09.08.2013

Dubai ist keine Stadt

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Dubai ist keine Stadt

von Elisabeth Blum und Peter Neitzke

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Wenn hier von Dubai die Rede ist, dann nicht vom alten Dubai, dem ehemaligen Fischerdorf, heute eine quirlige, hochbetriebsame Stadt rund um den natürlichen Meeresarm Creek. Hier geht es um das neue Dubai, das sich in südöstlicher Richtung weg vom Ursprungskern entlang der Sheik Zayed Road entwickelt: 75 Kilometer gebaute Marktlogik.

Aus größerer Entfernung suggerieren Dubais zusammengeschobene Türme: Stadt, Stadtmitte. Aus der Nähe aber steht man vor einer Ansammlung von Hochhäusern mit Tiefgaragen, die aus Fertigteilen – glatt oder strukturiert, „modern“ oder „klassisch“, „arabisch“ oder „postmodern“ – montiert wurden. Für den Londoner Kurator Shumon Basar lässt sich in Dubai „architektonische Individualität“ an Fassadenverkleidungen festmachen: „Wie Gebäude-Make-ups an den Beton geklebt. Bronzefarbener Stahl, wasserblaue Verglasungen oder rosa Granit? Wird sofort gemacht.“1 Und wie überall rund um den Globus, von Katar über Seoul bis Schanghai, sind die Lieferanten dieser Baukunst unbekannt.2

Die aus der Weltraumperspektive beeindruckend wirkenden Luftbilder wie die vor der Küste aufgeschüttete Insel Palm Jumeirah erweisen sich auf dem Boden der Tatsachen schnell als Sinnestäuschungen.

Ein Ortstermin ist lehrreich: Von der Vitalität, die die urbanistische Inszenierung aus der Vogelperspektive zu versprechen schien, ist unten wenig zu bemerken. Zu beiden Seiten der vielspurigen Schnellstraßen ragen mächtige Betonstützen und Brückenelemente in den Himmel, die eine Hochbahn tragen. Wohn- und Bürotürme stehen so dicht gedrängt, dass hinter den nahezu identischen Fassaden das Meer fast verschwindet. Und die Villen nebst Palmwedeln liegen so nah beieinander, als hätten sich die Planer an Bildern von Barackensiedlungen orientiert.

Zwischen den thematisch gruppierten Turm-Clustern und den in geometrischen Figurationen arrangierten Villenvierteln des neuen Dubai liegen indes ausgedehnte Brachen und von groben Erschließungsinfrastrukturen durchsetzte, fußgängeruntaugliche Wüstenbezirke. In einer ferneren oder näheren Zukunft, träumt der Architekt Amer Moustafa, sollen auch diese Leerstellen urbanisiert werden oder vielleicht sogar zusammenwachsen „zu einem Ort, wo Menschen und ihr gesellschaftliches Leben die treibende Kraft sein werden“.3 Ob das 2012 angekündigte Großprojekt Mohammed Bin Rashid City diesen Traum einlösen wird?

Die auf einer Fläche von mehr als 400 Hektar in Zusammenarbeit mit der US-Filmproduktionsfirma Universal Studios geplante „größte Freizeit- und Entertainment-Anlage des Nahen Ostens, Afrikas und des indischen Subkontinents“ soll mehr als hundert neue Hotels bekommen, ein neues Ultra-Luxus-Wohnviertel inklusive Golfplatz, die weltweit größte Shoppingmall („Mall of the World“), einen Stadtpark – viel größer als der Londoner Hyde Park – und einen „Cultural Crossing“ genannten Bezirk mit Kunstgalerien.

Jenseits der „neuen Stadt in der Stadt“ sollen in den nächsten Jahren weitere Großprojekte entstehen: acht Märkte (Fische, Vögel, Boote, Möbel, Lastwagen), weitere Shoppingmalls und auf der Palm Jumeirah zwischen den Golden Mile Apartments und dem Ufer ein 300 000 Quadratmeter großer „Central Park“.

In seinem Buch „A History of Future Cities“ hat der Autor und Urbanist Daniel Brook vier Städte porträtiert, die einander zwar wenig ähnlich sind, aber eines gemeinsam haben: Sie liegen nicht im Westen, wurden aber, freilich aus unterschiedlichsten Antrieben, mit westlichem Look ausgestattet: Sankt Petersburg, Bombay (Mumbai), Schanghai und Dubai. Man schätze sie, „weil sie ebenso sehr Städte sind wie Ideen, Metaphern der Verwestlichung in Stein und Stahl“.4

Modern, utopisch, reich und leblos

So bekam der Schweizer Architekt Domenico Trezzini den Auftrag, das von Zar Peter dem Großen 1703 gegründete Sankt Petersburg zum „Venedig des Nordens“ zu machen. Gewaltsame Modernisierung auch in Indien: Während das ganze Land „sich im Tempo von Ochsenkarren bewegte“, schreibt Brook, „stürzte Bombay mit der Eröffnung der ersten asiatischen Eisenbahn in die Zukunft“. Sir Bartle Frere, von 1862 bis 1867 Gouverneur von Bombay, ließ ein Dutzend kolossaler öffentlicher Bauten errichten, im Stil englischer Gotik, oder, wie bei der neuen Universitätsbibliothek, in Anlehnung an den Dogenpalast von Venedig.

Nach dem Ende des ersten Opiumkriegs erzwang Großbritannien im Vertrag von Nanking (1842) die Öffnung Schanghais für den europäischen Handel. Warum Schanghai? Weil die Stadt mit den Worten Hugh Lingseys, seinerzeit Repräsentant der britischen East India Company, der wichtigste Marktplatz Ostasiens war.

Sichtbarste Hinterlassenschaft der regen Handelsaktivitäten am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die europäischen Kolonialbauten an der Uferpromenade, dem Bund. Die europäischen Kaufleute jener Zeit zog es nach Schanghai, weil sie hier große Freiheiten genossen. Kaum anders, nur zeitversetzt, als heute in Dubai.

Weitsichtig war Said bin Maktum, von 1912 bis 1958 Herrscher des Emirats Dubai, als er 1938 eine Allianz des Staats mit dem Kaufmannsstand einging, welche Muhammad bin Raschid al-Maktum festigte, heute Herrscher des Emirats und zugleich Premierminister, Verteidigungsminister und Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate. Modernisierung hieß und heißt seither, Dubai „zum Banker, Developer und Geldwäscher der […] Welt“5 zu machen.

Dubai, sagt Brook, sei zwar vielfach als neues Phänomen beschrieben worden, sei aber in Wirklichkeit nur „die jüngste Wiederholung“ einer weitaus älteren Geschichte: „Seit 300 Jahren werden nach westlichen Vorbildern modellierte instant cities […] gebaut – kühne Versuche, zurückgebliebene Regionen in die moderne Welt zu bringen.“ Um die Stadt ganz zu begreifen, müsse man einen Blick „auf das Utopische innerhalb des Dystopischen“ werfen, rät Brook. Dubai aber „abzuschreiben, wäre so, als ob man die Welt abschriebe, wie sie sein könnte“, ja, als ob man die Moderne insgesamt abschriebe.

Gemessen an traditionellen Stadtbildern, herrscht der bloße Schein von Stadt: Wüstenimplantate, semiurbane Fragmente, „gated housing developments“, vor allem aber: Unternehmensstandorte wie etwa das Dubai International Finance Center (DIFC). Dessen Konzept, schreibt Brook, und zitiert den aus Australien stammenden Finanzfachmann Errol Hoopman, heute Managing Director, Policy and Legal Services Dubai Finances Services Authority (DFSA), habe darin bestanden, ein Gebiet von rund 44 Hektar von Gesetzen zu befreien, die für die Vereinigten Arabischen Emirate gelten, frei von Privat- und Gewerberecht.

Hoopman habe das DIFC als „Staat im Staat“ bezeichnet, vergleichbar dem Vatikan, „mit eigener Gerichtsbarkeit unter dem Vorsitz eines englischen Richters“. Das DIFC habe sogar seine eigene offizielle Währung, den US-Dollar. Hier sind die Giganten des globalen Bankensystems – Citibank, HSBC, Standard Chartered, Credit Suisse – angesiedelt, ebenso wie Microsoft, Hewlett Packard, Dell und Canon mit ihren Tausenden von Angestellten.

Eigene Freihandelszonen bilden auch die Dubai Internet City (DIC) und die Dubai Media City (DMC). Stadt? It’s the economy, stupid. Um internationale Unternehmen zu bewegen, sich in der Dubai Internet City und der Dubai Media City anzusiedeln, befreiten die Behörden die benachbarten Freihandelszonen von der strikten Internetzensur der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Dubai Media City beherbergt führende westliche Nachrichtenagenturen und Fernsehsender wie BBC, CNN und Reuters ebenso wie die der arabischen Welt, al-Dschasira und al-Arabiya.

Es war Scheich Mohammed bin Raschid al-Maktum, der Dubai zur Drehscheibe des globalen Business im Nahen Osten machte. Der Ausbau des Dubai International Airport, die Gründung der international bald überaus erfolgreichen staatlichen Fluggesellschaft Emirates (1985) und der Ausbau des Hafens Dschabal Ali, Umschlagplatz von jährlich 10 Millionen Schiffscontainern, haben Dubai zum Modell eines Urbanismus ohne Vorbild gemacht. Und zum neuen Typus einer potemkinschen Stadt.

Anders aber als bei den bemalten Kulissen, die der Feldmarschall Reichsfürst Grigori Alexandrowitsch Potjomkin 1787 vor dem Krimbesuch der Zarin Katharina II. installieren ließ, angeblich um dieser den Anblick der tristen Dörfer zu ersparen, sind Dubais himmelstürmende Türme nicht aus Pappe, sondern mit Dollar- und Rubelmilliarden gebaute „Hülsen der Finanztransaktionen“,6 über deren Quellen, deren Wege und deren Größenordnung die glitzernden Oberflächen freilich schweigen.

Und so ist Dubai der Prototyp einer Stadt, wie es sie in dieser Ausprägung bislang nirgends gibt: das Programm einer nach den Gesetzen der kapitalgesteuerten global economy eingerichteten, sozial restringierten und konfliktarmen Gegend, wie man sie im Kleinen von gated communities kennt, übersetzt auf den Maßstab der Stadt. Das Bild einer Retortenstadt, das die Interessen und die Bewegungsgesetze eines Reichtums abbildet, der auf schnelle Akkumulation setzt. Eines Reichtums, der der (Stadt-)Gesellschaft den Rücken kehrt.

Die von Dubais Regierung eingerichteten Freihandelszonen sind steuerfreie, funktionsoptimierte, nichturbane Infrastrukturen: im Wortsinne Masken großräumiger Finanztransaktionen für international operierende Akteure. Diese zahlen in Dubai weder Körperschafts- noch Einkommensteuer. Steuerfreiheit genießen auch die sogenannten Expats, Fachkräfte, die sich hier im Auftrag internationaler Unternehmen vorübergehend aufhalten. „Viele Länder“, schreibt Brook, „eingeschlossen Großbritannien, besteuern die Einkünfte ihrer Expatriates nicht.“

Um Dubai ganz zu begreifen, muss man hinter die Oberflächen blicken. Investment-Urbanismus, das ist gebaute Marktlogik pur: Wohntürme und Villen, in denen ungezählte, gut gefüllte und aufmerksam bewachte Tresore stehen; Bürotürme, in deren klimatisierten Etagen ein Personal sitzt, das sich darauf versteht, Kapitalströme zu lenken und Kapital zu versenken.

Mit uns vertrauten Stadtideen und Stadtbildern hat das alles wenig zu tun. In Dubai wie andernorts, schreibt Robert Kurz, erzeuge der „Handel mit den bloßen Eigentumstiteln von Aktien und Immobilien [...] fiktive Wertsteigerungen“7 , der jenes Kapital produziert, das so lange in den Konsum und in die Produktion der Bauindustrie fließt, wie die Wertmaximierungsspirale funktioniert. Was dabei am Ende herauskommt, ließ sich in Dubai schon Anfang 2008 besichtigen: leerstehende Villen, Wohn- und Bürotürme.

Spekulationsobjekte en masse, deren Gebrauchswert nie interessierte. Nachdem Raschid al-Maktum 2002 ein Dekret erlassen hatte, das es Ausländern erlaubte, in Dubai Häuser oder Wohnungen zu erwerben, ist die Wüstenstadt, notiert Brook, ein Ort „für die Magnaten und Kleptokraten des Nahen Ostens, aus Nordafrika, Südasien und der ehemaligen Sowjetunion“. Kein Wunder, dass die global agierende Immobilienagentur Jones Lang LaSalle die Wüstenstadt Dubai, neben Dublin und Las Vegas, 2002 als „World Winning City“ bezeichnet hat: „Die drei Städte erlebten einen gewaltigen Boom, aber der von Dubai war der explosivste“, schreibt Brook.

Alles indoor, alles klimatisiert

Und das nicht allein wegen der hochspekulativen, 2008 in eine vorhersehbare Krise gestürzten Bautätigkeit. Anfang 2010 waren die Immobilienpreise um 50 Prozent und mehr gefallen, ganze Türme standen leer, unvermietet, unverkauft. Und heute? Im Central Business District (CBD) liege der Leerstand bei 31 Prozent, heißt es im Q1 market report (Mai 2013) von Jones Lang LaSalle, 35 Prozent aller in Dubai angebotenen Büroflächen seien ungenutzt.8

Aus Dubai hört man freilich anderes: Bei den rund 60 der im CBD ursprünglich geplanten 280 Türme liege der Leerstand zwischen 50 und 60 Prozent. Nach einem Bericht der Gulf News waren Ende 2010 – knapp ein Jahr nach Eröffnung des Burj Khalifa, des derzeit noch höchsten Gebäudes der Welt – von den 900 Luxuswohnungen 825 beziehungsweise knapp 92 Prozent unverkauft. Die Informationen zum derzeitigen Leerstand des Turms sind widersprüchlich.

Jahrzehnte ist es her, dass der Handel die Attraktivität der historischen Zentren europäischer Städte als umsatzfördernd entdeckte. Lauschige Plätze, vom Weltkulturerbe geschützte Kirchen, schattenspendende Arkaden und plätschernde Brunnen bilden die bewährte stadträumliche Kulisse für glückliche Einkaufserlebnisse und erholsame Pausen.

Dubai aber ist neu. Dubai kennt keine Stadträume. Dubai hat nur Adressen. Dubai kennt buchstäblich nichts, das nicht mehr oder weniger unmittelbar dem Luxuskonsum und der Kapitalverwertung dient. Was in alten Städten die Lebendigkeit der Erdgeschosszonen ausmacht, fehlt hier. Wer außerhalb der Bürogemeinschaften Gesellschaft sucht, muss die Funktionszonen mit dem Auto verlassen: Die Treffpunkte – Hotellobbys, Hotel- und Golfclubrestaurants – liegen weit auseinander. Das sogenannte gesellschaftliche Leben ist indoor und klimatisiert. Fürs Einkaufen gibt es Shoppingmalls, große, größere und riesengroße wie die 223 000 Quadratmeter große Mall of the Emirates – und seit 1996 das als Event der Extraklasse etikettierte Dubai Shopping Festival, das regelmäßig über drei Millionen Touristen in die Stadt am Persischen Golf zieht. Dubai, resümiert Mike Davis, sei eine „Horrorshow“, ein „anschauliches Beispiel für die Grobheiten des Hyperkapitalismus“. Dubai sei „die vollendete Synthese aus Shopping, Entertainment und architektonischem Spektakel – im Maßstab pharaonischer Dimensionen“.9

Eine vorwiegend aus importierten „Stadtnomaden“ zusammengesetzte Gesellschaft ließe sich hilfsweise als die einer mobilen Funktionsintelligenz beschreiben: gut bezahlte Fachleute, im Firmenjargon eben jene „Expats“, zufällig und instrumentell aggregiert, in den Freihandelszonen des Emirats temporär und zweckbezogen agierend, vielfach isoliert lebend, allenfalls mit punktuellen Kontakten, ohne politische oder kulturelle Kohärenz.10

Es sind transitorische Existenzen ohne feste Strukturen, wie sie für die Formation von Gesellschaften nötig sind, jederzeit bereit, wieder aufzubrechen, mit einem „check-out-date“ im Kopf,11 und meistens „uninteressiert an gesellschaftlichen Beziehungen oder an Freundschaften mit Nachbarn und in ihrer Mehrheit zufrieden damit, ihren Job als Sprungbrett für eine andere Gelegenheit zu sehen oder als temporären Aufenthalt vor einer etwaigen Rückkehr nach Hause“.12

Verglichen mit den Arbeits- und Lebensbedingungen zunehmender Vergesellschaftung, wachsender und aufeinander bezogener Integration und Differenzierung charakterisiert die Mitglieder der hier skizzierten Aggregation „Dubai“ eine Praxis des Rückzugs: vergleichsweise gering ausgebildete Diversifizierungsbedürfnisse und minimale Unterschiede im Lebensstil.

Man bleibt vorzugsweise unter sich, weil das Business nicht braucht, was eine vitale moderne Stadtgesellschaft auszeichnet: das Öffentliche und den Reichtum einer Konfliktkultur, die zur Komplexität und zur hohen sozialen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften gehört. „Die Globalisierung und die von ihnen auferlegten postmodernen Lebensbedingungen“, beobachtet Amer Moustafa, „haben zunehmend das Private privilegiert. Die Privatisierung aller Aspekte des städtischen Lebens ist offenkundig.“13

Am Beispiel des Urlaubsresorts Madinat Jumeirah – zwei Boutique-Hotels und Sommerhäuser, 44 Bars und Restaurants, fünf Tennisplätze, ein Quay Health Club mit Höhentraining und Kletterwand, ein Spa mit 26 Behandlungsräumen, ein „traditioneller Souk“ und ein zwei Kilometer langer, „unberührter“ Privatstrand – zeige sich exemplarisch, dass die Transformation der Stadt in ein „indoor setting“ die „Privatisierung der sozialen Beziehungen“ fördert.14 Zugespitzt: eine aus Exklusionsinseln zusammengesetzte Welt.

Gemeinsam ist den „transitorischen Existenzen“, die sich selbst kaum als Stadtbewohner bezeichnen würden, ein gründliches Desinteresse an allen Formen gesellschaftlichen Lebens. Ihr Bild von Stadt, von städtischer Vitalität und Kultur orientiert sich nicht an der Idee, teilzuhaben an einem gemeinsam beanspruchten, gemeinsam genutzten, bereicherten und gehegten, immer aber auch potenziell riskanten städtischen Raum, für den man gar in irgend einer Form Verantwortung trägt. Im Gegenteil: Dubais großenteils temporäre Bewohner sind nur an einem von den Fährnissen sozial und funktional durchmischter Städte befreiten Raum interessiert. Die Stadt, die sie meinen, ist ein Ort privatistischer Selbstbezüglichkeit.

Einem vielleicht als unangemessen wirkenden Vergleich könnte es gelingen, die Dürftigkeit und die Grenzen dieser Haltung sichtbar zu machen, auch wenn es sich im einen Fall um die existenzielle, im anderen um die luxuriöse Seite des Problems handelt: Man könnte beispielsweise „Bekanntes aus ungewohnten, inkongruenten Perspektiven“15 neu beleuchten und sich fragen, was etwa informelle Siedlungen und das neue Dubai gemeinsam haben. Nichts, wenigstens auf den ersten Blick. Auf den zweiten jedoch, dass beide – wenn auch höchst unterschiedliche – Erscheinungsformen ein und derselben, strukturell ähnlichen Investitionspolitik sind. Denn hier wie dort wird nahezu ausschließlich in den privaten, nichtstädtischen Raum investiert.

Im Fall der informellen Siedlungen agieren die von der herrschenden Planungstheorie und Planungspraxis Ausgeschlossenen aus purer Not. Die Landbesetzer in Brasilien haben keine Wahl – ihre ökonomischen Mittel sind begrenzt. Mehr als einfachste Hütten oder Häuser für ihre eigenen Bedürfnisse zu errichten, können sie sich nicht leisten. Gezwungenermaßen werden sie selbst zu Investoren und „Städtebauern“, weil sie keinen oder nur einen äußerst beschränkten Zugang zur öffentlichen Infrastruktur haben.

Bei Dubais Stadt-Clustern liegt der Fall dagegen anders. Hier beruht die Investitionspolitik auf der augenfälligen Gleichgültigkeit gegenüber den vielschichtigen Formen des gesellschaftlichen Lebens und diesen entsprechenden öffentlichen Räumen.

Hier wie dort entsteht ein jeweils anderes Bild der vernachlässigten Stadt. Die aus der Not entstandene wie die aus dem Luxus geborene sind Erscheinungsformen einer Politik der Inklusion wie der Exklusion. Privilegierte und Unterprivilegierte leben in Dubai scharf voneinander getrennt. Wo ihre Wege sich kreuzen, scheut man sich nicht, die Klassenunterschiede bereits in den Prospekten international vermarkteter Wohnimmobilien hervorzuheben: Der fensterlose Maid’s Room fällt in den Grundrissen zuweilen noch kleiner aus als das Ankleidezimmer neben dem Master’s Bedroom.

Im Maßstab der Stadt zeigen sich die Unterschiede ebenso krass. Unweit der Business Bay gelegen, ist beispielsweise Al Quoz, die „unsichtbare Stadt, die die sichtbare baut“, ein Ort ohne Adresse.16 Hier und andernorts lebten während des Baubooms Hunderttausende von Arbeitern, die Dubais Türme bauten: Underclass-Nomaden aus Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan, Sri Lanka und anderen asiatischen Ländern, nach Berufsgruppen mit Minimalstandard untergebracht in sogenannten Labor Camps. Morgens mit Bussen der Baufirmen zu den Baustellen gekarrt, abends in die trostlosen Unterkünfte zurückgefahren, am arbeitsfreien Tag in die Stadt und zurück – anderes war und ist für sie nicht vorgesehen. Al Quoz, das ist die anonyme Seite Dubais.

Fußnoten: 1 Shumon Basar, „Dubai: Self-help for those wanting to build a 21st Century City“, Static, London Consortium, November 2006. 2 Siehe Ole Bouman, Mitra Khoubrou und Rem Koolhaas (Hg.), „Al Manakh“, Amsterdam (Stichting Archis) 2007, S. 198. 3 Amer Moustafa: „My Dubai“, in: „Al Manakh“, siehe Anmerkung 2, S. 15. 4 Siehe Daniel Brook, „A History of Future Cities“, New York/London (W.W. Norton & Company) 2013. 5 Ahmed Kanna, „Dubai in a Jagged World“, Middle East Research and Information Project, 243, Band 37, 2007. 6 Lucia Tozzi, „Willkommen in der Immobilienwüste“, in: Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.), „Dubai. Stadt aus dem Nichts“, Bauwelt Fundamente, Band 143, Basel (Birkhäuser) 2009, S. 226 ff. 7 Robert Kurz, „Die Himmelfahrt des Geldes. Strukturelle Schranken der Kapitalverwertung, Kasinokapitalismus und globale Finanzkrise“, Exit, 1995. 8 www.joneslanglasalle-mena.com/ResearchLevel1/JLL_DXBQ12013.pdf. 9 Mike Davis, „Fear and Money in Dubai“, in: New Left Review 41, September/Oktober 2006. 10 Dank für Anregungen an den Soziologen Rudi Schmidt, Prof. em. Universität Jena. 11 George Katodrytis, „The Dubai Experiment“, in: Blum/Neitzke, siehe Anmerkung 6, S. 150 ff. 12 Vgl. Todd Reisz, „Workers City“, in: „Al Manakh“, siehe Anmerkung 2, S. 306. 13 Christopher M. Davidson, „Dubai. The Vulnerability of Success“, New York (Columbia University Press) 2008, S. 192. 14 Amer A. Moustafa, „My Dubai“, in: „Al Manakh“, siehe Anmerkung 2, S. 15. 15 Fatih A. Rifki, Amer A. Moustafa, „ Madinat Jumeirah and the Urban Experience in the Private City“, in: „Al Manakh“, siehe Anmerkung 2, S. 26. 16 Niklas Luhmann, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Erster Teilband, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998, S. 42. Elisabeth Blum ist Architektin und Autorin. Peter Neitzke ist Architekt, Autor und Herausgeber der Buchreihe „Bauwelt Fundamente“ (Birkhäuser Verlag, Basel). Der vorliegende Text ist eine stark erweiterte und aktualisierte Fassung von „Dubai, ein Zwischenbericht“, erschienen in: Elisabeth Blum, Peter Neitzke (Hg.), „Dubai. Stadt aus dem Nichts“, Bauwelt Fundamente, Band 143, Basel (Birkhäuser) 2009. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.08.2013, von Elisabeth Blum und Peter Neitzke