09.08.2013

Bamako, Mali

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Bamako, Mali

Die Stadt der uneingelösten Versprechen, in der alles gleichzeitig passiert von Charlotte Wiedemann

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Ehre und Glück für Mali! Welch ein Versprechen. Es war Wahltag in Bamako, Präsidentschaftswahl, und die Bamakois standen Schlange, es soll nicht an ihnen liegen, wenn sich Ehre und Glück erneut anderswo niederlassen. Aber ob die Demokratie diesmal eine bessere sein würde als in der letzten Spielzeit?

Bamako ist geübt darin, mit falschen Etiketten zu leben, welche die Interessen oder die Fantasien von Ausländern bedienen: zuletzt als Hauptstadt eines Staates, dessen Scheitern durch französische Militärs um Haaresbreite abgewendet wurde. Offenkundig reizt die Stadt am Niger, sie nach dem eigenen Bilde zu formen. Manche sagen, Bamako sei unter den Hauptstädten Afrikas die afrikanischste. Aber was will das heißen? Ist in Afrika vielleicht die Modernität von Hochhäusern nicht authentisch, wohl aber das Niedrige, das Rote, das Lehmige?

In den staubigen Himmel über Bamako ragt in der Tat nur ein einziges veritables Hochhaus, der massive zwanzigstöckige Turm der westafrikanischen Zentralbank – als läge hier mythischer Reichtum auf einem Hochregal. Für unsere Augen wirkt Bamako ländlich, weil nur die wenigsten Straßen asphaltiert sind. Die Zellstruktur der Stadt, das ist ein Netzwerk von sechzig Quartiers entlang holpriger Gassen aus festgestampfter Erde, wie ein Agglomerat von Dörfern zu beiden Seiten des Nigers; kaum zu glauben, dass Bamako zwei Millionen Einwohner hat.

Aus dem Blickwinkel tatsächlicher Ländlichkeit, aus Sicht eines stromlosen malischen Dorfes ist Bamako indes so fern, so verheißungsvoll und so sündig, wie eine Metropole nur sein kann. Wenn in einem abgelegenen Winkel des Sahel der glänzend weiße Geländewagen von Entwicklungshelfern auftaucht, schreien die Kinder „Ein Auto aus Bamako!!“, und die Ziegen springen panisch davon. Bamako steht für das Geld der Weißen, für den Zentralstaat, für die gierige Elite und die Korruption.

Wer sich zu lange in dieser Stadt aufhält, findet nicht mehr hinaus. Bamako ist sich selbst genug und kommuniziert nur mit sich selbst. Hier werden stapelweise Zeitungen produziert, die der Rest des Landes nie sieht. Der Präsident residiert auf demselben Hügel, wo schon die koloniale Herrschaft saß: als solle die Distanz zur bäuerlichen Basis noch durch zusätzliche 400 Höhenmeter unterstrichen werden. Selbst während der dramatischen Krise der jüngsten Vergangenheit, während Okkupation und Krieg hielt der Präsident im Fernsehen seine „Reden an die Nation“ auf Französisch, wohl wissend, dass ihn 90 Prozent dieser Nation nicht verstehen. Er sprach nicht zu den Maliern, sondern zum Ausland.

Manche Malier sagen: Bamako zeigt, was wir verlieren. Das sagen vor allem die Älteren. In der Stadt vermischen sich Kulturen und Eigenarten der Ethnien, bei kaum jemandem ist die Herkunft an der Kleidung zu erkennen. Was der Fremde in Bamako für authentisch malisch hält, ist für viele Malier nur ein städtisches Gebräu ohne Geschmack.

Als ich zum ersten Mal nach Bozola kam, wurde gerade der Beginn der Schulferien gefeiert. Bozola ist eines der ältesten Viertel der Stadt, früher ein Fischerdorf, jetzt berüchtigt als Quartier der Drogen und der Kriminalität. In dieser Nacht war es das Quartier der Tänzer. Die Straße aus Erde und festgetretenem Müll war mit einer Phalanx verkratzter blauer Eisenstühle abgesperrt; es waren Leihstühle, ein malisches Utensil für jedes gesellschaftliche Ereignis. Um 22 Uhr wummerte ein Lautsprecher los; das Publikum war zwischen sechs und sechzehn, Erwachsene schien es nicht zu geben. Die Mädchen waren dressed to kill, Miniröcke, reichlich Busen. Die besten Tänzer des Quartiers durften vortanzen; die Tribüne bestand aus aufgestapelten Händlerkarren. Der kleinste Vortänzer hatte noch Babyspeck an den Beinen.

Bei Tage war Bozola ein Gewirr von kleinen Läden und Werkstätten, die Straßen heillos verstopft mit Kleinbussen, Karren, Eselfuhrwerken. Der Mann, den ich suchte, wohnte eine wacklige Außentreppe hoch in einem Hinterhof; auf dem Dach neben den Stiegen drängten sich Schafe und Hühner. Der dämmrige Salon von Boubacar Boré war mit viel goldenem Stoff dekoriert, eine biedere Gemütlichkeit, die zu den Schafen auf dem Dach so wenig passte wie zum grimmigen Zorn des Bewohners. Boré, 47, ein Bär von Mann, hatte gerade „Yèrèwolo Ton“ gegründet, „Die Würdigen des Landes“, eine der neuen Gruppen, die auf spontane Aktionen setzen. In der Aufbruchsstimmung nach dem Militärputsch vom März 2012 wählten sie betont authentisch malische Namen, meist in der Sprache der Bambara.

Yèrèwolo Ton belagerte das Parlament, um die Abgeordneten an ihre Mitverantwortung für Malis Misswirtschaft zu erinnern. Boubacar Boré war schon 1991 bei den Kämpfen gegen die damalige Militärdiktatur dabei, damals war er Gymnasiast, Aktivist im Schülerkomitee. Auf einer Gedenktafel in Bamako für die Märtyrer dieses ersten demokratischen Frühlings stehen die Namen vieler seiner Freunde. „Ich habe heute das Gefühl, dass sie umsonst gestorben sind“, sagte Boré düster.

Es liegt an solchen Begegnungen, dass für mich Bamako vor allem die Stadt der uneingelösten Versprechen ist. Bleiern hängt hier die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der Luft, sie hängt und hängt, seit Jahrzehnten. Am Eingang zur Nationalversammlung, wo die Aktivisten ihre Belagerung abhielten, zeigen große Gemälde, wovon die Malier träumen: ein Panorama, in dem sich Tradition und technischer Fortschritt paradiesisch umschlingen, in der Mitte strahlende Griots1 neben einem modernen Schnellzug; oben wandert eine Kette Kamele entlang, von einem Tuareg geführt.

Die Bilder stammen noch aus der Ära der Einheitspartei, sie sind verblichen von der harten Sonne vieler Jahre, in denen das abgebildete Paradies nicht eingetroffen ist und schon gar nicht der Schnellzug. Neuerdings sind die Gendarmen vor dem Parlament der Ansicht, die Utopien von gestern dürften nicht mehr fotografieren werden. Weil es jetzt so viele Spione gäbe, sagen sie. Und dann die Denkmäler! Auch sie ein Versprechen, eine Hommage in Stein und Beton, an Malis echtes Afrikanertum. Der Büffel auf der Place de Sogolon, Richtung Flughafen: ein Symbol für die Mutter von Sundiata Keïta, Malis berühmtestem Herrscher. Oder das gewaltige Jägermonument, für Eingeweihte ein Symbol des Animismus. Alpha Oumar Konaré, der erste Präsident der demokratischen Epoche, nutzte seine zwei Amtszeiten zwischen 1992 und 2002 für eine regelrechte Baukampagne. Von Haus aus Historiker, wollte Konaré derart das National- und Geschichtsbewusstsein stärken, doch die Sache kam nicht bei allen gut an. Die Denkmalserie galt als teures Hobby des Präsidenten und als westlich inspiriert. Konaré verließ den Präsidentensessel nach zehn Jahren als schwerreicher Mann; ein Umstand, der das kollektive Bewusstsein tiefer prägte als alle Denkmäler zusammen.

Bleierne Hoffnung seit Jahrzehnten

Und doch ist da ein Monument, das einen Besuch verdient, gerade in diesen Tagen, wo Mali um seine Identität ringt gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Es steht in der Nähe von Bamakos Zentralmarkt, umgeben von ärmlichem Kleinhandel und blauen Abgasschwaden und erinnert an ein Massaker von 1944. Es zeigt Kanonen, die sich von drei Seiten auf eine Säule mit den Halbreliefs sterbender Soldaten richten; die Säule erinnert an einen Marterpfahl.

Ort des Geschehens war Thiaroye, im Senegal, bei Dakar. Ein Lager für 1 300 westafrikanische Soldaten, Kriegsheimkehrer; sie hatten für Frankreich in Europa gekämpft und warteten auf ihren Sold. Hingehalten und getäuscht von den Kolonialoffizieren, rebellierten sie schließlich, erzwangen Verhandlungen und feierten schon den Sieg. Da umstellten nachts französische Panzer das Lager und schossen auf die Soldaten. Die verantwortlichen Offiziere wurden nie zur Rechenschaft gezogen.

Erst bei meinem zweiten Besuch bemerkte ich, dass ganz in der Nähe in einem Palmenhain ein Kolonialdenkmal von 1924 steht, gewidmet „den Helden der schwarzen Armee“, die für Frankreich im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Hier stehen die Helden nicht vor, sondern hinter den Kanonen, eine Soldatengruppe aus geschwärzter Bronze in Angriffshaltung. Auf dem Sockel die Namen der Schlachtfelder: Marne, Reims, Verdun. Auf der Rückseite die Widmung: „In Anerkennung den Adoptivkindern Frankreichs, gestorben im Kampf für Freiheit und Zivilisation.“

Adoptivkind oder Opfer – vielleicht wäre es heute an der Zeit, malischen Schulklassen diese Denkmäler zu zeigen. Doch nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen wagt sich an Parallelen: In Frankreichs neuen Kriegen seien Afrikaner wiederum die Hilfsschützen.

Alou, ein junger Journalist, nimmt mich mit zu seinem Grin.2 Das ist eine Clique von Freunden, meist männlich, die sich regelmäßig unter dem Vorwand trifft, bittersüßen grünen Tee aus kleinen Gläsern zu schlürfen. Der Grin ist eine Institution, und seine Geschichte ist die Geschichte der urbanen Jugend. In den 1960ern gab’s im Grin die neue Musik aus Europa und den USA und die Flucht vor den Eltern; später wurde er zum Refugium oppositioneller Redefreiheit. Seit die neoliberale Phase die Armut verstärkt, ist der Grin der Ort, wo sich Frust und Wut entladen und wo ein Teetrinker dem anderen leiht, was er selbst nicht hat.

Die Runde von Alou ist politisch; sein Grin heißt Kurukan Fuga, das war jener Ort im Malireich, wo im 13. Jahrhundert die erste Menschenrechtscharta der Mandé-Völker entstand; ein Urdokument politischen Denkens in Afrika. Wir sitzen auf einer roten Lateritpiste, ein paar Lehrer, ein Philosoph, ein Bäcker, ein Soldat, und diskutieren die Lage, während um uns herum das Quartier seine frühabendliche Routine aufführt. Rechts braten Frauen Fisch, links baut sich ein ambulanter Schneider auf, die ratternde Maschine auf dem Rücksitz seines Fahrrads. Eine Händlerin stellt sich mit ihrem plärrenden Radio eine Weile mitten in unsere Gruppe, damit die Männer ihr Rasierschaumangebot begutachten.

Wenn man in Bamako nach dem Authentischen sucht, dann ist es am ehesten ein solcher Moment. Das gleichmütige Nebeneinander von Handlungssträngen, ohne dass jemand eine Priorität erzwingt. Wie eine Bühne, auf der mehrere Stücke zugleich gespielt werden; Abderrahmane Sissako hat diese Parallelität in seinem Film „Bamako“ meisterlich in Szene gesetzt: Mitten im Familientrubel eines Lehmgehöfts wird der Weltbank der Prozess gemacht.

Womöglich wohnte auch der gerade abgehaltenen Wahl ein geheimes Zwillingsgeschehen inne: Die Malier fütterten die Urnen mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, ungeachtet des Umstands, dass französischer Druck die Wahl diktierte. Glück und Ehre!, umgackert von Demütigungen.

Das Kind der Rasierschaumverkäuferin hatte bei meinem Anblick aufgeheult und verbarg sein Gesicht im Rock der Mutter.

Im Zig-Zag ist die Leere klimagekühlt. Gelb-rotes Design, großer Flachbildschirm. Ein libanesisches Restaurant, kein Luxus, doch unerschwinglich für jeden normalen Malier. Hassan, der Koch, sitzt unter der Klimaanlage, hört auf seinem Smartphone Fairouz und singt leise auf Arabisch in seine Langeweile hinein. Der studentische Kellner schläft auf seinem Kassenstuhl. Der Küchenjunge versucht sich in einer Ecke, wo er den Flachbildschirm im Blick hat, unsichtbar zu machen. Draußen ein dünner Wächter im Pilotenhemd und noch ein barfüßiger Junge, der die Tür aufreißt, falls jemand kommt.

Manchmal steht abends draußen im Dunkeln ein Dutzend junge Männer, sie stehen aufgereiht in grimmigem Ernst, die Arme vor der Brust verschränkt, und schauen durch die Scheibe einem Fußballspiel zu; der Bildschirm hängt hoch genug. Für die Männer draußen ist es ein Spiel ohne Ton.

Fußnoten: 1 Inkarnation der mündlichen Überlieferungskultur: Ein Preissänger mit epischen Texten; auch Unterhändler wichtiger Personen. 2 Der Ursprung des französischen Worts ist unklar. Angeblich soll er sich auf ein Untergrundblatt während der Vichy-Zeit beziehen. Heute ist Grin quasi ein Bambara-Wort geworden. Charlotte Wiedemann ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt erschienen: „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt“, Köln (PapyRossa Verlag) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.08.2013, von Charlotte Wiedemann