, aber auch über die Zeit danach, unter den Präsidenten Ben Bella und Boumedienne. Jede Woche gibt es neue Bücher über diese Themen, das nimmt gar kein Ende.“
Hunderte von alten Kämpfern aus dem Unabhängigkeitskrieg (von 1954 bis 1962) veröffentlichen derzeit ihre Erinnerungen. Der Historiker Mohammed Harbi war Mitglied der FLN in Frankreich und arbeitet gerade am zweiten Band seiner Memoiren. „Die bekannten Persönlichkeiten haben ihre Bücher schon früher publiziert“, sagt er. „Aber neu und wahrhaft phänomenal ist, dass jetzt auch einfache djounout (Kämpfer) ihre Geschichten schreiben.“
Die Bücher erzählen vor allem von tausend kleinen Ereignissen, die den Alltag der Widerstandskämpfer in dem siebeneinhalb Jahre dauernden Befreiungskrieg bestimmten. All diese Berichte über Entbehrungen, Hinterhalte, Verhaftungen und Folter summieren sich zu einem gigantischen Puzzlebild, das trotz mancher fehlender oder verfälschter Stücke die algerische Sicht der Dinge anschaulich wiedergibt. In der Geschichtsschreibung werden die schriftlichen Quellen oft überschätzt, meint Daho Djerbal, der seit 30 Jahren Erinnerungen einfacher djounout sammelt.2 „Angeblich handelt es sich um objektive Fakten, gewonnen aus nachprüfbaren Dokumenten. Ich kann dieser Logik schon deshalb nicht folgen, weil ein Großteil der schriftlichen Quellen von denen stammt, die Algerien besetzt hielten: von Beamten oder Offizieren der französischen Kolonialarmee.“ Deshalb seien die Erinnerungen der algerischen Kämpfer besonders wichtig.3
Aber diese Berichte sind noch aus einem weiteren Grund bedeutsam. Die algerische Führung, die 1962 die Macht ergriff, hatte keine Erfahrung von Widerstand im Untergrund. Sie hatte den Befreiungskrieg entweder wie Boumedienne in den Reihen der „Armée des frontières“4 verbracht oder wie Ben Bella in französischen Gefängnissen. Die Sicht auf diese Zeit wurde lange Zeit von solchen Männern bestimmt; es gab keinen Raum für die Stimmen der einfachen Soldaten, die gegen die französische Armee gekämpft hatten.
Können die Historiker aus diesen Memoiren neue Erkenntnisse gewinnen? Über den Bruderkrieg zwischen den „Messalisten“ der algerischen Nationalbewegung5 und der FLN, der in Algerien lange Zeit totgeschwiegen wurde, schreibt zum Beispiel Hamou Amirouche: „Bekanntlich hat dieser Kampf seinen blutigen Höhepunkt mit dem Massaker von Beni Ilmane in der Nähe von M’Sila erreicht, wo mehr als 300 Dorfbewohner, Männer, Frauen und Kinder, ermordet wurden“.6 Das ist keine neue Entdeckung, aber eine Bestätigung für die Historiker.
Ein weiteres Beispiel ist der Tod von Abane Ramdane.7 Der aus der Kabylei stammende politische Chef der FLN wurde 1957 in Marokko ermordet. 40 Jahre lang wurde er als „Schahid“ (Märtyrer) verehrt, der „unter den Kugeln der Franzosen“ gestorben sei. Inzwischen gibt man in Algerien zu, dass er von seinen eigenen Leuten umgebracht wurde. Dieses früher so heikle Thema wird heute heftig diskutiert. „Jedes Jahr gibt es ein neues Buch über Abane, von dem man sicher sein kann, dass es ein Verkaufsschlager wird“, meint Tahar Dahmar, ein Buchhändler in Tizi Ouzou, Abanes kabylischer Heimat.8
Die Lawine von Publikationen hat mit der Zeit die meisten Tabus der offiziellen algerischen Geschichtsschreibung umgerissen. So wird heute viel über Messali Hadj geschrieben, den Vater der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, der in den Schulbüchern lange geächtet wurde, weil er 1954 den bewaffneten Kampf abgelehnt hatte.9
Auch das „Complot Bleu“ ist immer wieder ein Thema. Es handelt sich um eine Operation des französischen Geheimdienstes, der die ALN-Führung durch gezielte Falschinformationen dazu gebracht hatte, Hunderte von ALN-Kämpfern als angebliche Kollaborateure der Franzosen hinzurichten. Viel diskutiert wird auch die Affäre Si Salah. Der Kommandeur des Bezirks Algier hatte im Juni 1960 versucht, auf eigene Faust mit de Gaulle zu verhandeln. Daraufhin hatte die FLN den „Verräter“ verhaftet und seine Mitkämpfer liquidiert. Salah selbst kam 1961 bei einem französischen Bombenangriff ums Leben.
An einige Tabus wird noch immer nicht gerührt
Die veröffentlichten Berichte haben noch eine Gemeinsamkeit: „Oft geht es um die Verteidigung einer bestimmten Person oder die angeblich unterschätzte Rolle einer bestimmten Kampfregion“, sagt der Historiker Gilles Manceron. In der Kabylei zum Beispiel gibt es einen richtigen Personenkult um Abane Ramdane. Auch Hauptmann Amirouche, der im März 1959 gefallene Kommandeur der Kabylei, ist überaus populär. „Obwohl er Verantwortung für die Folgen des ‚Complot Bleu‘ trägt, bleibt er in der Kabylei eine sehr positive Figur“, erzählt Omar Cheikh, Besitzer einer der ältesten Buchhandlungen in Tizi Ouzou. Im März 2010 hatte ein Buch von Said Sadi einen regelrechten medialen Sturm ausgelöst, das unter dem Titel „Amirouche. Ein Leben, zwei Tode, ein Testament“ die These entwickelte, die Auslandsarmee unter Boumedienne habe ein Komplott gegen Amirouche organisiert.
Doch all diese Autoren machen vor einer bestimmten Grenze halt. „Ich habe selbst heute noch nicht den Mut, ein wirklich umfassendes Buch über das ‚Complot‘ zu veröffentlichen“, gesteht Mustapha Madi, Soziologe und Direktor bei Casbah éditions. „2005 kam ein Typ mit einem Manuskript zu mir. Ich habe es abgelehnt, weil da sehr viele Namen vorkamen: ‚X hat Y gefoltert‘ und so weiter. Stellen Sie sich die Kinder eines Schahids vor, die glauben, ihr Vater sei durch Kugeln der Franzosen gestorben, und dann erfahren, dass er unter der Folter von Algeriern umkam!“
Über ein Tabuthema zu sprechen ist eine Sache. Darüber zu forschen eine andere. Während die Welle der Memoiren die Buchläden überschwemmt, halten sich die algerischen Historiker auffallend zurück. Kein Doktorand an einer algerischen Universitäten wagt sich an ein solches Thema. Die erste wissenschaftliche Arbeit über die blutigen Auseinandersetzungen in der nachkolonialen Phase war die Dissertation eines Algeriers an der Universität Paris VII.10
Ein Student der Universität Algier, der eine Dissertation über ein „ruhiges“ Thema schreibt und ungenannt bleiben will, gesteht mir, nachdem er sich versichert hat, dass niemand zuhört: „An den Unis bleiben manche Themen tabu. Zum Beispiel die Existenz von ALN-Kämpfern, die die Einwohner ganzer Dörfer massakriert haben, nur weil sie im Verdacht standen, Informationen an die Franzosen weitergegeben zu haben. Einfach so, ohne Untersuchung oder Prozess. Würde ich darüber sprechen, würde ich sofort als Verräter gelten.“
Trotz der großen Offenheit der Erinnerungen – mindestens drei Themen sind noch immer unantastbar: erstens die Zahl der im Krieg getöteten Algerier. Ab 1962 wurde in Algerien die offizielle Opferzahl 1,5 Millionen festgelegt, während die französische Historikerzunft die Opfer auf 400 000 schätzt. Letztere Zahl wird unter der Hand auch von vielen algerischen Forschern bestätigt.
Das zweite Tabu ist die Zahl der Algerier, die sich am Befreiungskrieg beteiligten. Seit 50 Jahren lautet die offizielle Geschichtsschreibung, das gesamte algerische Volk habe gegen die französischen Unterdrücker aufbegehrt – bis auf einzelne „Harkis“ (Verräter), deren Zahl meist stark untertrieben wird. Doch nach dem französischen Historiker François-Xavier Hautreux11 lag die Zahl der aktiven Widerstandskämpfer zwischen 200 000 und 400 000.
Das dritte Tabu ist die Beteiligung des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika am Befreiungskrieg. Daran rühren Autoren und Verleger lieber nicht.
Dem Bedürfnis der Algerier nach der Wahrheit über ihre eigene Geschichte kommen die vielen neuen Zeugnisse entgegen. Doch die stehen in all ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander, was zu einer gewissen Konfusion führt. Die offenbart sich auch bei der Lektüre der 20 algerischen Tageszeitungen, ob auf Arabisch oder Französisch. Fast täglich erscheinen lange Beiträge über diese oder jene historische Frage, in denen andere Darstellungen der Geschichtsfälschung beschuldigt werden. Aber keiner der Autoren hält sich an wissenschaftliche Gepflogenheiten, etwa mittels belegbarer Zitate und dem Vergleich unterschiedlicher Quellen. Die Texte sind oft eine Mischung aus Fakten, offensichtlichen Fehlern und subjektiven Interpretationen. Da haben die seriösen algerischen Historiker es schwer, sich Gehör zu verschaffen.